Materialien 1969
Bloße Flanken
Recht/Demonstranten-Prozesse
Als hörten sie nicht recht, lauschten die Väter dem Ho-ho-ho-Geschrei ihrer bärtigen Buben. Wie geblendet blickten die Bürger auf rote Fahnen und buntgescheckte Kolonnen. Verstört nahm das Volk wahr, dass Autos und Autoritäten kippten.
Das Establishment – das nicht mal mehr stolz darauf sein durfte, so zu heißen – verlieh der Sache den Ernst. Wie wenn die Revolution schon im Haus stünde, droschen seit dem ersten heißen Sommer 1967 Polizisten auf Demonstranten, schmähten Boulevardblätter die „langbehaarten Affen“, kamen Politiker zu „der Meinung, dass gegenüber gewissen Leuten nichts anderes hilft als ein sehr bewusst gehandhabtes Prinzip strafrechtlicher Abschreckung“ (Sozialdemokrat Helmut Schmidt).
Der Tipp kam an, und so endete, was als Kampf gegen „soziale Zwänge“ und „die komfortable, reibungslose, vernünftige, demokratische Unfreiheit“ (Herbert Marcuse) deklariert war, im Rechtsstreit vor Gericht.
In Hunderten von Verfahren mühte sich die westdeutsche Justiz, Protest gegen Vietnam und Axel Springer, gegen die Bildungsmisere und den Schah von Persien auf Strafmaß zu bringen. Hunderte weiterer Prozesse sind im Gange oder stehen bevor. Insgesamt wurden im Bundesgebiet und im Berliner Westen etwa 10.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Doch das Prinzip der strafrechtlichen Abschreckung erwies sich bislang als nicht so hantierbar, wie Helmut Schmidt erhofft hatte. Denn „wo die Grenzen des Demonstrationsrechts im Einzelfall liegen“, erkannte der Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident Professor Dr. Curt Staff im Verfahren gegen den Rebellen Daniel Cohn-Bendit, „ist schwierig festzulegen und schon in den Voraussetzungen äußerst umstritten“.
Und entlang der umstrittenen Grenze schlitterte die deutsche Justiz in eine Krise. Einerseits gehalten, den Freiheitsspielraum der demokratischen Gesellschaft zu wahren, andererseits fixiert auf demokratieferne Gesetze und Strafvorschriften, verfehlten die Richter ·den Weg zu einheitlicher Rechtsprechung.
Das Amtsgericht Esslingen zum Beispiel verwarf in einem Fall jede Gewaltanwendung bei der Durchsetzung freier Meinungsäußerung, weil Demonstrationen „letztlich der Erhaltung des Staates“ dienten. Dasselbe Gericht in anderer Besetzung aber entschied, „dass unsere Gesellschaft den Widerstand von insbesondere jungen Leuten und Studenten … begrüßt“.
So scheint es, als sei am Ende ein jeder Justizopfer: die Richterschaft, die Gefahr läuft, sich selber zu verurteilen; die Staatsbürger, denen niemand sagt, wo das Ende der Freiheit beginnt; vor allem aber die Angeklagten und Verurteilten, die beim Handel um Recht und Grundrecht allemal zu kurz kommen.
Denn in ihrem Dilemma zwischen Grundrecht und Strafrecht orientierten sich die Gerichte allzu leicht an Ruhe und Ordnung, verloren sie oft genug beim Strafmaß jedes Maß.
„Für diesen Tarif“ — dies hielt der Münchner Rechtsanwalt Konrad Kittl dem Staatsanwalt vor, der gegen den Studenten Reinhard Wetter 14 Monate Gefängnis beantragt hatte — „könnte man im volltrunkenen Zustand einen Menschen totfahren und dann Fahrerflucht begehen.“ Das Jugendschöffengericht verurteilte Wetter, der bei einer Demonstration vor dem griechischen Generalkonsulat einen „harten Gegenstand“ geworfen hatte, unter anderem wegen Landfriedensbruchs und Aufruhrs zu einem Jahr Gefängnis.
Sieben Monate Gefängnis ohne Bewährung gab es nach knapp 15 Minuten Verhandlung im beschleunigten Verfahren für Gerhard Rothmann in München; ein Jahr für Gerhard Paar in Frankfurt; acht Monate für Dieter Kunzelmann, neun für Gaston Salvatore-Pascal und sieben für Peter Schwiedrzik in Berlin; 15 Monate für Rolf Pohle, acht für Thomas Schmitz-Bender und neun für Heinz Koderer in München. Die Demonstranten wurden ebenfalls unter anderem wegen Landfriedensbruchs und Aufruhrs oder wegen eines der beiden Delikte verurteilt.
„Weil er mit zwei Dutzend Gesinnungsgenossen singend zum Münchner Polizeipräsidium gezogen war, um sich der Beleidigung des Schahs zu bezichtigen“, wurde ein Student mit sechs Wochen Gefängnis bedacht.
Abfällig begründete der Hamburger Amtsrichter Axel Vogt seinen Spruch über den Jurastudenten Michael Deter – drei Monate Gefängnis ohne Bewährung – mit dem Zusatz: „Der Angeklagte ist Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Das hat offenbar dazu geführt, dass sein juristisches Wissen nicht entsprechend der Zahl der Semester gewachsen ist.“
Süffisant bemerkte der Kölner Amtsrichter Dr. Kurt Panzer: „Alle vier Demonstranten, die ich in einer Woche hatte, sind in der Ostzone geboren. Von Kollegen habe ich die gleiche Beobachtung gehört. Ich stelle das ausdrücklich ohne jeden Kommentar fest.“
Und die Berliner Amtsrichterin Luise Maria Veith schließlich, die gegen den neunzehnjährigen Peter Brandt zwei Wochen Dauerarrest verhängte, leitete ihre Urteilsgründe mit der anzüglichen Feststellung ein: „Der Angeklagte ist ehelich geboren.“ Wie selbstverständlich oft Richter das Recht auf seiten der Obrigkeit sahen, offenbarten die unterschiedlichen Strafaussprüche bei vergleichbaren Übergriffen von Demonstranten und Polizisten.
