Materialien 1969
Sie wussten nichts vom Ozonloch
Am 11. Februar 1969 wurde zum ersten (und letzten) Mal ein Münchner Universitätsinstitut von Studenten besetzt und zum befreiten Territorium erklärt.
Eine teilnehmende Beobachtung, 40 Jahre danach.
Es war idiotisch zu glauben, die bürgerliche Presse könne ein Mittel sein, um durch Aufklärung Voraussetzungen für eine revolutionäre Veränderung der Verhältnisse zu schaffen. Die bürgerliche Presse ist ein Instrument der herrschenden Klasse!
(otto caput Nr.1 – kampfschrift der basisgruppe zw, Februar 1969)
Amerikahaus nach 13 Stunden befreit
(Schlagzeile von Bild, 13. Februar 1969)
Wie es sich für ein zeitungswissenschaftliches Institut gehört, fing die Revolution mit einer Zeitung an. Genau genommen war es eine Zeitschrift, eine Nullnummer, ein Versuchsballon, dem nach erfolgreichem Flug ins Herz des Lesers eine Nummer Eins folgen sollte. Sie hatte den programmatischen Titel „otto caput Nr. 0“, und ihre Verbreitung wurde unmittelbar nach Erscheinen per einstweiliger Verfügung des Landgerichts München verboten.
Das Verbot hatte Dr. Otto Roegele beantragt, und die „Antragsgegner“ waren zehn namentlich genannte Studenten der Zeitungswissenschaft, die ziemlich willkürlich aus dem harten Kern der Studentenvertretung, Fachschaft genannt, ausgewählt worden waren. Zwei der Namen tauchten später auf den Fahndungsplakaten auf, mit denen nach Mitgliedern der RAF gesucht wurde. Den Zehn wurde „bei Meidung einer Geldstrafe in unbeschränkter Höhe oder Haftstrafe bis zu sechs Monaten verboten, eine Neuauflage der hektographierten Zeitschrift ‚otto caput’ Nr. 0 herzustellen“. Außerdem wurde den Studenten verboten, „den Namen des Antragstellers oder des Instituts für Zeitungswissenschaften, sowie die Namen seiner Assistenten im Zusammenhang mit pornographischen schriftlichen Äußerungen oder Darstellungen sowie anderen beleidigenden Äußerungen über die Tätigkeit des Antragstellers in Bezug auf sein Lehramt in der Öffentlichkeit sowie über seine private Sphäre zu nennen und diese Äußerungen zu verbreiten“. Puh! Der Streitwert wurde auf 10.000 Mark festgelegt. Die Entscheidung trägt das Datum des 26. November 1968.
Das Landgericht gab das Signal zum Aufbruch: Die Freiheit der Presse war bedroht von der kapitalistischen Staatsmacht.
Die Vertreter der etablierten Herrschaft am Institut waren zu viert (eigentlich zu fünft, aber einer von ihnen hatte seine eigenen menschlichen Prinzipien und benützte seinen Kopf nicht für politische Machtspiele wie der Chef und die anderen drei Assistenten). Der Professor, Otto B. Roegele, war sogar außerhalb von Uni und Institut bekannt. Seit 1963 gab er den „Rheinischen Merkur“ heraus, eine ganz entschieden konservative Wochenzeitung, war Dozent für die Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU, ein ganz entschieden konservativer Verein, und durfte im ZDF aus Gründen der Ausgewogenheit schon mal ganz entschieden konservative Kommentare nach den Nachrichten verlesen. Typ: so charismatisch wie eine graue Maus. Im Dezember 1967 hatte er in einem Rundfunkinterview geäußert: „Die Arbeit mit den Studenten hält jung, sie sorgt für immer neue Überraschungen, zwingt zur Selbstkritik und verzögert vielleicht sogar den Prozess des Alt- und Starrwerdens.“ Otto Roegele starb im September 2005 kurz nach seinem 85. Geburtstag.
Sein Kampfhund Nummer eins in den Tagen vor und während der Besetzung war Peter Glotz. Der war knapp dreißig damals und von politischem und universitärem Ehrgeiz gebeutelt. Er saß als Vertreter der wissenschaftlichen Assistenten im akademischen Senat, hatte im Vorjahr seinen Doktor gebaut („Buchkritik in deutschen Zeitungen“) und mit dem anderen SPD-Mann am Institut, Wolfgang Langenbucher, zwei Bücher verfasst, die zu lesen einem als Studenten dringend geraten schien – Themen daraus kamen in den Prüfungen vor. 1984 folgte Langenbucher dem Ruf auf das Ordinariat für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an die Universität Wien. Im Oktober 2006 trat er in den Ruhestand. Am 24. April 2008 feierte er seinen 70. Geburtstag, angeblich schreibt er gerade an einem Buch.
