Flusslandschaft 1970

Militanz

Das Bayerische Verwaltungsgericht erklärt am 20. Januar 1970 die Nichtzulassung Rolf Pohles zum zweiten juristischen Staatsexamen durch das Justizministerium für rechtswidrig. — Wehrdienstverweigerer Günter Maschke (ehemaliges Mitglied der Subversiven Aktion) wird am 29. Januar von Richter Dr. Albert Weitl zu (?) Monaten Gefängnis ohne Bewährung wegen Fahnenflucht verurteilt. Bereits am 31. Januar 1966 wurde er zu sechs Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Sein Verteidiger, Rechtsreferendar Rolf Pohle, kündigt Berufung an. Unter scharfem Polizeischutz beginnt am 20. Mai die Berufungsverhandlung gegen Maschke, der seit September 1969 in Untersuchungshaft in Landsberg sitzt. Wehrdienstverweigerung aus „Vernunftgründen“ wird nicht anerkannt. Die Berufung Maschkes wird am 27. Mai verworfen. Er muss für sieben Monate ins Gefängnis. Richter Anton Bierl: „Eine Bewährung kommt nicht in Frage. Das Interesse der Aufrechterhaltung der Rechtstreue der Bevölkerung macht die Verbüßung notwendig.“1

Einige Aktivisten sind in die Illegalität abgetaucht. Ehemalige Aktivistinnen und Aktivisten aus der Südfront bauen die Tupamaros München/TM, benannt nach einer Guerillaorganisation in Uruguay auf. (Tupac Amaru war ein Indianerhäuptling, der 1780 eine Revolte gegen die Konquistatoren anführte.) Dabei sind auch Fritz Teufel, Brigitte Mohnhaupt, Rolf Heißler und Irmgard Möller.2

„Kommunen und Wohngemeinschaften bildeten den Rahmen für die Entstehung kollektiver Bewusstseins- und Wahrnehmungsformen. Marianne Enzensberger, die zeitweise mit Rolf Heißler und Brigitte Mohnhaupt die ‚Haifischkommune’ in Haidhausen bewohnte, schildert rückblickend die Intensität des Zusammenlebens: ‚Keiner von uns [hat] einzeln was unternommen […], sondern wir sind immer gemeinsam ins Kino, haben gemeinsam Musik gehört, haben gemeinsam Drogen genommen. Wir hatten kein eigenes Zimmer, keine eigene Kleidung, kein eigenes Geld, nichts gehörte einem einzelnen.“ Insgesamt handelte es sich bei dieser Gruppe nicht um eine abgeschottete Organisation, sondern um einen Personenzusammenhang, der den gegenkulturellen Szenen der Stadt entstammte. Nach dem Zerfall der ‚68er Bewegung’ wurde hier keineswegs nur konspirativ, sondern in offenen Runden über die Legitimität militanter Aktionen diskutiert.“3

Die TM werfen am 23. Februar nachts zwei Molotow-Cocktails ins Wohnzimmer von Richter Weitl. In einem Drohbrief an die Justiz vom 20. Februar, der der Deutschen Presse Agentur übermittelt wird, wird der Justiz der Kampf angesagt und Freiheit für Günter Maschke gefordert. Der Schaden ist allerdings gering. — Der Hausmeister entdeckt im Amtsgericht an der Pacellistraße am 10. März zwei Brandsätze. Die Polizei verdächtigt wieder die TM, setzt eine Belohnung von 2.000 DM aus und durchsucht mehrere Wohngemeinschaften. — Im Zusammenhang mit den vorausgegangenen Brandanschlägen durchsuchen einhundertsechzig Kriminalbeamte und hundert Schutzpolizisten am 8. April zehn Münchner Kommunen und beschlagnahmen Krepp-Papier, Klebestreifen, Packpapier, Benzin, Weckerteile. Sechs Personen werden festgenommen.

16./17. Mai: Über die Pfingstfeiertage werden zwei Anschläge mit Molotow-Cocktails verübt: Am Samstag in der Lehrwerkstätte der Firma Siemens in der Tölzerstraße 35 in Obersendling und darauf im alten Amtsgericht am Mariahilfplatz in der Au. An beiden Orten werden Zettel gefunden mit dem Text: „Feuer unterm Arsch aller Imperialisten verkürzt den langen Marsch. Viva Baader! Free Maschke! Frauenbefreiungsfront. Ulrike und Bobby Seale!“ sowie „Macht kaputt, was euch kaputtmacht!“ — Am 25. Mai fliegen zwei Molotowcocktails gegen die Fassade des bayrischen Landeskriminalamts, ohne Schaden anzurichten. — Am 12. Juni wird Fritz Teufel wegen des Verdachts, an Brandanschlägen gegen das bayerische Landeskriminalamt im Mai beteiligt gewesen zu sein, in Schwabing verhaftet und nach Stadelheim in U-Haft genommen.4 Anfang 1971 beginnt nach 205 Tagen U-Haft der Prozess. Das Urteil lautet auf zwei Jahre Gefängnis. Der Bundesgerichtshof verwirft die Revision.5

Auf das Justizgebäude an der Wagmüllerstraße 12 im Lehel wird am 9. Juli ein Brandanschlag von einem „Kommando Max Hölz“, benannt nach dem Kommunistenführer aus dem Vogtland, verübt.

Ein Bombenattentat auf ein Polizeiheim in der Freiligrathstraße in Milbertshofen am 14. Oktober beschädigt drei Polizeibusse und ein Privatauto schwer. Ein hinterlegtes Flugblatt fordert: „Hände weg von (Horst) Mahler! Freiheit für alle Gefangenen! Kommando Fritz Teufel“. Man verdächtigt die TM. Durch eine detonierte Rohrbombe werden am 17. Oktober ein Polizeiwagen und zwei weitere Privatautos vor dem 8. Revier am Hättmanweg 7 am Hart erheblich beschädigt. Die Polizei vermutet den gleichen Täterkreis wie am 14. Oktober.

1971 lösen sich die TM auf. Einige sitzen im Gefängnis, einige wenden sich anderen ktionen zu, einige schließen sich der RAF an.


1 Siehe „Rolf Pohle – Ein Leben in der ‚bleiernen Zeit’“ von Hartmut Wächtler, „Mein Dein Sein gutes Recht“ über den Prozess gegen Pohle im Herbst 1973 und „justiz in münchen“.

2 Vgl. Marco Carini, Fritz Teufel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Hamburg 2003, 149 f.

3 Michael Sturm: „‚Passt bloß auf!’ Militante Proteste in München (1969 – 1982)“ in Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 129 ff.

4 Vgl. Carini, a.a.O., 151 f.; siehe „Aus einem Brief an eine Freundin“ von Fritz Teufel.

5 Vgl. Carini, a.a.O., 153 ff.