So wurde in Frankfurt ein Medizinstudent wegen Aufruhrs und Landfriedensbruchs zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, der während einer Anti-Springer-Demonstration ohne Grund einen Polizisten geschlagen hatte, in Berlin kamen dagegen drei Polizisten, die einen Demonstranten grundlos verprügelt und gefährliche Körperverletzung im Amt begangen hatten, mit sechs Wochen Gefängnis davon — unter Strafaussetzung zur Bewährung.
Sechs Monate aber musste der Apo-Mann Günther Schmiedel im Hamburger Untersuchungsgefängnis warten, bevor gegen den „Rädelsführer“ unter anderem wegen der Vorwürfe verhandelt wurde, er habe einem Polizisten „einen schmerzhaften Tritt gegen dessen Schienbein versetzt“ und einen anderen „Schwein“ genannt. Schmiedel wurde zu 21 Monaten Gefängnis und damit zur höchsten Strafe verurteilt, die bislang in einem Demonstrantenprozess ausgesprochen worden ist.
Radikale Minderheit sind vorerst noch Richter wie der Frankfurter Professor Staff, der urteilte, „für das Grundgesetz als Garant einer freiheitlichen Demokratie“ sei „kollektives Handeln ein selbstverständlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit“.
So wird in deutschen Gerichtssälen nicht nur über das Gebaren jugendlicher Demonstranten entschieden. Zur Verhandlung steht auch, ob Demonstrationen denn überhaupt zum Gebaren eines deutschen Demokraten gehören.
„Das Recht zur Demonstration“ kann zum Beispiel für den nordrheinwestfälischen Justizminister Dr.Dr. Josef Neuberger „in seiner Bedeutung für eine freiheitliche Demokratie kaum überschätzt werden“.
Der Hamburger Amtsgerichtsdirektor Erwin Isbarn aber hält dafür, „in Schlips und Kragen dem Herrn Bürgermeister“ sein „Anliegen einmal höflich vorzutragen“.
In einer Münchner Demonstration sah der Amtsgerichtsrat Dr. Karl Woerle „eine empfindliche Verletzung des Gastrechts“, die geeignet sei, „das Ansehen der Stadt München als eines Zentrums des Fremdenverkehrs … zu schädigen“.
„Wohl dem Staat“, so erkennt jedoch der Frankfurter Staatsrechtler Professor Dr. Erhard Denninger, „in dem Demonstrationen als Protest möglich sind.“
Dass sie möglich sein müssen, bekunden seit Jahrhunderten alle freiheitlichen Grundgesetze — die Bill of Rights von Pennsylvania aus dem Jahre 1776 ebenso wie das erste Amendment zur Verfassung der USA von 1791 oder die Verfassung der Französischen Republik von 1793.
Inzwischen zählt das Recht der Bürger, sich zu versammeln und politische Meinung frei zu äußern, zu den Menschenrechten — gleichsam „Lebenselement der Demokratie“ (Denninger). Die Menschenrechtskonvention sichert es jedermann zu, das Bonner Grundgesetz garantiert es allen Deutschen.
„Der Grundgesetzgeber“, urteilte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, „hat sich für einen freien und offenen Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes entschieden.“ Nicht nur „in der Stimmabgabe bei Wahlen“, so erklärte die höchste deutsche Rechtsinstanz 1966, äußere „sich das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung“, sondern auch „in der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung“. Diese Willensbildung aber habe sich „vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin“ zu vollziehen.
Der Polizeirechtler Dr. Kurt Gintzel lehrt seine Schüler an der Polizeischule Münster, das Demonstrationsrecht sei „ein Mittel zur Realisierung der Volkssouveränität“„ stehe „in der Wertskala der Rechte des einzelnen mit oben an“ und sei „im Rang höher als einzelne Ordnungsinteressen“. Mithin bestehe „für alle Demonstrationen die Vermutung der Zulässigkeit“. Wie es scheint, lässt die westdeutsche Verfassung keinen Zweifel an solcher Ausdeutung. Der Artikel 5 des Grundgesetzes verbürgt die Meinungsfreiheit, und nach Artikel 8 haben „alle Deutschen … das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“.
Jedoch: Dieses Recht darf, ebenfalls nach Artikel 8, „für Versammlungen unter freiem Himmel“ durch ein Gesetz „beschränkt werden“. Das Versammlungsgesetz von 1953 aber beschränkt das Verfassungs-Versprechen so erheblich, dass die Grundrechtsgarantien gefährdet scheinen.
So ist für den Rechtsprofessor Denninger schon „die Wortwahl des Gesetzgebers allenfalls durch das aufschlussreich“ was sie mit Schweigen übergeht: nämlich den auf das Politische bezogenen Zweck und die staatsbürgerliche Funktion solcher Aufzüge und Versammlungen“.
Die Vokabel „Demonstration“ wurde ausgespart. Und wer etwa erfahren möchte, was wohl eine Versammlung sei, ist auf einen preußischen Runderlass vom 10. Oktober 1923 angewiesen: „Eine Versammlung ist die Zusammenfassung einer größeren Zahl von Personen, die mit dem Ziel geschieht, diese Personen über irgendwelche bestimmten Angelegenheiten durch Redner unterrichten zu lassen oder mit ihnen solche zu beraten oder zu erörtern.“
Nach solcher Lesart sahen denn auch Amts- und Landgericht Karlsruhe in einer Sitzdemonstration mit Schildern vor dem Karlsruher Hauptbahnhof keine „Versammlung“. Das Bundesverwaltungsgericht in Berlin aber respektierte eine Demonstration mit Transparenten vor dem amerikanischen Generalkonsulat in Bremen als „Versammlung“. Und Justizminister Neuberger mochte gar nicht entscheiden: „Handelt es sich noch um eine Versammlung gemäß Artikel 8 des Grundgesetzes, wenn die Menschenansammlung Gebäude, Bahnhofsvorplätze, Verkehrsengpässe blockiert, um mit dem Körper der Teilnehmenden ein physisches Hindernis zu bereiten und durch dieses Mittel auf sich aufmerksam zu machen und Zielvorstellungen zu verwirklichen?“
Präzis formulierte der Gesetzgeber hingegen die Kontroll-Kautelen. Versammlungen und Aufzüge müssen mindestens 48 Stunden „vor der Bekanntgabe“ angemeldet werden. Die Polizei kann bestimmen, zu welcher Zeit und auf welchem Wege demonstriert werden darf. Schließlich dürfen die Behörden einen Umzug verbieten, „wenn nach den Umständen die öffentliche Ordnung oder die Sicherheit unmittelbar gefährdet ist“.