Während der Aktionswochen und bei der Besetzung hatten Glotz und Langenbucher offenbar einen zähneknirschenden Spaß an der verbalen Auseinandersetzung. Sie rieben sich gern mit den rhetorisch flinken unter den Studenten. Wahrscheinlich übte Glotz schon für künftige Auftritte. Die SPD hatte ihn gerade als Bundestagskandidat für den Wahlkreis Fürstenfeldbruck aufgestellt.
Er war der letzte Vertreter der Institutsmacht in jener Nacht, er hielt die Stellung, verteidigte seine Welt der Wissenschaft, das Hausrecht und die Universität, die ihn so erfolgreich gemacht hatte. Erst spät warf er das Handtuch, als die verbliebenen Besetzer sich fast einstimmig weigerten, dem Räumungsbefehl nachzukommen. Er verschwand, kurz bevor die Bullen kamen – wenn die SPD nicht mehr hilft, muss halt Polizeigewalt her. Viele Jahre später wurde Peter Glotz Gründungsrektor einer Universität in den ostdeutschen Kolonien. Zuletzt hatte er eine von der Bertelsmann-Stiftung gesponserte Professur in St. Gallen. Er starb mit 66 Jahren am 25. August 2005.
Der dritte Assistent hielt sich bei der eigentlichen Besetzung völlig heraus – die Drecksarbeit überlässt man der SPD. Hans Wagner war das trojanische Pferd des Erzbistums im Institut, so klerikal-konservativ und CSU-nah, dass ihn nicht einmal Roegele ernst zu nehmen schien. Nach zehn Jahren Studium hatte Johann Vinzenz Wagner 1965 einen Doktor in Zeitungswissenschaft erworben und war Universitätsassistent geworden. Die zwanzig Semester vorher studierte er Theologie, Zahnmedizin, Philosophie und Psychologie. Hans Wagner sollte sich später noch ganz entschieden im rechtskonservativen Spektrum profilieren. 1969 sagte er den schönen Satz: „Mir ist es gleich, ob die Leute aus meinem Proseminar den Völkischen Beobachter oder Bild schreiben.“ Seine Lehrauffassung wird aus einem anderen Spruch deutlich: „Hier rede ich und sonst niemand, und wenn Sie weiterhin so dumm reden, werfe ich Sie raus.“ Mit einer solchen Haltung nimmt es nicht Wunder, dass Wagner später als Professor an der Münchner Uni arbeitete, auch wenn die Zeitungs- in Kommunikationswissenschaft umbenannt wurde. Im April 2002 ging er in den wohlverdienten Ruhestand.
Das Institut ist vor ein paar Jahren umgezogen, wieder an einen sehr symbolischen Platz: in den Englischen Garten, in das Gebäude, in dem früher der CIA-Sender Radio Free Europe untergebracht war. Davor war es einige Zeit in der Schellingstraße zur Miete, zwischen einem Begräbnisinstitut und der Redaktion der Bild-Zeitung.
Und dann gab’s noch den schon erwähnten fünften Mann: Heinz Starkulla, der einzige unter den Hochschullehrern, der von den Studenten allgemein respektiert wurde. Starkulla war mal zwei Jahre Gastprofessor in Cincinnati/Ohio gewesen und strahlte etwas liebenswürdig Weltoffenes aus, das mit Lässigkeit und Humor einherging. Er hatte keinen Aufstiegsehrgeiz mehr in der Uni-Hierarchie, war etwa so alt wie Roegele, also 20 Jahre älter als die anderen Assis, aber ohne Lehrstuhl, und er musste sich und anderen nichts mehr beweisen. Er war ein kluger, feiner Mensch, und das wussten sogar die Radikalen, die auf die Besetzung hingearbeitet hatten: „Auch für Mitglieder der Basisgruppe ist es nicht ehrenrührig, Starkulla sympathisch zu finden“, stand in „otto caput nr.1“. Er lehrte fast 40 Jahre am Institut. Heinz Starkulla ist im November 2005 mit 84 Jahren gestorben. Er war der Dritte im Jahr 2005, nach Glotz und Roegele.
