Materialien 1969

Absurd und beleidigend

JUSTIZ
Wie Münchens Jugendrichter mit APO-Anwälten umspringt

Münchens Jugendrichter Dr. Gerhard Henner geriet außer sich. Am 13. Oktober 1969, dem zweiten Verhandlungstag gegen den Demonstranten und Kraftfahrzeug-Lehrling Reinhard Falk, 17, spürte er, wie sich die „Schlinge um den Hals der bürgerlichen Justiz“ zusammenzog. Verzweifelt rang er nach Luft: „Die Beweisanträge sind abgelehnt!“ Danach setzte er sich erleichtert und bereicherte die „Auseinandersetzung der Dritten Gewalt mit der Neuen Linken“ um ein Kapitel, das in der bundesrepublikanischen Rechtspraxis einmalig sein dürfte.

In seiner Begründung erläuterte er: „Die Beweisanträge wurden vom Gericht abgelehnt, weil sie allein zum Zweck der Prozessverschleppung gestellt worden sind.“ Und weiter: „Dieses geht aus der gerichtskundigen Tatsache hervor, dass Rechtsanwalt Langmann sich mit den Intentionen und Zielen der sogenannten APO identifiziert und im engen ständigen Kontakt mit diesen Kreisen steht.“

Dr. Gerhard Henner wusste noch mehr: „Er handelt nach den gerichtskundigen, inhaltlich nahezu wörtlich übereinstimmenden Anweisungen, die von der APO über das Verhalten vor Polizei und Justiz, insbesondere in der Hauptverhandlung, ausgegeben worden sind“, wetterte er in Richtung des interessiert und erstaunt zugleich lauschenden Verteidigers, Rechtsanwalt Eggert Langmann. „Nur in Befolgung dieser Anweisungen hat er es unterlassen, die Beweisanträge – von denen nicht ein einziger etwa erst durch eine in der Hauptverhandlung sich ergebende oder in ihr deutlicher gewordene Situation bedingt ist – rechtzeitig vor der Verhandlung zu stellen. Die Beweisanträge“, schloss Dr. Henner seinen kühnen Redeschwall, „sind ein Teil der Bemühungen, die demokratischen Prinzipien durch Missbrauch formeller rechtsstaatlicher Möglichkeiten zu erschüttern.“

Es war heraus. Jugendrichter Henner hatte praktiziert, was er dem Rechtsanwalt vorwarf. Und so konterte Rechtsanwalt Langmann: „Allerdings sympathisiere ich mit jenen, die Richter, wie den hier amtierenden, mit den Gewichten eitler inhaltlich bestimmten Rechtsstaatlichkeit wiegen und für zu leicht befinden! … Die einzige Seite, die versucht, die demokratischen Prinzipien durch Missbrauch formeller rechts staatlicher Möglichkeiten zu erschüttern, ist das erkennende Gericht.“

Tatsächlich hatte sich ein Teil der Beweisanträge erst aus der Verhandlung ergeben. Einer stützte sich auf eine Bundesgerichtshofentscheidung, die erst einen Tag zuvor bekannt geworden war. „Die Vorwürfe“, so Rechtsanwalt Langmann, „ich handle nach von außen gegebenen Anweisungen, sind schlechthin absurd und beleidigend.“ Unverzüglich stellte Eggert Langmann durch seinen Kollegen Dr. Norbert Kückelmann gegen Jugendrichter Henner Strafanzeige wegen Beleidigung und übler Nachrede.

Langmann: „Ich habe weder sachlichen Grund noch ein Interesse an einer Prozessverschleppung. Im Gegenteil, mein Mandant sitzt in dieser Sache wegen Fluchtgefahr seit 9. Juli in U-Haft. Und das in einem Fall, wo er selbst bei einem Schuldnachweis allenfalls vier Wochen Jugendarrest zu erwarten hat.“

Guy von Auer


konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 23 vom 30. Oktober 1969, 49.

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Prozesse

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