Im August untersagte zum Beispiel die Berliner Polizei eine Kundgebung gegen das Ausfliegen von Bundeswehrdeserteuren, weil zu erwarten sei, dass die angemeldete Veranstaltung einen unfriedlichen Verlauf nehme und es zu Gewalttätigkeiten komme. Das Verwaltungsgericht Berlin freilich, das von den Demonstranten angerufen worden war, vermisste „Tatsachen“ für eine solche „Befürchtung“ und hob das Verbot auf.
Wer allerdings bittend und betend, freiend oder feiernd den Verkehr auf Straßen oder Plätzen blockiert, ist frei von rechtlichen Zwängen. Denn „kirchliche Prozessionen, Bittgänge und Wallfahrten, gewöhnliche Leichenbegängnisse“ Züge von Hochzeitsgesellschaften und hergebrachte Volksfeste“ sind polizeifest.
„Dabei ist doch selbstverständlich“, kommentiert Staatsrechtler Denninger, „dass es für die Störung des Straßenverkehrs, sofern dieser polizeiliches Schutzgut sein soll, nicht den geringsten Unterschied ausmacht, ob ein Menschenzug durch eine verkehrsreiche City eine Monstranz mit sich führt oder aber rote Fahnen.“
Das Versammlungsgesetz, folgert Denninger, „richtet also seine Spitze bewusst gegen die Freiheit zu politischer Versammlung“.
Spontane Versammlungen, bei denen Bürger aus aktuellem Anlass auf die Straße getrieben werden, fügen sich nicht in das Schema von Bittgang und Familienfest. Die Demonstrationen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, bei denen auch solche Studenten mitliefen, die sich bis dahin nicht mit dem SDS gemein gemacht hatten; der Protest gegen den Bau der Mauer 1961 – das alles konnten oder wollten sich die Bonner Gesetzesmacher 1953 nicht vorstellen, zumindest nicht ohne Voranmeldung.
Und es gibt, wie Polizeirechtler Gintzel erfahren hat, „auch heute noch Leute, die nur zu gern geneigt sind, das Demonstrationsrecht durch die Brille des vorigen Jahrhunderts zu betrachten“. Verbietet aber zum Beispiel der Rektor einer Universität wenige Stunden vor Beginn einer seit Wochen geplanten Veranstaltung die Benutzung eines Hörsaals, so müssen die betroffenen Studenten sofort protestieren, um doch noch rechtzeitig in den Saal zu kommen. Wird englischen Ostermarschierern am Ostersonntag nach der Landung auf einem bundesdeutschen Flughafen verboten, das Flugzeug zu verlassen, so ist nur eine Spontandemonstration deutscher Ostermarschierer sinnvoll, wenn der gemeinsame Marsch nicht auf Pfingsten verschoben werden soll.
Dieser Widerspruch vor allem, der sich auftut zwischen dem Wesen der auf freie politische Entfaltung bedachten Verfassung und dem an Ruhe und Ordnung orientierten Versammlungsgesetz, brachte Tausende junger Rebellen in Konflikt mit der Strafjustiz. Auch diejenigen, die nicht mit Steinen warfen und damit Körperverletzung begingen, die keine Autos demolierten und sich daher einer Sachbeschädigung schuldig machten, kollidierten häufig mit den Tatbeständen
- Aufruhr: „Teilnahme an einer öffentlichen Zusammenrottung“, bei der „mit vereinten Kräften“ Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet oder Beamten- und Soldatennötigung begangen wird (Paragraph 115 StGB; Strafandrohung: Gefängnis nicht unter sechs Monaten, für „Rädelsführer“ Zuchthaus bis zu zehn Jahren);
- Auflauf: Verbleiben bei einer „auf öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen versammelten Menschenmenge“ nach der „dritten Aufforderung“ des „zuständigen Beamten oder Befehlshabers der bewaffneten Macht“ (Paragraph 116 StGB; Strafandrohung: Gefängnis bis zu drei Monaten);
- Landfriedensbruch: Teilnahme an einer „Zusammenrottung“, bei der „mit vereinten Kräften gegen Personen oder Sachen Gewalttätigkeiten“ begangen werden (Paragraph 125 StGB; Strafandrohung: Gefängnis nicht unter drei Monaten, für „Rädelsführer“ Zuchthaus bis zu zehn Jahren);
- Landzwang: Störung des „öffentlichen Friedens“ durch „Androhung eines gemeingefährlichen Verbrechens“ (Paragraph 126 StGB; Strafandrohung: Gefängnis bis zu einem Jahr).
Soldatennötigung oder Aufsässigkeit gegen bewaffnete Macht — das sind durchweg Begriffe aus der Vorstellungswelt des Obrigkeitsstaates, der immer dann, wenn mehr als zwei Bürger gemeinsam politische Sache machten, Revolution argwöhnte. So kommt es, dass nun die westdeutsche Justiz gehalten ist, Vorschriften, die einst wilhelminische Staatsräson verteidigten, mit demokratischen Lebensregeln auf Gleichklang zu bringen.