Einige Studenten setzten gerade graue Theorie in bunte Praxis um, just an jenem 26. November 1968, als das Gericht seine einstweilige Verfügung gegen „otto caput Nr. 0“ verkündete. Vom Richterspruch wussten die Studenten noch nichts, als sie, Mao Tse-Tung ließ grüßen, Wandzeitungen auf dem Flur des zweiten Stocks im Münchner Amerikahaus anbrachten, wo das Institut für Zeitungswissenschaft zur Miete residierte. Das war auch schon sehr symbolisch. (Zu jener Zeit kam es vielen Leuten so vor, als ob die ganze Bundesrepublik bei den Amerikanern zur Miete wohnte.) Jedes Stockwerk hat im Boden des Flurs ein großes rundes Loch, vielleicht acht Meter im Durchmesser, drum herum ein Geländer aus dünnen Stahlstreben. So hat man einen guten Blick auf die Eingangshalle im Erdgeschoss. Von dort unten konnte man auch teilweise sehen, was auf dem Flur im zweiten Stock ablief.
Im „otto-kaputt-Extrablatt“ lasen sich die Ereignisse des frühen Nachmittags so: „Auf der letzten Vollversammlung trat Herr Langenbucher unter anderem mit seinen Angriffen auf das ungenügende Informationsangebot der Fachschaftsvertretung hervor. So entschlossen sich einige ZW-ler spontan zu einer Aktion, die 1. verschiedene Problematiken aufzeigen soll, 2. das Informationsniveau angleichen und 3. Spaß machen soll. Man traf sich also am 26. November mittags im Institut, war frohen Mutes und fertigte einige Wandzeitungen an. Auf der ersten, der allgemein begründenden, stand zu lesen: ‚Schafft die permanente Diskussion! Diese Wandzeitungsaktion soll einen ersten Versuch darstellen, die autoritär strukturierte Kommunikation am Institut zu durchbrechen.’“ Und so weiter. Ein Fremdwort folgte dem nächsten, Substantive wurden eingesetzt wie Maschinengewehrsalven.
Man schrieb fleißig DIN-A2-Plakate aus Packpapier voll, und nach drei Stunden prangte die ganze hintere Wand im Schmuck selbsthergestellter Wandzeitungen. Vorbildlich, diese Studenten, die roten Garden hätte ihre helle Freude gehabt. Auch die Erstsemester, die um 15 Uhr zum Seminar des Herrn Langenbucher ankamen, amüsierten sich köstlich. Jener hatte aber zusammen mit dem zweiten Assi, Herrn Glotz, beschlossen, dem Treiben ein Ende zu setzen. Sie holten sich Rückendeckung beim Hausherrn, dem Vermieter – der US-Regierung, vertreten durch Mr. Peters, den Direktor des Amerikahauses. „Otto-kaputt-Extrablatt“: „Gegen 15 Uhr 25, als das Langenbucher-Seminar immer noch nicht begonnen hatte, gab Glotz eine offizielle Erklärung ab, die inhaltlich folgendermaßen lautete: Die Direktion des Amerikahauses habe an den Wandzeitungen Anstoß genommen und erklärt, dass diese Aktion den Mietvertrag verletzt und droht mit Kündigung, falls nicht sofort der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werde.“ Natürlich glaubte ihm keiner, weshalb eine Delegation zum Direktor Peters geschickt wurde. Der bestätigte die Glotz-Erklärung. Hah, das war eine Meldung für die Presse! Jemand rief bei der Abendzeitung an und verkündete anschließend, die würden gleich zwei Journalisten vorbeischicken. Auch der Lokalreporter Christian Ude von der Süddeutschen hätte sein Interesse geäußert. „Angesichts der möglichen Publizität des Konflikts waren sich Glotz und Peters nicht mehr so sicher. Kurz darauf gab Glotz den Versammelten bekannt, dass Peters nach Rücksprache mit dem Generalkonsul keine Bedenken mehr gegen die Aktion habe, und unter diesen Umständen habe er, Glotz, auch nichts mehr dagegen.“
