Materialien 1970
B. Traven
Die kids, die mit ihrem Scheck vom Papa herum wedelten, fuhren an den Starnberger See oder noch weiter. Wir anderen jobbten im Sommer 1970 in den Semesterferien.
Die Arbeit in der Auslieferung des Schulbuch-Verlags war erträglich. Bücher verpacken und für den Versand vorbereiten ist nicht besonders aufregend; man musste nur auf die eigenen Finger achten, um nicht in die automatische Verschnürung gezogen zu werden. Übrigens: Die Bücher waren noch nicht in Folie eingeschweißt wie heute, sondern lagen ungeschützt, aber ordentlich auf Paletten gestapelt da.
Ich hatte immer kleine farbige, auf der Rückseite gummierte Zettel dabei, die mit kurzen Parolen gegen den Vietnamkrieg Stellung bezogen: „Nixon glauben wir kein Wort — Völkermord ist Völkermord“ und so ähnlich. Bei jeder Gelegenheit, bei der ich mich unbeobachtet glaubte, klebte ich so einen „Spucki“ auf das Vorsatzpapier eines Buches. Da kamen schon Hunderte Bücher zusammen, ganze Klassensätze. Einige verpackte ich auch gleich und versendete sie.
Eines Vormittags stand ein Polizeifahrzeug im Hof. Ich dachte, wenn sie dich rauswerfen, ist das schlecht, weil du so schnell keinen neuen Job findest. Wenn du die Bücher bezahlen musst, ist das noch viel schlechter. Aber wieso sollen sie herausfinden, dass du das warst. Ich arbeitete gelassen weiter.
Das Polizeiauto war wieder weg, da hieß es, ich solle zum Chef kommen. Das altertümliche Büro mit seinen schweren Möbeln war düster. Im Halbdämmer hinter dem Schreibtisch saß ein etwa fünfzigjähriger schmaler Mann mit schütterem Haar. Als sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, fielen mir seine tiefen Falten auf, die von den Nasenflügeln an den Mundwinkeln vorbei zogen. Ob er Probleme mit dem Magen hat, fragte ich mich.
Lange schwieg er, dann meinte er, „Sie san doch a Student? Was studier’n S’ denn?“ Während ich ihm antwortete, erhob er sich und drehte sich zum Schrank, der hinter ihm stand. „Wollen S’ was trinken? A Glasl Rotwein? I’ trink oans.” Ich bejahte erstaunt.
Nachdem er uns beiden je ein Glas eingeschenkt hatte, zog er aus der Schreibtischschublade einen Stapel etwas zerfledderter Nasskopien und schob mir das oberste Blatt unter die Nase. Ich las auf dem Umschlag einer kleinen Broschüre „Janvier 1924 — Eric Muesham — L’Homme (T. Rémy) — Le Militant (F.W. Seiwert) — Choix de Poesies — 1 Franc”.
„Sehen S’,“ meinte er, „des is’ aus’m Nachlass. Traven ist letztes Jahr gestorben, am 26. März in Mexiko, und Rosa sagte danach, Traven sei Ret Marut gewesen. Ich glaub’ das auch.“
Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. „Entschuldigen Sie, ich kann die anderen nicht allein lassen, ich muss zurück zur Arbeit.“ „Na, na, bleiben S’; die wissen, dass S’ bei mir san.“ Ich trank einen Schluck Wein. Dann sagte ich, dass ich über B. Traven nicht viel wisse. Er sei halt der Autor des Totenschiffs, des Schatzes der Sierra Madre und der Rebellion der Gehenkten und mancher Bücher mehr. Und Hollywood habe ihn doch auch verfilmt.
Seine wegwerfende Handbewegung war voller Verachtung: „Marut war damals in der Münchner Räterepublik 1919 einer der wichtigsten Köpfe neben Erich Mühsam. Aber während die Konterrevolutionäre Mühsam verschleppten und vor Gericht stellten, konnte Marut in letzter Minute entfliehen. Wie viele andere schlug er sich nach Amsterdam durch oder in eine andere Hafenstadt und schiffte sich nach Übersee ein. Sehen S’, im Januar 1924 forderte Franz Pfemfert in seiner Zeitschrift ‚Aktion’ die Freilassung von Mühsam, der in der Festungshaft schwer erkrankt war. Und dieser Text ist fast identisch mit dem Text, den S’ hier sehen, den Tristan Rémy und Franz W. Seiwert beim Verlag der ‚Vagabondes libertaires’ in Lyon veröffentlicht haben. Der Umschlaggrafiker hat halt das ‚h’ beim Mühsam an die falsche Stelle gezeichnet.“
„Naja,“ meinte ich, „Traven kann diese Broschüre auch in Mexiko gekauft haben. Es gab ja deutsche Buchhandlungen; vielleicht erklärt sich alles ganz einfach.“
Er lehnte sich enttäuscht zurück. „Gut, wenn’s so war und nichts weiteres dahinter steckt, wieso antwortete er nicht auf Mühsams Aufruf? Mühsam schrieb 1925 in seiner Zeitschrift ‚Fanal’, Marut möge sich doch bei seinen Freunden melden und ein Lebenszeichen geben. Und da kam nichts, gar nichts.“
„Ja, gerade deshalb, weil Traven nicht Marut war. Vielleicht aber hat er auch die Nummer von ‚Fanal’ gar nicht in der Hand gehabt, weil er schon im Urwald lebte.“
Er sah mich traurig an, wandte sich zu seinem Schrank und holte einen Stapel Bücher. „Ich hab’ alle Bücher von Traven, sehen S’ hier, die Erstausgaben der Büchergilde aus den Zwanziger Jahren. Ich habe sie alle gelesen, mehrmals, und habe keine Hinweise entdeckt. Aber wissen S’, er vergleicht immer wieder die Zustände in Mexiko mit denen im Ruhrgebiet. Er wird übers Ruhrgebiet geflohen sein. Vermutlich ist er sogar länger dort geblieben. Sie wissen ja, der Kapp-Putsch und der Aufbau der Roten Ruhrarmee. Da könnte ich mir vorstellen, dass er da dabei war, und dann ist er wieder geflohen, weg von Europa, wo sich der Kapitalismus faschistische Prätorianergarden aufbaut.“
Inzwischen war mehr als eine Stunde vergangen. Ich trank das dritte Glas aus, da meinte er unvermittelt: „Haben S’ gesehen, dass die Polizei da war? Es hat Beschwerden aus Schulen gegeben. Ich hab’ ihnen gesagt, dass es hier niemanden gibt, der in Bücher Zettel klebt, die gegen den Vietnamkrieg protestieren.“
Er schenkte mir noch einmal ein Glas Wein ein und sagte: „Sehen S’, das alles hat Traven geschrieben. Bücher verändern die Welt, glauben Sie mir.“
Richy Meyer
(26. August 2009)