„Es kann keiner Rechtsprechung angesonnen werden, sich in Spekulationen über die vorhandene Verfassung hinaus zu ergehen“, räumt zwar der Gießener Verfassungsrechtler Professor Helmut Ridder ein. Aber, so mahnt er, „sie verfehlt die Verfassung, wenn sie sich die politische Essenz der Verfassung nicht vergegenwärtigt und wenn sie sich keine Rechenschaft über ihren eigenen Beitrag zur Erfüllung der Verfassung in Vergangenheit und Gegenwart gibt“. Der Strafrechts-Professor Klaus Tiedemann kennzeichnet die politische Rechtslage: „Der Strafrichter ist durch die Verfassung selbst zur verfassungskonformen Rechtsprechungstätigkeit verurteilt.“
Viele Richter aber empfanden dieses Verdikt der Verfassung nicht als demokratischen Auftrag, sondern in der Tat als Strafe. Erzogen im Rechtsdenken rechtsgerichteter Staatsallmacht, erwiesen sie sich überwiegend als Positivisten, denen die gesetzte Ordnung hinreichend gerecht erschien.
Wenn Demonstranten „den Verkehr einer Großstadt lahmlegen“, so plädiert der Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins, Oberlandesgerichtsrat Hugo Winckhler, für das Positive, „dann gibt dem Strafrichter nur das Strafgesetzbuch Auskunft über die rechtlichen Folgen solchen Tuns, auch wenn die Paragraphen hundert Jahre alt sind. Die Verfassung macht ihn nicht klüger“.
Aus dieser Grundordnung, für Richter Winckhler „dem delphischen Orakel vergleichbar“, entliehen sich Gerichtsvorsitzende denn auch zumeist nur ein einziges Wort des Artikels 8: „friedlich“.
Die Friedenslinie, mit der die Richter ihren Trennungsstrich zwischen erlaubter Demonstration und verbotener Aktion zogen, markiert die Wechselbeziehung zwischen dem Versammlungsartikel im Grundgesetz und den Strafparagraphen. Wie die Grundrechtskommentatoren Theodor Maunz und Günter Dürig eine Versammlung dann für „unfriedlich“ halten, „wenn sie einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt“, so bestimmt diese gleichermaßen grobschlächtige und eingängige Antinomie – Gewalt gegen Frieden – Unrecht und Recht in der einschlägigen Strafnormenkette.
Mit welchen Tatbeständen die Teilnehmer an Straßenaktionen auch in Kollision geraten – Auflauf, Aufruhr oder Landfriedensbruch, Nötigung oder Landzwang -, alle Vorschriften stellen im Grunde immer nur unter Strafe: Gewaltanwendung oder Friedensstörung.
Freilich vermochten weder Rechtsprechung noch Jurisprudenz bislang präzise zu erklären, was unter dem Begriff „öffentlicher Frieden“, der zum Beispiel in der Bestimmung über Landzwang auftaucht, zu verstehen ist. Hilflos erläutert der Strafrechtskommentar Schwarz-Dreher unter Berufung auf eine Reichsgerichtsentscheidung: „Öffentlicher Frieden ist das Bewusstsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden zu leben.“
Nicht minder vieldeutig erscheint der zweite zentrale Rechtsbegriff. „Was ist Gewalt?“ fragte in der „Zeit“ der ehemalige Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsident Richard Schmid. Und alle fanden eine andere Antwort.
Die teils außer-, teils anti-parlamentarische Opposition unterscheidet zwischen Gewalt gegen Personen und gegen Sachen, zwischen aktiver und passiver Gewalt. Für den Kölner Rechtsprofessor Gerhard Erdsiek hingegen „ist der verschwommene und unbestimmte Begriff der „begrenzten Gewalt“ ein Virus, der unsere freiheitliche Ordnung zu zerstören droht“. Eine Versammlung von Generalstaatsanwälten kam zu der „Auffassung, dass Sit-ins, bei denen – zum Beispiel durch Verkehrsblockierungen – in die Rechte anderer eingegriffen wird, grundsätzlich als „Gewalttätigkeiten“ im Sinne des Paragraphen 125 StGB (Landfriedensbruch) zu werten sind“.
Die meisten Gerichte suchten das Problem durch eine Güterabwägung zu lösen. Sie stellten etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung der Demonstranten dem Interesse anderer Bürger am fließenden Straßenverkehr gegenüber.
Nach diesem Schema sprach der Bremer Amtsrichter Walter Stahlhut den Elektrikerlehrling Uwe Ruß frei. Ruß war unter jenen Demonstranten gewesen, die erfolgreich gegen die Erhöhung der Bremer Straßenbahnfahrpreise protestiert und dabei die Schienen blockiert hatten. Stahlhut erkannte: „Sozial-adäquates Handeln.“
„Die bloße Äußerung einer Meinung, zum Beispiel bei einer Demonstration auf einem freien Platz, ohne dass diejenigen, die es angeht, es überhaupt zur Kenntnis nehmen“, fand der Amtsrichter „sinnlos“. Denn der „grundrechtliche Schutz bezweckt geradezu, dass eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausgeübt werden kann, dass versucht werden darf, meinungsbildend und überzeugend auf die Gesamtheit zu wirken“.
Wenn „dabei ein geschütztes Rechtsgut eines anderen beeinträchtigt wird, so muss abgewogen werden“ begründete Stahlhut seine Entscheidung, „ob dem Grundrecht oder dem beeinträchtigten Rechtsgut der Vorrang einzuräumen ist“. Die „vorübergehende Behinderung des Verkehrs“ müsse jedenfalls „in Kauf genommen werden, um dem geschützten Grundrecht der freien Meinungsäußerung zu der beabsichtigten Wirksamkeit zu verhelfen“.