Zu spät. Die Eskalation war nicht mehr aufzuhalten. Auf einem Flugblatt wurde zur täglichen Vollversammlung um 13 Uhr aufgerufen. Da sollte über drei Fragen diskutiert werden: „1. Ist es möglich, dass ein Universitätsinstitut in seinem Inhalt bestimmt wird durch eine außeruniversitäre Institution wie das Amerikahaus? 2. Was für ein Wissenschaftsverständnis haben wissenschaftliche Assistenten, die das widerstandslos hinnehmen? Sollten sie es gar aus Mietverträgen ableiten? 3. Was birgt dieser Mietvertrag sonst noch für Überraschungen? Hat Peters das nächste Semesterprogramm bereits genehmigt? Wir fordern die Veröffentlichung des Mietvertrages!“ Das Impressum des Flugblatts lautete: „Eigendruck des Instituts für Beschäftigungstherapie, München, Karolinenplatz im Amerikahaus.“
Es wurde also beschlossen, den Lehrbetrieb am Institut selbst in die Hand zu nehmen. Das bedeutete, dass in allen Vorlesungen und Seminaren plötzlich eine Handvoll Studenten eine Diskussion über Themen wie „Wissenschaftsverständnis“ und „Machtfrage am Institut“ forderten und durchsetzten. Der vorläufige Höhepunkt war dann die „Sprengung“ der Hauptvorlesung: Wolf Schimmang, der Fachschaftssprecher, stand am Rednerpult, der Professor musste sich erst mal in die erste Reihe setzen, wo sein Gastredner und die Assistenten Platz genommen hatten, und still schweigen. Wolf redete klug und wohlformuliert wie immer, dann meldeten sich die Horrorzwillinge, die eine Resolution verlasen, „in der sie Roegele als Schande für die Münchner Universität bezeichneten, falls er nicht bereit sei, über sein Wissenschaftsverständnis zu diskutieren“ („otto caput nr.1“). Dann redete Ho-Chi Koch, ein glänzender Rhetoriker, der eigentlich Horst-Dieter hieß, aber Ho-Chi genannt wurde, weil er einen Bart wie Ho Chi Minh hatte, nur dichter. Heute ist er Geschäftsführer des Instituts für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen. Dann redeten andere, und die Vorlesung ging munter weiter, die Zeit verging wie im Fluge.
Roegele riss endlich der Geduldsfaden, und er forderte die Diskussionsteilnehmer zum Verlassen des Hörsaals auf. Das tat er drei Mal, und als er keine Wirkung erzielte, ging er selbst. Am nächsten Tag sagte er alle weiteren Vorlesungen für den Rest des Semesters ab. Das geschah am 16. Januar 1969.
Ja, die Dinge waren in Gang gekommen. Und nicht vergessen wurde des dritten Punktes bei der Begründung für die Wandzeitungsaktion: Es sollte Spaß machen. Die Besetzung des Instituts, nicht einmal vier Wochen später, folgte nach dem Beschluss der Erstsemester, ihre Seminarprüfung zu boykottieren. Es ging darum, sich der „Leistungsideologie“ zu verweigern. Und Klausuren schreiben, bei denen Typen wie Wagner und Langenbucher bestimmen sollten, was gefragt und wie es bewertet wird, das machte entschieden keinen Spaß. Ich wusste nach dem Proseminar noch immer nicht, was „kognitive Dissonanz“ war, und wenn irgendeine Prüfung platzte, sollte mir das schon recht sein. Viel vergnüglicher war es doch, statt dessen mit den beiden Assistenten über Sinn und Unsinn wissenschaftlicher Prüfungen zu diskutieren. Darüber wurde abgestimmt: Dafür stimmten 69 Studenten aus den beiden Proseminaren, dagegen elf. Zum ersten Termin bei Wagner am Freitag, dem 7. Februar, 9:00, kamen außer den Prüflingen noch gut hundert andere Studenten, nicht alle vom Institut. Einige kamen von der noch ziemlich neuen Hochschule für Film und Fernsehen, die damals auch von Roegele geleitet wurde. Jeder Seminarteilnehmer füllte einen Prüfungsschein aus mit der Note „befriedigend“. Die „Scheine werden eingesammelt“, so ein zeitgenössisches Flugblatt, „und den Assistenten mit der Auflage überreicht, sie bis 11. Februar, 10 Uhr unterschrieben und gestempelt zurückzugeben“. Für diesen Termin vier Tage später wurde an der ganzen Uni und der Filmhochschule per Flugblatt geworben. Herstellung von Öffentlichkeit hieß das.
