Materialien 1970

Jeder muß sich austoben

Hermann Nitsch erklärt sein umstrittenes Abreaktionsspiel

Wer hat Angst vor Hermann Nitsch? Offensichtlich das Bayerische Kultusministerium, das
unlängst eine Aufführung seines »Abreaktionsspiels« an der Münchner Akademie verbot —
mit Berufung auf eine Stellungnahme der Münchner Amtes für Öffentliche Ordnung … Wieder einmal trat das Präsidialkollegium der leidgeprüften Akademie zurück. Ist Nitsch wirklich so gefährlich? Wir sprachen mit dem 32jährigen Wiener Künstler, der seit 1988 in der Nähe von München wohnt.

Wie stehen Sie zur jüngsten Situation an der Münchner Akademie?

»Ich bedaure, dass eine Aufführung meiner Aktion nicht möglich war, das zeigt, dass unsere Ge-
sellschaft von Tabus bedrängt wird und dass es mit der Freiheit der Kunst nicht weit her ist. Es tut mir leid, dass die Möglichkeit einer Aufführung allein schon zu einem Politikum geworden ist und dass dabei das Spezifische meiner Arbeit durch den politischen Aspekt in den Hintergrund gerückt wird.«

Worauf konzentriert sich Ihre künstlerische Arbeit und welche Ausdrucksformen nimmt sie an?

»Meine Hauptarbeit ist das sechs Tage dauernde Aktionsspiel, das Orgien-Mysterien-Theater. Dieses Spiel schreibe ich nieder wie eine Partitur. Wichtig ist, dass durch das Spiel der Gedanke des Theaters zu einem lebensbejahenden Fest ausgeweitet wird. Der Zuschauer soll sich und seine Umwelt sinnlich intensiver empfinden lernen. Alle meine Aktionen sind Teilelemente dieses großen Spiels.«

In welchem Zusammenhang stehen Ihre Vorträge und Schriften zu den Aktionen?

»Bei den Vorträgen handelt es sich in erster Linie um die Theorie meiner Arbeit. Die Theorie ist maßgebend und bildet die Konstruktion und Grundlage meiner sinnlichen Realisationen.«

Wodurch unterscheidet sich Ihre Arbeit von der anderer Aktionskünstler, wie z.B. Otto Muehl?

»Ich möchte sowohl über das Happening als auch über die sogenannten politischen Materialak-
tionen (Otto Muehl) hinausgehen. Ich suche eine neue Form von Theater, welches den Lebens-
prozeß des Spiel-Teilnehmers zum dramatischen Ereignis erhebt. Der Mitspieler soll dadurch zu einer religiös-philosophischen Seins- und Selbstfindung gebracht werden.«

Was verstehen Sie unter dem immer wieder in Ihrer Arbeit auftauchenden Begriff des »Abreaktionsspiels«?

»Abreaktion ist eine Bezeichnung von Breuer und Freud für ,die plötzliche Entladung von lang aufgestauten und unbewußten Affekten im Gegensatz zu ihrer bewußten Verarbeitung und ihrem allmählichen Abklingen’. Die Voraussetzung dafür bildete dabei die Aufdeckung des frühen Erlebnismaterials, das der Verdrängung verfallen war und dadurch zu einer seelischen Störung führen konnte. So wird es im Lexikon definiert. Durch meine Aktionen wird die Abreaktion zum Spielgeschehen. Ich will verdrängte sado-masochistische Intentionen anschaubar machen.«

In welcher künstlerischen Tradition sehen Sie sich?

»Meine Arbeit ist mit den Kunstresultaten aller Zeiten verbunden und ich betrachte sie als folgerichtige Station zum kunstgeschichtlichen Prozeß.«

Welche Position würden Sie sich selbst in unserer Gesellschaft zuordnen, die sich Ihnen gegenüber im wesentlichen ablehnend verhält?

»Ich glaube, daß meine Aktionen von Notwendigkeit für die Gesellschaft sind, weil die Gesellschaft mit verdrängten Bereichen konfrontiert wird und Bedürfnisse in der Aktion befriedigt werden. Der Zivilisationsmensch braucht Abreaktion und intensives Erleben.«

Haben Sie neue Pläne, nachdem die Möglichkeit, Ihr Abreaktionsspiel an der Akademie zu zeigen, gescheitert ist?

»Anfang September gehe ich wieder nach Amerika und werde in New York einige Aktionen reali-
sieren. Ich war schon einmal 1968 dort und meine Arbeit wurde begeistert aufgenommen und verstanden.«

Stefan Szczesny


Abendzeitung vom 8./9. August 1970, 10.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Kunstakademie

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