Das Berliner Bundesverwaltungsgericht sah es in einer Entscheidung gegen Ostermarschierer ganz anders: „Die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs und der Schutz vor Belästigungen sind höherwertige Rechtsgüter, hinter denen die freie Meinungsäußerung, wenn sie auf diese einwirkt und sie verletzt, zurücktreten muss.“
Der Esslinger Amtsrichter Dr. Ulrich Berroth lehnte die Eröffnung eines Hauptverfahrens wegen Nötigung gegen den Gerichtsreferendar Franz-Otto Müller ab, der am Karfreitag letzten Jahres versucht hatte, mit seinem Volkswagen die Auslieferung der Esslinger „Bild“-Ausgabe zu blockieren. Denn im Hinblick auf die „üble Stimmungsmache und Aufhetzung zu Gewalttaten“ in „Bild“ („Man darf auch nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen“) sei es ein „durchaus angemessenes, sozial-adäquates Mittel“, der „Forderung nach Enteignung der Springer-Presse“ durch eine „zeitweise Auslieferungsblockade Nachdruck zu verleihen“. Der Angeklagte, so Berroth habe die gute Absicht gehabt, „die Öffentlichkeit wachzurütteln“, und „in echtem Bewusstsein staatsbürgerlicher Gesinnung gehandelt“.
Das Oberlandesgericht Stuttgart aber entschied, „das Verhindern des Verbreitens einer Zeitung“ gehe „weit über anerkennungswerte Mittel und Ziele einer Demonstration hinaus“. Die Richter fanden es „sittlich ernsthaft zu missbilligen“, dass eine Blockade gegen den Esslinger Bechtle-Verlag die Auslieferung vom südwestdeutschen „Bild“ zu Ostern verzögert hatte.
Während ein Münchner Schöffengericht seinen Schuldspruch über den Gerichtsreferendar Rolf Pohle ebenfalls an „ethischen Grundvorstellungen“ orientierte und den Angeklagten wegen schweren Landfriedensbruchs und Nötigung zu 15 Monaten Gefängnis verurteilte, vertrat die Dritte Große Strafkammer des Landgerichts Köln die Rechtsmoral der Minderheit. Unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Werner Eckert sprach sie den ehemaligen Kölner Asta-Vorsitzenden Klaus Laepple und dessen früheren Kommilitonen Klaus-Dieter Lutzenberger frei, die in Köln gegen Tram-Tariferhöhungen auf die Straße gegangen waren.
Die Öffentlichkeit müsse es sich gefallen lassen, begründete Eckert den Spruch seiner Kammer, „dass eine Minderheit sie zur Kenntnisnahme einer freien Meinung zwingt“.
Wie die Studenten mal Reform, mal Revolution auf ihre Transparente schreiben, so halten es deutsche Richter in den Studentenprozessen mal mit dem Recht, mal mit der Repression – je nach ihrem ideologischen Standort. Abschreckendes Beispiel bot jenes Münchner Schöffengericht, das gleichsam den Notstand proklamierte und sich gehalten sah, „eine Strafe auszusprechen, die – zum Schutze der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland – geeignet ist, einem Überhandnehmen der Massendelikte entgegenzuwirken“.
So droht die Unsicherheit im Recht und bei den Richtern Demonstrantenverfahren zum Rechts-Roulett herabzusetzen — Niederschlag eines unzulänglichen Versammlungsgesetzes, des schüchternen Umgangs vieler Juristen mit der Verfassung und antiquierter Strafbestimmungen.
„Diese geltenden Bestimmungen erfüllen nicht die Aufgabe des Strafrechts, unerträgliche Verstöße gegen die Gemeinschaftsordnung so klar zu umreißen“, kritisiert der sozialdemokratische Strafrechtsreformer und Staatsanwalt Dr. Adolf Müller-Emmert, „dass sich Bürger, Polizei, Staatsanwalt und Richter in eindeutiger Weise daran orientieren können und die für die Demokratie unentbehrliche Demonstrationsfreiheit gewährleistet ist.“ Die Justiz sei „bei der Anwendung gerade dieser Strafvorschriften überfordert“.
Was Wunder, dass ein Teil der Richterschaft bei Demonstranten-Prozessen in Verlegenheit gerät. Und aus einem Gefühl der Schwäche, so scheint es, lassen sich Richter dazu verleiten, selbst dubiosem Recht noch Resonanz zu verschaffen. Wie Polizisten mit Knüppel und Wasser Bannmeile, Bürgermeister und Rathaus verteidigen, um der Ruhe im Staat ein Reservoir zu sichern, so spielen die Richter im Gerichtssaal Gendarm – und verlieren dabei allzu leicht die Autorität, die sie eigentlich herauskehren wollten.
Der Konflikt zwischen der aufbrechenden jungen Generation und den Etablierten, der nur selten noch auf der Straße sichtbar wird, ist nunmehr in die Verhandlungssäle getragen worden: auf den Anklagebänken farbige Gestalten, die diese Gesellschaft umbauen möchten, am Richtertisch schwarze Robenträger, die überkommene Ordnung konservieren wollen. Vor und hinter den Schranken wird zweierlei Deutsch gesprochen.
„Wollen Sie bitte aufstehen, oder soll ich Sie gleich rausschmeißen lassen?“ begann der Frankfurter Richter Rolf Schwalbe eine Verhandlung gegen den Gießener Medizinstudenten Gerhard Paar, weil dessen solidarische Genossen sich im Zuhörerraum nicht erhoben hatten, als Schwalbe den Saal betrat.
Im Nürnberger Prozess gegen Alfred Schrempf und Linda de Vos nahm das Gericht zwar ahnungsvoll vor den Angeklagten im Verhandlungssaal Platz. Doch gleich beim ersten Sachantrag schnauzte der Vorsitzende Hans Ricken: „Stehen Sie auf, sonst stellen Sie bei mir keinen Antrag!“ Linda de Vos lächelnd: „Ich fühle mich nicht wohl.“ Der Richter irritiert: „Dann bleiben Sie bitte sitzen.“
Drei Tage Haft wegen Sitzenbleibens während der Urteilsverkündung hielt das Oberlandesgericht Stuttgart für angemessen. Doch je beharrlicher die Richter Ehrerbietung durch Ordnungsstrafen zu erzwingen suchten, um so gezielter wurde sie von den angeklagten Studenten verweigert.