Natürlich wurden die Prüfungsscheine an diesem Tag nicht unterschrieben herausgegeben. Beide Assistenten, Wagner und Langenbucher, weigerten sich. Den Beginn der Besetzung beschreibt „otto caput nr.1 – Kampfschrift der Basisgruppe ZW“: „Nach einer weiteren Diskussion mit der Institutsleitung, deren formale und irrationale Argumentation noch einmal bloßgelegt wurde, beschlossen die Studenten die Befreiung des Instituts. Wir benannten das Institut in ‚Bahman-Nirumand-Institut’ um und erklärten es zum ersten befreiten Institut der Universität München.“ Wer hinter diesem Namen steckte, wussten auch damals nur wenige, weshalb erklärt wurde: „Der Publizist und Schriftsteller Bahman Nirumand soll aus der BRD ausgewiesen werden; in seinem Heimatland Persien erwartet ihn wegen seiner politischen Betätigung die Todesstrafe. Somit war die Umbenennung des Instituts ein Symbol der Solidarität der studentischen Opposition mit den Gegnern des Schah-Regimes, das, durch US-Militärhilfe und CIA gestärkt, seine faschistische Terrorpolitik betreibt, unterstützt auch durch unseren Staatsapparat.“
Nirumand hatte ein viel beachtetes Buch in der Reihe rororo aktuell veröffentlicht: „Persien – Modell eines Entwicklungslandes“. Somit war klar, worum es ging: Global denken, lokal handeln – auch wenn dieser Spruch erst Jahre später auftauchte.
Der Ort der Revolte, im zweiten Stock des Amerikahauses, hätte gar nicht besser gewählt werden können. Die Presse wurde informiert, Lebensmittel und Schlafgelegenheiten wurden organisiert, und man machte das, was bei allgemeiner Ratlosigkeit immer noch die beste Therapie darstellt: Man gründete Arbeitskreise, die in sämtlichen Räumen des Instituts permanent tagten. Auch im Professorenzimmer, wo inzwischen alle Aktenschränke aufgebrochen waren und offen standen. Um 20 Uhr gab es eine Vollversammlung, die beschloss, „die begonnene Arbeit fortzusetzen“, das heißt, über Nacht im Institut zu bleiben.
An diesem Arbeitseifer wurde später in „otto caput nr.1“ auch Kritik geübt: „Sie unterstellten sich unbewusst dem gleichen unreflektierten Leistungsanspruch, dem sie auch sonst im Institut unterworfen sind. Auf Aktionen von Studenten, die nicht in Arbeitsgruppen organisiert waren, reagierten sie irrational, hysterisch und autoritär, indem sie diese Aktionen als Störungen abqualifizierten (z.B. Herausreißen von Telefonkabeln, Hinauswerfen von Johnson- und Kennedybildern, Bemalen von Wänden).“
Inzwischen sah es schon recht schräg aus, das Institut, von innen, wo die Wände mit Plakaten, Graffiti und Wandsprüchen bedeckt waren, aber auch von außen. Das kann man auf einem Foto sehen. An einem Fenster im zweiten Stock stand der Name des befreiten Instituts, daneben hing eine Vietcong-Fahne und ein Spruchband: Erstes BEFREITES Institut der Universität München. Bärtige Typen mit langen Haaren hingen in den Fenstern, unten stand ein Student und winkte fröhlich mit einem kleinen Ami-Fähnchen. Das sah alles recht gut aus, weil zwischen Erdgeschoss und erstem Stock das ovale Schild mit der großen Aufschrift AMERIKAHAUS hing. Und zwei schräg nach oben gerichtete Fahnenstangen. Ohne Fahnen. Den Kommentator des Münchner Merkur vom 13. Februar darf man sich beim Schreiben getrost mit Schaum vor dem Mund vorstellen: „Wie weiland von SA und SS wurden Türen und Schränke aufgebrochen und Räume verwüstet und beschmutzt, so dass die Lokalitäten hernach, man gestatte den kräftigen Ausdruck, wie Schweineställe aussahen.“
Das Ende der Aktion kam für mich am Morgen des 12. Februar 1969. Da wurde ich gegen fünf Uhr in die nassen Schneeschauer von München entlassen. „Entlassen“, richtig, nach drei Stunden im Polizeigefängnis an der Ettstraße. Ich hatte Glück gehabt – fester Wohnsitz, Ersttäter, keine Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, denn das Delikt war klar: Hausfriedensbruch.
Ich trat durch die große Toreinfahrt des Polizeipräsidiums, knöpfte meine Jacke zu und stemmte mich gegen das Sauwetter. Es passte, haargenau. Nach all den Kollektivaktionen, nach dem Zirkus in der Zelle, stand ich so allein vor den Scherben der Studentenrevolte, wie man nur allein stehen kann. Während ich durch den Schneematsch hinüber zum Karolinenplatz stapfte, um den senfgrünen Fiat 500 abzuholen, den ich damals fuhr, gingen mir die letzten Tage und Stunden durch den Kopf – die Zuspitzung der Lage kurz vor dem Prüfungstermin, die Auseinandersetzungen mit den Assistenten, Peter Glotz profilierungssüchtig an der Spitze, und die „Genossen“, die unvermittelt gestern Morgen aufgetaucht waren, als klar wurde, dass die Vollversammlung sich für unbefristete Besetzung aussprechen würde. Plötzlich waren sie da, verteilten Matratzen im Seminarraum, installierten einen Plattenspieler und ließen die Rolling Stones „Sympathy for the Devil“ dröhnen – „wir müssen die neue Gesellschaft schon im Kampf gegen die alte vorwegnehmen“ – und zur neuen Gesellschaft gehörten die Stones, keine Frage. Während nebenan im großen Saal pausenlos diskutiert wurde, zogen aus dem Seminarraum die Hanfdämpfe auf den Flur – ganz wie es sich für befreites Gebiet gehörte.
