Materialien 1970
Nitsch proben
Meine Erinnerungen ans Orgien-Mysterien-Theater
Schier erschlagen von der gewaltigen Menge an Aktionsrelikten von Hermann Nitschs 6-Tage-
Spiel seines Orgien-Mysterien-Theaters, die in der ehemaligen Klosterkirche in Budapest aus-
gestellt sind – Tragbahren in allen Formen und Größen, Tröge, Tische, Kreuze, blutige Tücher
und Gewänder, Schüttbilder, Hunderte von farbigen Großfotos, Filme auf Großleinwand, auf Monitoren, dem durchdringenden Klanggemisch aus Streichorchester, Blaskapellen, Chören, Glocken, Gongs und Synthesizer –, stehe ich plötzlich vor der blumengeschmückten Stiertrage, und es ist nichts mehr, wie es hier ist, es ist alles, wie es war:
1998. Prinzendorf. Ein heißer Julitag. Im großen Innenhof des Schlosses sind wir mitten in der Arbeit an einer Aktionssequenz, »stellen ein Bild«. Das Schlosstor wird geöffnet. Ein Lastwagen, mit Holzteilen beladen, fährt in die Hofmitte. Wir unterbrechen, umstehen den Lastwagen. End-
lich. So lange erwartet. Die Bauteile für die Stiertrage. Das Herzstück. Drei Männer, Schreiner, die mitgekommen sind, setzen den Tag über die Teile zusammen: massive Holzbalken, auf die eine große Plattform aus Brettern montiert ist. Auf dieser Holzfläche ist eine Rahmenkonstruktion befestigt, an deren Querbalken der Stier aufgehängt werden soll. Gegen Abend ist die Stiertrage montiert. Sie ist exakt dem Modell nachgebaut, dessen Zeichnung wir seit Tagen vor Augen haben. Dabei immer die Frage, ob und wie wir dieses Gerät, vor allem mit dem Stier darauf, tragen können. Kurze Frage an die Schreiner. »Klar. Versuchen Sie es!« Ich rufe die Akteure zusammen. Wir sind ungefähr vierzig. Wir heben die Stiertrage an. Schwer zu greifen, zu heben. Aber es gelingt. Wir gehen mit der Stiertrage durch den Schlosshof. Zuerst vorsichtig, dann immer selbst-
verständlicher. Auf mein Kommando heben wir sie auf Schulterhöhe, setzen sie auf Kommando wieder vorsichtig ab. Klatschen. Sind glücklich. Später bringen die Schreiner an den Seiten der Trägerbalken Griffe an. Und wir versuchen es wieder. Diesmal mit dem ungefähren Gewicht des Stieres, circa siebenhundert Kilo, also zehn Akteuren, auf der Tragefläche. Nach einigen Hebever-
suchen, wichtig wird das gemeinsame Anheben und Absetzen auf Kommando, gelingt auch das. Eine kleine Runde im Innenhof. Dann feiern wir das Gelingen mit Prinzendorfer Wein.
Davon, fällt mir ein, ist hier in Budapest nichts mehr zu sehen: von der Vorarbeit, dem Auspro-
bieren, den vielen Versuchen, dem Einüben, bis jeder Handgriff, jedes Heben, jedes Tragen, jedes Binden, jeder Gang in sich und im Ganzen stimmt. Das soll es auch nicht, in dieser Ausstellung hat das auch keinen Platz. Dennoch und deshalb sollte auch darüber einmal berichtet werden. Die Vorgänge, Ereignisse, Situationen sozusagen im Rohzustand zu beschreiben, entkleidet der mythologischen, psychosozialen und in gewissem Sinn auch der ästhetischen, der künstlerischen Komponenten von Nitschs Arbeit, über die er selbst und andere inzwischen sich in vielen Publikationen geäußert haben, nehme ich mir als Beteiligter, als Regisseur/Realisator des 24-Stunden-Spiels und des 6-Tage-Spiels des Orgien-Mysterien-Theaters das Recht dazu.
In den sechziger Jahren hatte ich in München in kleinen Theatern Regie geführt und gespielt (Albee, Ionesco, Handke, um einige zu nennen), hatte dann aber, um aus dem herkömmlichen »Theatertheater« herauszukommen, eine eigene Gruppe gegründet, die in theaterfremden Räumen – Galerien, leeren Häusern, Kiesgruben, Ateliers etc. – Sprach- und Körperexperimente machte, Titel: »Vorgänge – Vorstellungen«. Aus diesen, damals schon »Aktionen« genannten Aufführun-
gen, entstand die Idee, für diese Art des Theatralischen einen Vorführraum mit allen (auch technischen) Möglichkeiten zu schaffen. Eine Gelegenheit für Happenings, Events, Installationen und Aktionen. Für Künstler aus Europa, ja, aus der ganzen Welt. Zusammen mit dem Münchner Kunstmaler Peter Nemetschek und Eva Madelung als Mäzenin gründeten wir in einer »kunstlosen« Gegend Münchens den Aktionsraum 1, eine kahle, ehemalige Fabrikhalle.
Anfang 1970 kam ein kleiner, ganz in schwarz gekleideter Mann, der eine große Aktentasche mit sich trug, in den Aktionsraum 1. Er hatte etwas von einem gut genährten Landpfarrer, und ich fühlte mich auf einen Schlag wieder als Ministrant und Konviktorist, der ich einmal gewesen war. Er schaute sich in der Halle um, nickte dann und sagte: »Jo, do tat i gern wos mochn!« Dann stellte er sich vor: Nitsch. Aus seiner großen Aktentasche zog er Fotos, die Ausschnitte aus einigen Aktionen seines »Orgien-Mysterien-Theaters« zeigten. Das war es.