„Uns ist das Essen in der Haft einfach zu mies, aber fühlen Sie sich bitte nicht respektiert“, baten in Berlin vier Angeklagte das Gericht, als sie sich erhoben. In München beendete ein Angeklagter sein Schlusswort: „So wollen wir, wenn wir uns nachher bei der Urteilsverkündung erheben, dies als ein Gedenken für Che Guevara ansehen.“
Ein Berliner Richter rügte einen Angeklagten: „Nehmen Sie bitte den Ellenbogen vom Tisch. Das stört, weil es nicht gut aussieht.“ Der Münchner Landgerichtsrat Herbert Pausch herrschte den SDS-Studenten Reinhard Wetter an: „Nehmen Sie eine ordentliche Haltung an!“ Worauf Wetter sich auf sein „aus dem Unterbewusstsein verdrängtes Deutschtum besann“, so die „Münchner Abendzeitung“, die Hände an die Hosennaht legte und die Hacken zusammenschlug.
In Tübingen leistete sich wegen der Unruhe im Gerichtssaal ein Schöffe den Ausruf: „Das ist ja wie in einer Judenschule!“ Der als Zuhörer anwesende Jurastudent Hans Werner Köblitz empörte sich und wurde prompt des Saales verwiesen. Köblitz, während er hinauseskortiert wurde: „Das ist ja wie in einem Nazi-Staat.“
Wie Richter sich Ungebühr vor Gericht leisteten, so gaben sich häufig angeklagte Demonstranten selbst dann noch rüde, wenn sie auf Richter trafen, die mehr als gebührendes Verständnis zeigten.
Durch Flugblätter, Luftballons und Knallkörper, Essen, Trinken und Rauchen im Gerichtssaal suchten Angeklagte und Genossen um jeden Preis die Justiz zu provozieren, sich als Handlanger der verhassten Obrigkeit zu entlarven.
In Esslingen tanzte eine weiße Maus auf dem Zeugentisch, der mit Eigelb bekleckert worden war. Vor dem Hamburger Amtsgerichtsdirektor Wolfgang Schneider entblößten acht SDSlerinnen vom Arbeitskreis Emanzipation – ungestraft – 16 Brüste. In Berlin entblößte sich Kommunarde Karl-Heinz Pawla während der Verhandlung vor Richter Karl-Heinz Loch, verrichtete seine Notdurft und reinigte sich mit Papier aus der Gerichtsakte.
Treffsicherer als mit solcher Hinterlist zielten die Angeklagten auf die Justiz, wenn sie sich des „Stilmittels der Ironie“ (Fritz Teufel) bedienten. So schilderte der Berliner Student Peter Schwiedrzik statt Einzelheiten über den ihm vorgeworfenen Landfriedensbruch das künftige Dasein seiner Verfolger und Richter: „Wir freuen uns darauf, wenn wir Sie alle, Richter und Staatsanwälte, endlich in einem ordentlichen Produktionsprozess begriffen sehen und Sie sauber und ordentlich gekleidet in Ihrem Garten Gurken ziehen.“
So bezifferte in Frankfurt Daniel Cohn-Bendit auf eine entsprechende Frage des Staatsanwalts bereitwillig sein Vermögen mit etwas über 100.000 Mark. „Aber dieses Geld, Herr Staatsanwalt, fließt selbstverständlich der sozialistischen Bewegung zu, und ich hoffe sehr, dass Sie auf diese Weise auch noch etwas davon zu spüren bekommen.“
Und Ex-Kommunarde Fritz Teufel höhnte in einem „Geständnis“: „Ich bin ein triebhafter Charakter, ich bin von der Kommune weggegangen, ach, die vielen minderjährigen Mädchen dort, Töchter von Staatsanwälten und Justizangestellten, und dann immer den ganzen Tag Triebverkehr. Aber Sie wissen ja, Herr Vorsitzender, wir sind ja alle nicht ohne Fehl.“
Zu oft stimmte das Kalkül der Studenten, immer wieder traten die Würdenträger der dritten Gewalt als Staatsdiener auf. Aus zu kleinen Sälen, in denen zu viele Polizisten saßen, wurde die kritische Öffentlichkeit bei geringfügigem Anlass wie Lachen oder Klatschen ausgeschlossen.
Als der Berliner Kommune-Chef Dieter Kunzelmann wegen einer Sehnenzerrung mit Krückstock zur Verhandlung im Berliner Landgericht erschien und sich weigerte, die Stütze abzugeben, stürzten sich drei Justizwachtmeister und zwei Polizisten auf ihn. Sie entrissen Kunzelmann den Stock, nahmen ihn in den Schwitzkasten und drehten ihm die Arme auf den Rücken. Landgerichtsdirektor Günter Pahl entfesselt: „Fesseln Sie ihn!“
Während der Kommunarde, an den Handgelenken blutend, hinausgeschleift wurde, kündigte er dem Gericht an: „Diese Form von Terror kann man nur mit Gegengewalt beantworten.“
Die Kampfansage schlug sich denn auch in den Flugblatt-Slogans der studentischen Kampagne gegen die Justiz nieder:
- „Brennt, Gerichte, brennt!“;
- „Nieder mit der Klassenjustiz!“;
- „Richter, laßt die Hosen runter, es sind noch braune Hosen drunter“;
- „BRD und Drittes Reich — Deutsches Recht bleibt immer gleich“;
- „Deutsche Richter sind keine großen Lichter“;
- „Deutsche Staatsanwälte verprügeln wir in Bälte“;
- „Die Justiz ist eine Hure; bespringt sie!“
Nach justizpolitischen Teach-ins lasen sich Hinweise über „Verschiedene Wege zur Richterverunsicherung“ in einem SDS-Papier so:
- Die „radikale Herstellung von Öffentlichkeit im Gerichtssaal“ müsse „deutlich machen, dass mit dem Angeklagten sich die ganze Apo als mitangeklagt betrachtet“,
- „Selbstanzeigen müssen darauf gerichtet sein, die Justizbürokratie zu überschwemmen, sie zu lähmen.“
- „Der Zusammenhang zwischen spontanen Massenaktionen auf der Straße und deren Fortsetzung im Gerichtssaal muss in Argumentationsketten gegen das Gericht von jedem deutlich gemacht werden können.“
Richter und Rebellen, die im Stellungskrieg gegeneinander stehen, Strafvorschriften und Verfassungsartikel, die aus verschiedenen Welten stammen – die Situation scheint ausweglos. Und auch die Hoffnung, der Bundesgerichtshof werde einen gangbaren Rechtsweg weisen, wurde in Karlsruhe zunichte.