Drüben im Sekretariat hielt Frau Bussmann, die Sekretärin, die Stellung im Vorzimmer von Otto „Kaputt“ Roegele und mokierte sich darüber, jetzt befreit zu sein. Ihr Chef hatte sich schon gegen 13 Uhr verdrückt, war dann noch ein paar Mal sinnierend um den Karolinenplatz gelaufen und verschwunden. Irgendjemand hatte die Telefonleitung aus der Wand gerissen – ausgesprochen kontraproduktive Destruktion, denn wie sollte die Presse unterrichtet werden, wenn die notwendigsten Kommunikationsmittel zerstört waren? Bis zum Nachmittag musste aus der Zelle vor dem Haus telefoniert werden, dann schaffte es ein Mechanikerlehrling („Ich bin kein Kommilitone, du kannst mich ruhig Genosse nennen“), die Strippen wieder einzuziehen.
Die Besetzung bestand hauptsächlich aus Teach-ins, reden, reden, reden, Selbstdarstellung durch reden und Wandzeitungen. Später wurde dann direkt auf die Wand gemalt. Das war Sachbeschädigung. Rolf Heißler, dem Jahre danach bei seiner Verhaftung eine Polizistenkugel in den Kopf schlug, pinselte in Ölfarbe, Schwarz auf Marmor: „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche.“ Rolf sah aus wie Che Guevara mit zu wenig Tortillas. Später hat er sich der RAF angeschlossen, und verübte im April 1971 einen Banküberfall, für den er 1972 zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Beim Online-Lexikon Wikipedia sieht seine weitere Biographie so aus: „Gemeinsam mit Mitgliedern der Bewegung 2. Juni wurde Rolf Heißler durch die Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz freigepresst und am 2. März 1975 nach Aden im Jemen ausgeflogen. Im Oktober 1976 kehrte er unerkannt in die Bundesrepublik zurück, obwohl er steckbrieflich gesucht wurde, und wandte sich erneut der RAF zu. Am 1. November 1978 erschoss er zusammen mit Adelheid Schulz zwei niederländische Zollbeamte bei einer Passkontrolle auf der Nieuwestraat in Kerkrade und verletzte zwei weitere Zöllner schwer. Bei seiner Festnahme am 9. Juni 1979 in Frankfurt am Main wurde Rolf Heißler durch einen Kopfschuss schwer verletzt. Am 10. November 1982 wurde er aufgrund der Tötung der niederländischen Zollbeamten zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Am 25. Oktober 2001 wurde Rolf Heißler mit Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf aus der JVA Frankenthal auf Bewährung entlassen.“
Bleibt noch anzufügen: Im Juni 2008 wurde er sechzig Jahre alt.
Sein Spruch „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“ stand 1969 noch Monate nach der Besetzung an der Wand, als der Institutsalltag längst wieder Einzug ins Amerikahaus gehalten hatte. Ich hielt mich dran und legte zwei Jahre danach tatsächlich im gleichen Institut die Prüfung ab, was ich an jenem Tag bestimmt für unmöglich gehalten hätte. Und Otto caput gehörte zu den humansten Professoren, die ich dabei kennen lernte.
Doch die Prüfung abzulegen, das war schon der nachrevolutionäre Subjektivismus, Ausdruck des Zerfalls, der Zerschlagung der Revolte, für mich auch die einzige Möglichkeit, aus den Hanfdämpfen der Enttäuschung noch einmal aufzutauchen, das Studium abzuschließen und ein Stipendium im Ausland zu beantragen. Nichts wie raus!
