Materialien 1970

Mein Dein Sein gutes Recht

POHLE CONTRA

Firefly: Chicolini, give me a number from one to ten. Chicolini: Eleven.
(Szene: Chicolini under Arrest. Aus ‘Duck Soup’, Marx Brothers)

„Herr Pohle, Ihre Personalien, bitte.“
Rolf Pohle: „Mein Name ist Mensch, ich habe viele Väter, ich habe viele Mütter, ich habe viele Brüder, ich habe viele Schwestern, … ich bin über zehntausend Jahre alt und heiße Mensch. Ich weiß, wir werden siegen und der Planet Erde wird uns allen gehören.“

Eigentlich hatte ich an jedem der drei Verhandlungstage, an denen ich beim Prozess gegen Rolf Pohle war, auch ein bisschen das Gefühl, in einem Film der Marx Brothers zu sitzen. Was wohl an einem verwandten Bemühen liegen mag, zur Öffentlichkeit gewandt zu reden, Strukturen so zu löchern, daß man durch die Löcher durchgucken kann und die Bauart erkennt. Versuche das Pedal zu zeigen, mit dem gearbeitet wird und zu wem der Fuß gehört, der es bedient.

Die Anklage gegen Rolf Pohle lautet auf ‚Unterstützung einer kriminellen Vereinigung’, er habe mit falschen Papieren Waffen und Wohnungen, Polizeiuniformen und Mietgaragen für die Baader-Meinhof Gruppe besorgt.

Wird die Anklage so gefasst, so isoliert sie einen kriminellen Tatbestand von seinem gesamtpolitischen Hintergrund und ignoriert jedwede Handlungsmotivation. Es ist formaljuristisch als ge,recht’ eingerichtet, lediglich einen kriminellen Tataspekt herauszulösen und nicht nach dem Warum fragen zu müssen. Seine drei Verteidiger und Rolf Pohle versuchen durch den ganzen Prozess hindurch zu vermitteln, dass die Frage von Recht und Unrecht zuerst einmal auf der zugrundeliegenden Ebene diskutiert gehört, dass nämlich R. Pohle durch dieses Gericht nach den Normen und Werten und Rechtsvorstellungen beurteilt und auf sie fixiert wird, gegen die er sich ja gerade stellt und die er ablehnt.

Dass dieses ursächliche Problem aber unberührt bleibt und die Diskussion stattdessen auf die ‚Kriminal-Ebene’ verschoben wird, nachzuweisen, ob Rolf Pohle tatsächlich gegen die vom Gericht als absolut und verbindlich akzeptierten Werte verstoßen hat. Und dieser Nachweis wird rein mechanisch-faktitiv geführt: und ist Hauptinhalt des Prozessverfahrens: die Aussagen einzelner Waffenhändler z.B. waren widersprüchlich und das Erinnerungsvermögen einzelner war erschütterbar – doch der Beweis kann juristisch auch als Quantitätsbeweis geführt werden, und da zieht eine ganze Zeugenparade ab.

Durch zahlreiche Anträge der Verteidigung, durch ihre genaue Zeugenbefragung, durch Rolf Pohles eingeschaltete Kommentierungen und Zwischenrufe entstehen aber Bremsungen, – der Prozessverlauf in seiner niederwalzenden einfangenden und mechanischen Formroutine wird pausenweise angehalten und dann kann der Blickwinkel überhaupt erst einmal anders und neu eingestellt werden auf Beweisketten und Zeugen. (Man selbst wacht dann manchmal betäubt auf und hatte das Faktengeleier schon mechanisch mitgemacht.)

Bei diesen Aufstörungen kriegt man dann auch im Detail mit, dass der gesamte, wahre Sachverhalt, dass sich die Wirklichkeit vor diesem Gericht nur ungenügend entfalten kann, nur beschnitten wiedergegeben wird. Ungenügend oder verkürzt präsentieren, heißt aber verfälscht präsentieren, ist die falsche Belichtung bei der Kamera. Und verweist zurück auf die, die den Prozess vorbereitet haben, die Staatsanwaltschaft.