Im August hob der zweite Strafsenat des BGH den Laepple-Freispruch des Kölner Landgerichts auf und verwies den Fall, bei dem es um die Demonstration gegen die Erhöhung der Kölner Straßenbahntarife geht, zu neuer Verhandlung und Entscheidung ans Landgericht Wuppertal. Senatspräsident Dr. Paulheinz Baldus begründete die Entscheidung mündlich so, dass Professor Ridder ein „Klima hochgradiger Gereiztheit“ empfand, „in dem die Justiz ihre eigenen Flanken bloßlegt“. Ein „höchst peinlicher Missbrauch des Wortes Terror“ verriet dem Justiz-Kritiker und früheren Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsidenten Richard Schmid, „wie unsympathisch dem Strafsenat die ganze Richtung und das Benehmen der jungen Leute ist“.
Immerhin steht nach dieser höchstrichterlichen Entscheidung fest: Die bloße Beteiligung an einem Sitzstreik auf der Straße, durch den ein politisches Gremium – in Köln der Rat der Stadt – umgestimmt werden soll, ist weder Aufruhr noch Landfriedensbruch. Zudem stellten die Bundesrichter klar, dass der im Tatbestand über den Landfriedensbruch „angewandte Begriff der Gewalttätigkeit nicht einfach im allgemeinen Sinne mit Gewalt gleichgesetzt werden kann“„ sondern ein „aggressives Handeln“ voraussetze.
Mit dieser Erkenntnis rückte der Senat praktisch von einer Überdehnung des Gewaltbegriffs ab, die das Reichsgericht begründet und der Bundesgerichtshof selbst weiterentwickelt hatte. Nach dieser Rechtsauffassung galt als entscheidend dafür, ob Gewalt angewendet worden war, nicht das Mittel des Täters, sondern die Wirkung auf den Adressaten. Mithin konnte auch Sitzen oder Stehen eine sogenannte passive Gewaltanwendung sein.
Der Wortlaut des Gesetzes, „Gewalttätigkeit“ hingegen verlangt eindeutig die Ausübung physischer Kraft, die Entfaltung kinetischer Energie. Bei Widerstandshandlungen herrscht seit langem die Lehrmeinung: Nicht das Aussperren, nur das Einsperren eines Polizisten bedeutet gewaltsam Widerstand leisten.
Im Laepple-Urteil gab nun der Bundesgerichtshof eine Tendenz zu erkennen, die Gewaltanwendung bei Demonstrationsdelikten ähnlich zu definieren. An massenpsychologischem Verständnis für geringfügige Übergriffe bei politisch aufgeladenen Demonstrationen gebrach es hingegen den Bundesrichtern.
Sie entschieden aufs neue nach altem Maßstab: „Jegliches aus der Zusammenrottung hervorbrechendes aggressives Handeln, mag es sich etwa bloß im Wegdrängen eines Polizeibeamten oder im Umwerfen eines Gegenstandes äußern, bringt als Gewalttätigkeit den Tatbestand des Paragraphen 125 Absatz 1 StGB (Landfriedensbruch) zur Vollendung.“
Der Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident Staff analysiert hingegen in seiner Entscheidung über Cohn-Bendit: „In dem ‚Zusammenrotten’ ist, ohne dass es sprachlich eines Zusatzes bedürfte, bereits die Charakterisierung der Rotte als friedensstörerisch enthalten.“
Zum „Beginn deutlich restaurativer Tendenzen“ (Professor Tiedemann) gediehen schließlich die Ausführungen der Bundesrichter, als sie erkannten, das Kölner Straßenbahn-Sit-in sei nicht nur „gewaltsames Handeln … im Sinne des Nötigungstatbestandes“, sondern auch rechtswidrig gewesen:
- „Niemand ist berechtigt, tätlich in die Rechte anderer einzugreifen, insbesondere Gewalt zu üben, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen und eigenen Interessen oder Auffassungen Geltung zu verschaffen.“
- „Hier ist die Verkehrsbehinderung gerade zum Ziel und Zweck einer öffentlichen Aktion gemacht worden, die damit einen unfriedlichen Charakter gewonnen hat und nicht mehr der Garantie des Artikel 8 Absatz 1 GG teilhaftig sein kann.“
- „Die Anerkennung eines Demonstrationsrechts in dem von der Strafkammer angenommenen Ausmaß liefe auf die Legalisierung eines von militanten Minderheiten geübten Terrors hinaus.“
Es liest sich, als ob es nicht das Wesen der Grundrechte, also auch des Versammlungsrechts wäre, Vorrang vor einfachen Gesetzen zu haben; als ob das Bundesverfassungsgericht nicht mehrmals entschieden hätte, alle grundrechtsbeschränkenden Gesetze müssten ihrerseits „im Lichte der Grundrechte“ interpretiert werden; als ob nicht nach längst herrschender Auffassung zum Beispiel das Recht auf Meinungsfreiheit die ungestörte Ausübung eines Gewerbebetriebes oder die Ehre eines Bürgers – und mithin vielleicht auch den Verkehrsfluss – beeinträchtigen dürfe.
„Es scheint dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten zu sein“, resümiert Rechtslehrer Tiedemann, „eingefahrene strafrechtliche Konstruktionen auch hier durch ein Diktum auf der Grenze von Verfassungsrecht und politischer Entscheidung zu durchbrechen.“
Derweil bleibt es dem sechsten Deutschen Bundestag überlassen, die Strafvorschriften über Landfriedensbruch und Landzwang, über Aufruhr und Auflauf zu reformieren – oder sie überhaupt aus dem Katalog krimineller Straftaten zu streichen. Im letzten Parlament war die Reform gescheitert. Sie wurde der großen Koalitionsrücksicht geopfert.