Doch erst einmal kam ich rein. Die peinlichste Episode für mich passierte irgendwann nach Mitternacht. Im großen Seminarraum hielt sich immer noch der harte Kern auf, vielleicht sechzig Leute. Zu der Zeit ging es darum, ob man das Ultimatum des Rektors berücksichtigen sollte – entweder Räumung bis zwei Uhr oder die Polizei wird räumen. Die Horror-Zwillinge, so genannt, weil sie immer zu zweit auftauchten, identische Meinungen vertraten, endlos redeten und saufrech waren, laberten wieder bis zum Überdruss. In späteren Jahren dachte ich oft: Wenn es Polizeispitzel gegeben hat, dann einer von ihnen oder alle beide. Sie wiederholten immer die gleiche Leier: Nur nicht aufgeben, man muss es dem System zeigen, wir bleiben alle da, Solidarität ist gefragt, nur wenn wir Zeichen setzen und uns notfalls auch verhaften lassen, können wir Wirkung erwarten. Dann würden die anderen Institute auch besetzt werden, die anderen Fachschaften sich solidarisieren, die Revolte übergreifen, die Revolution gefördert werden und so fort.
Während einer der beiden Einpeitscher, ein Unsympath erster Güteklasse, die seit Stunden bekannten Argumente vorbrachte, erschien der Kanzler der Universität im Türrahmen. Der Kanzler war sowas wie der oberste Verwaltungsbeamte, Vollzugsorgan des (gewählten) Rektors, ausführender Handlanger der politischen Führung, ein kleiner, untersetzter Brillenträger, der ganz aufgeregt und mit rotem Kopf schon am Nachmittag auf die Unrechtmäßigkeit unseres Tuns hingewiesen hatte. Jetzt hatten sie ihn noch einmal vorgeschickt, um den Beschluss der Uni-Oberen zu verkünden. Doch der Horrorzwilling dachte gar nicht daran, mit reden aufzuhören. Schwitzend, im Wintermantel, den Hut in der Hand, stand der Kanzler da und versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Ich konnte meine Neugier nicht länger unterdrücken, wollte unbedingt wissen, wie es weitergehen würde – hatte die Universität eingelenkt, oder wollten sie nur ein letztes Mal verkünden, dass die Polizei abräumen würde? Ungeduldig herrschte ich den Horrorzwilling an: „Halt jetzt endlich dein Maul und lass den Kanzler reden.“
Es folgte Totenstille. Der Zwilling fasste sich ganz schnell und ignorierte mich einfach. Bevor mir noch klar wurde, was ich da gesagt hatte, tauchte Wolf neben mir auf, der gleiche Wolf, den ich vom Politikinstitut kannte, weil er auch in Hedda Herwigs Seminar über Platons Höhlengleichnis saß. „Das nenne ich revolutionär,“ zischte er mir zu. „Nur weil so eine aufgeblasene Autoritätsfigur auftaucht, soll einer das Maul halten …“
Ich bekam einen knallroten Kopf. Er hatte ja so recht, auch wenn mein Motiv Neugier war und nicht so sehr Respekt vor der Amtsperson – mein Einwurf war ganz schön daneben. Ich verdrückte mich in den Hintergrund des Saales. Mein Entschluss, bis zum Ende dabei zu bleiben, stand von da an fest, ich musste ja meine revolutionäre Gesinnung unter Beweis stellen, ich hatte in einem entscheidenden Punkt versagt, so viel war klar. Und ausgerechnet Wolf, den ich so bewunderte, rieb es mir unter die Nase.
Sie fuhren gegen drei Uhr morgens vor, eine Hundertschaft, vielleicht auch eineinhalb. Wir beobachteten vom Fenster aus, wie sie sich vor dem Haus aufstellten, zackige Befehle bekamen, und den Eingang stürmten. Das Institut lag im zweiten Stock, der Rest gehörte den Amis, und wir achteten strikt darauf, uns als Besetzer nicht mit den Besatzern anzulegen. Doch der Polizei gingen die Unterschiede nicht so deutlich auf. Sie keuchten hoch bis unters Dach, und kamen dann geballt von oben und unten – zwei Polizisten pro Besetzer. Wir hatten uns im Flur auf dem Boden niedergelassen, passiver Widerstand, und skandierten „Bullen raus aus unserem Haus“, was zwar nichts nützte, aber unsere Angst etwas verscheuchte. Je zwei Staatsdiener nahmen einen Rebellen unter den Armen und geleiteten ihn zur grünen Minna. Die Frauen hatten sich darauf geeinigt, sich nur von Polizistinnen verhaften zu lassen, was aber auch nichts nützte, denn es gab keine. So kam es doch noch zu Gerangel, aber da zerrten dann plötzlich vier Mann an einer Frau, und sie hatte keine Chance.