Mensch, gegen die Form, in der da alles zur Sprache kommt, hast Du doch keine Chance:

  • Da nur die Richter das Aktenstudium der Beweismittel haben machen dürfen, darf die erste öffentliche und gründlichste Befragung auch nur von ihnen vorgenommen werden.
  • Der Antrag der Verteidigung auf Angleichung der Zeugenbefragung ans Kreuzverhör durch Staatsanwaltschaft und Verteidigung wird von der Staatsanwaltschaft abgelehnt, indem sie den Richtern ihr volles Vertrauen ausdrückt, das eine Änderung der bisherigen Praxis nicht sinnvoll erscheinen lasse. Dieses Verfahren hätte den Richtern eine nochmalige Sach- und Zeugenprüfung gestattet und ihre durch Aktenvorkenntnis notwendigerweise vorhandene Befangenheit zu neutralisieren geholfen. – Wer hat die Macht, Änderungen einzuführen oder abzulehnen?
  • Es dauert eine Verhandlungswoche, bis die Photomappe, nach der die Identifizierungen vorgenommen werden und worden sind, endlich durchnummeriert ist und damit erst möglich ist, ihre Handhabung mit zu überprüfen.
  • Wer bereitet das Beweismaterial für die Prozesse vor?
  • Erst nach dringlicher, an Widersprüche in den Zeugenaussagen anknüpfender Zeugenbefragung durch die Verteidigung wird deutlich, dass Zeugenaussagen, die im Protokoll der Polizei auftauchen als: „Hat mit großer Sicherheit den Angeklagten wiedererkannt“,
  • vom Zeugen selbst so formuliert waren: „er kann es gewesen sein“ oder „wahrscheinlich war er es“.
  • Wer bestimmt, was ins Protokoll gehört?

usw. usw.

Mensch, gegen die Sprache, in der das da zur Form wird, kannst Du doch kaum an: „Ich halte Ihnen vor …“, „Ich mache sie darauf aufmerksam, dass nach § …“: „Sprechen Sie mir die Eidesformel nach …“: „Ich beantrage, die Zeugen wegen unentschuldigten Fehlens unter Ordnungsstrafe zu nehmen …“ usw., usw.

Doch: wenn auch die ungerechte. und unwahrhaftige Grundlage dieses Prozesses nicht gerecht hergestellt werden kann, weil auf der einen Seite Staatsmacht dazu zwingt, sich nach ihren Gesetzen und Wertvorstellungen verhandeln zu lassen, so gelingt es doch während des Prozesses oft, sich nicht nur verhandeln zu lassen, sondern mitzuverhandeln. Pohle sagt: „Eure Gesetze …“: sagt: „Kann man denn die Leute nicht vorher hören, bevor man Ordnungsstrafen über sie verhängt …”; sagt: „Da ich grundsätzlich gegen Eid bin, beantrage ich, dass kein Zeuge einen Eid abzulegen braucht …“; sagt: „In welchem Paragraphen steht, dass Zuhörer kein Rederecht haben?“; sagt: „Das ist ein Musterbeispiel für einen Prozess unbewusster Meinungsbildung …“ (nach unsicheren Identifizierungen und widersprüchlichen Zeugenaussagen, von denen er annimmt, dass sie möglicherweise durch Presseeinfluss mitgebildet wären) usw. usw. Stellt Antrag um Antrag, lehnt Richter und Gericht einmal ums andere ab und verschafft ihnen ein juristisches Mammutrepetitorium.

Soweit dies eben geht, kommen also schon Löcher in das Unrecht, wird sie durchsichtiger, die Struktur. Doch verlässt man den Justizpalast nach einer solchen Sitzung, so denunzieren das Aufgebot der walkie-talkie-Polizisten und die Leibesvisitation der Besucher diese Ansätze. Das Kriminellenetikett ist vom ersten Tag an da …

„Wie lautet Euer Urteil?“ fragte der König ungefähr zum zehntenmal. „Nein, nein!“ sagte die Königin, „zuerst die Strafe, dann das Urteil!“ „Schluss mit dem Gefasel!“ sagte Alice laut. „Zuerst die Strafe, wo gibts denn sowas?“ „Du hältst den Mund!“ sagte die Königin, krebsrot vor Zorn. „Ich denke nicht daran,“ sagte Alice. „Kopf ab mit ihr,“ schrie die Königin aus Leibeskräften. Niemand rührte sich. „Wer wird sich denn um Euch scheren?“ sagte Alice (denn sie hatte wieder ihre volle Größe erlangt), „ihr seid ja nichts weiter als ein Pack Spielkarten!“
(Aus: Alice’s Abenteuer im Wunderland.)


Blatt. Stadtzeitung für München 9 vom 26. Oktober 1973, 9 f.

Überraschung

Jahr: 1970
Bereich: Militanz

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