Im März hatte der Sonderausschuss für die Strafrechtsreform während einer Klausurtagung in Garmisch-Partenkirchen einen Gesetzentwurf formuliert, der als ein Teil der Strafrechtsreform galt. Doch das Vorhaben misslang. Denn das „unbestritten größte Gesetzgebungswerk“ das der Bundestag je beschlossen hat“, so der stellvertretende Ausschuss-Vorsitzende Dr. Adolf Müller-Emmer (SPD), sollte auf keinen Fall gefährdet werden. Und „die CDU“ andererseits, so der Bundestags-Abgeordnete und SPD-Rechtsexperte Martin Hirsch, war „weniger denn je bereit, etwas Vernünftiges zu machen“.
Es gelang nicht einmal, was ein außerparlamentarisches Gremium reformfreudiger Juristen, das „Aktionskomitee Justizreform“, befürchtet hatte: eine bloß „verbale Neufassung … die wohl aus den Tatbeständen die obrigkeitsstaatlichen Sprachaltertümer entfernt, aber weitgehend darauf verzichtet, in der Sache selbst zu reformieren“.
Zwar sollte das neue Kapitel im alten Gesetz nicht mehr „Widerstand gegen die Staatsgewalt“, sondern „Straftaten gegen den Gemeinschaftsfrieden“ heißen. Zwar wurde der „Befehlshaber der bewaffneten Macht“ gestrichen und der Straftatbestand „Auflauf“ durch die Ordnungswidrigkeit „unerlaubte Ansammlung“ ersetzt. Doch „die Menge“ sollte fortan durch „Träger von Hoheitsbefugnissen“ zerstreut werden. Und die „Zusammenrottung“ stand weiterhin im Text des Paragraphen über Landfriedensbruch und Aufruhr.
Von der Nötigung eines Beamten, „eine Amts- oder Diensthandlung nicht vorzunehmen“, über die Nötigung, sie „vorzunehmen“, bis zur Nötigung eines Berechtigten „des Forst-, Feld-, Jagd- oder Fischereischutzes“ und seines von ihm „bestellten Aufsehers“ wurde alles novelliert. Die Reformer hielten es aber für überflüssig, den Vorschlag des Justizministeriums zu berücksichtigen, auch bei Beamten-Nötigung solle der Absatz 2 des allgemeinen Nötigungsparagraphen 240 angewendet werden – wonach eine Tat nur dann rechtswidrig ist, „wenn die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen“, also sozialwidrig ist.
Auf zwei neue Vorschriften, die den Richtern Ruhe im Saal bescheren sollen, glaubten die Experten hingegen nicht verzichten zu können:
- um die Gerichte seien Bannkreise zu errichten – eine Abriegelung, die bisher nur für Parlamentsgebäude und das Bundesverfassungsgericht vorgesehen ist;
- die Richter-Nötigung sei gesondert unter Strafe zu stellen – eine überflüssige Sanktion, weil nach geltendem Recht auch die Nötigung eines Richters wie jede andere Nötigung geahndet werden kann. Nach solchen Vorschlägen, die Rechtsanwalt Hirsch als „Unsinn“ abtat, kam es, wie der damalige Vorsitzende des Sonderausschusses Max Güde (CDU) vorausgesehen hatte, bei beiden Fraktionen zu „Distanzierungen“ der „eigenen Freunde“ und mithin zu keinem Gesetz.
Ob in den nächsten vier Jahren Sozial- und Freidemokraten – nun, da die Unionsparteien einer Reform kaum mehr im Wege stehen können – die verworrene Rechtslage entwirren werden, steht dahin. Selbst dann aber, wenn das neue Bonner Regime sich zu Erneuerung verstehen sollte, wäre zwar die Zukunft, doch nicht die Gegenwart bewältigt. Denn Hunderte von Demonstranten sind in jüngster Zeit nach überholten Gesetzen verurteilt worden, Hunderten steht das unmittelbar bevor.
Mit welcher Ordnung dennoch wieder Ruhe im Staat einkehren könnte, sagte vorletzte Woche der Sozialdemokrat und baden-württembergische Justizminister Rudolf Schieler: „Mit der Neufassung der Straftatbestände zum Schutze des Gemeinschaftsfriedens muss zugleich die Entscheidung über die Frage einer Amnestie für im Zusammenhang mit Demonstrationen begangene Straftaten getroffen werden.“
Schleiers Kabinettschef, der Christdemokrat Hans Filbinger, sieht es ähnlich: „Ich glaube, dass das eine Folgerung ist, die ich unterschreiben kann. Taten mit Bagatellcharakter sind einer Amnestie durchaus zugänglich, ohne dass dadurch der Anspruch der Gesellschaft auf Strafe tangiert würde.“
Berlins Sozialdemokraten baten ihren Bundesvorstand, er solle die Bonner Regierung auffordern, eine Amnestie für alle einschlägigen Straftaten zu erlassen: „Die Verfolgung von Tausenden aus politischen Gründen straffällig gewordener Studenten und anderer junger Menschen würde einen politischen und gesellschaftlichen Neuanfang schwer belasten und Reformen auf allen Gebieten stark behindern.“
Eine Amnestie würde auch vielen helfen: der neuen Regierung, der daran gelegen sein könnte, statt staatsfeindlicher Kritiker kritische Staatsbürger vor oder hinter sich zu haben; der Gesellschaft, die sich eine begabte Jugend unter ideologischer Quarantäne auf Dauer nicht leisten kann; den Angeklagten, die für demokratisches Engagement nicht nach Gesetzen bestraft würden, die jenseits der Demokratie engagiert sind.
Und eine Amnestie würde mancherlei schützen. Das Ansehen der Justiz vor den Urteilen der Gerichte, die Gerichte vor ihren Urteilen.
Der Spiegel 45 vom 3. November 1969, 89 ff.