Brigitte Mohnhaupt schrie am lautesten. 13 Jahre später wurde sie zum Staatsfeind Nummer eins, zwei oder drei erklärt und in Stammheim verurteilt. So ziemlich alle Aktionen der RAF im Jahr 1977 wurden ihr zur Last gelegt. Wikipedia schreibt über sie: „Nach ihrer Verhaftung 1982 wurde sie wegen neunfachen Mordes und mehrfachen Mordversuchs zu fünfmal lebenslanger Freiheitsstrafe und zusätzlich 15 Jahren verurteilt. Nach Verbüßung der gerichtlich festgelegten 24 Jahre Mindesthaftzeit wurde sie am 25. März 2007 auf Bewährung entlassen.“
In der Ettstraße saß Brigitte im Februar 1969 mit Kathrin und Inga und fünf weiteren Frauen in einer eigenen Zelle, die 35 Männer in einer anderen. Dort übernahm Fritz Teufel in der allgemeinen Schläfrigkeit die revolutionäre Initiative und zündete eine Wolldecke an, konnte aber überzeugt werden, dass wir ersticken würden, bevor sie uns frei lassen, weshalb einer den Schwelbrand mit Wasser aus dem einzigen Wasserhahn löschte.
Ich war hundemüde, den ganzen Tag geredet und hin und her gerannt, oft nach der Devise „Bist du in Gefahr und Zweifel, renn im Kreis, schrei wie der Teufel“, was sich diesmal nicht auf den Fritz bezieht, der ja eher ein stiller Typ war, schon damals, und als ich drankam mit Fingerabdrücken, Fahndungsfoto und Schriftprobe, schrieb ich: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern. Karl Marx“, und ich war sehr stolz darauf, dem gleichfalls übernächtigten Beamten damit doch eine gewisse Begründung für unsere „Straftat“ geliefert zu haben, und mutig kam ich mir auch vor. Doch entlassen wurde ich, als einer der ersten, nicht aus philosophischen Gründen, sondern weil Wohnsitz und polizeiliche Anmeldung leicht zu überprüfen waren.
Ich setzte mich in den eiskalten Fiat, er sprang wie immer erst nach langem Orgeln an, und fuhr nach Hause, irgendwie doch stolz darauf, endlich die revolutionäre Mindesttat vollbracht zu haben und aus politischen Gründen verhaftet worden zu sein. Ich stellte mir Monas Gesicht vor, wenn ich ihr sagte, dass ich aus dem Gefängnis komme. Sie hatte ja immer eine Schwäche für harte Männer, und heute kam ich mir schon ziemlich kernig vor, verwegen, furchtlos der Staatsmacht trotzend – wir würden schon noch rütteln an den Stäben der „repressiven Toleranz“, wie Herbert Marcuse die moderne Form der Diktatur beschrieben hatte.
Ich parkte das Auto vor der Wohnung in der Schleißheimerstraße, sperrte es ab und die Haustür auf und ging die eine Treppe zu Fuß hoch. Die Wohnungstür war verschlossen. Seltsam. Ich drehte den Schlüssel im Schloss, schob die Tür auf, knipste das Licht an im Flur. Das große Zimmer badete in bleigrauem Morgendämmer, draußen hatten die Schneeschauer gerade Pause. Mona lag nicht im Bett. Sie kam am späten Vormittag, als ich noch erschöpft schlief. Es war das erste Mal in unserem Eheleben, dass sie die Nacht mit einem anderen Mann verbracht hatte.
Das Verfahren wegen Hausfriedensbruch gegen mich wurde eingestellt. Bei Wolf Schimmang kam es zur Verhandlung. Ich ging als Zuhörer hin, und der Vorsitzende Richter unterbrach das Verfahren und verbot mir, Notizen in mein Oktavheft zu schreiben. Neben mir auf den Zuhörerbänken saßen zwei Zivilbullen, die ebenfalls eifrig mitschrieben. Das störte den Richter nicht. Die Bullen grinsten schadenfroh.
Am 11. April des nächsten Jahres, 1970, fuhr ich, zusammen mit Mona, in einem Greyhound-Bus zwischen New Orleans und El Paso, als ein Mitfahrer seine Zeitung mit der Schlagzeile aufschlug: „McCartney Leaves Beatles.“
Zwei Jahre später habe ich Deutschland in Richtung Andalusien verlassen. Mit dem Renault 4. Und mit Mona. Von dort aus flog ich alleine weiter nach Kalifornien. Für immer, hatte ich mir damals vorgenommen.
Hans Pfitzinger
Eingestellt am 12. Februar 2009, aktualisiert zum 40. Jahrestag
www.hans-pfitzinger.de. (abgerufen am 16. Mai 2009)