Wir sagten sofort zu. Dazu war der Aktionsraum 1 da. Dafür war er gedacht. Was wir uns mit
dieser Zusage eingehandelt hatten, wurde uns erst in der Vorarbeit bewusst. Keine Aktion im Aktionsraum 1 war mit so viel Arbeitsaufwand verbunden wie das »7. Abreaktionsspiel« von Nitsch. Allein die Schwierigkeiten mit dem Amt für öffentliche Ordnung (Anträge stellen, Unterlagen besorgen, Rechtsanwälte und Gutachter bestellen), das die Aktion letztendlich dann doch mit großem Polizeiaufwand verbot – vierzehn Mannschaftswagen, eine halbe Hundertschaft Polizisten, sperrten am Abend der Aufführung die Zugänge zum Aktionsraum ab –, die Material-
beschaffung für die Aktion (zum Beispiel Wannen, Nesselbahnen, Kanister, drei große Holzkreuze, hundert Liter Blut, Hirn, Innereien, Bettzeug, Matratzen, Plastikpenis, Skalpelle, zwei Lämmer), Leute für Schreichor und Lärmorchester finden (meine Beziehung zu den kleinen Theatern kam mir da zugute), eine Beatband, Helfer.
Ich war zwar nur Mitorganisator, aber mir wurde damals schon bewusst, was es heißt, mit Nitsch für eine seiner Aktionen zu arbeiten. Nitsch selbst brachte Akteure wie Modelle mit (Heinz Cibulka, Günter Brus, Hanel Koeck, Ferdinand Kaltenbaeck) und die Leute für die »Blutküche«, die dafür zu sorgen hatten, dass die entsprechenden Materialien zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Nitsch führte auch Regie und war erster Akteur. Außerdem studierte er den Schreichor und das Lärmorchester nach seiner Partitur ein und brachte dem Chef der Beatband seine Zeichen-
sprache für das Dirigat bei, das dieser dann während der Aktion von einem kleinen Hochsitz aus machte. Der Aktionsraum 1 war von Nitsch in Aktionszonen oder Aktionsfelder eingeteilt worden, die durch große weiße Tücher markiert waren. Für jede Aktionszone gab es Partiturblätter mit dem jeweiligen Ablauf und der Notierung für die musikalischen Vorgänge. Diese Form der Notierung hatte Nitsch für seine Arbeit entwickelt.
Die für den 27. Februar 1970 per Einladung, Presse und Plakat (wir hatten, wie immer, wild plakatiert, am Stachus gab es einen Menschenauflauf, und die Polizei entfernte die Plakate) angekündigte Aktion »7. Abreaktionsspiel« fand am Morgen des 28. Februar als geschlossene Veranstaltung statt. Nach der Aktion mussten alle »Aktionsüberreste« sofort und schnellstens entsorgt werden, denn die Polizei wartete schon.
Es war auch der Umstände wegen eine der intensivsten und wichtigsten Aktionen im Aktionsraum 1, und machte diesen auf einen Schlag einer breiten Öffentlichkeit und vor allem in der Kunstszene bekannt.
Hatte das 7. Abreaktionsspiel etwas mehr als zwei Stunden gedauert, so wollte Nitsch nun in Richtung auf das große, schon Anfang der sechziger Jahre konzipierte endgültige 6-Tage-Spiel seines Orgien-Mysterien-Theaters hinarbeiten. Zwischenstation sollte ein Tag daraus sein, das 24-Stunden-Spiel. Zwei Ereignisse beförderten dieses Vorhaben. Durch eine Kette glücklicher Umstände, unter anderem eine Erbschaft seiner Frau Beate, konnte Nitsch das Schloss Prinzendorf an der Zaya kaufen. Ein ziemlich heruntergekommenes Barockschloss inmitten der Landschaft, die Nitsch kannte und liebte, das Weinviertel, sechzig Kilometer vor Wien nahe der tschechischen Grenze.
»mein theater ist ein theater der landschaft, ist von der landschaft ableitbar. sanfte hügel, ein trockenes, sonnenreiches kontinentales klima mit heissen sommern begünstigen den weinbau. arme bauern, früher leibeigene, die gerade genug hatten, um sich selbst zu ernähren, bauten sich zum überfluss wein an, tauschten ihren fleiss gegen rausch und dionysische festlichkeit. obwohl immer von eher armen leuten bewohnt, handelt es sich im fall des weinviertels um eine reiche, fruchtbare landschaft, WO ALLE FRÜCHTE DES FELDES, OBST UND WEIN üppigst gedeihen, eigentlich eine dionysische gegend. warum soll dionysos nur ein griechisches ereignis sein? sein prinzip, das er verkörpert, ist überall gegenwärtig, wo das dasein, das leben durch die frucht des weines zum rausch gesteigert wird.« Schreibt Nitsch unter der Nummer 245 in seinem Buch Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. Zweiter Versuch.
Ein Barockschloss mit großem Innenhof, Park, Wiesen, Feldern und eigenen Weingärten in dieser Landschaft: ideal für sein O.M. Theater, für die Verwirklichung des 6-Tage-Spiels.
Zum anderen war 1973 der Verein zur Förderung des O.M. Theaters gegründet worden, dessen Hauptaufgabe es war, organisatorisch und vor allem finanziell Hilfe zu leisten für die Aufführun-
gen. Zu Pfingsten desselben Jahres hatte Nitsch nach Prinzendorf eingeladen an den Ort, an dem das 6-Tage-Spiel stattfinden sollte. In seiner Pfingstrede sagte er Sätze, die für mich später als Regisseur/Realisator, besonders wenn die Probenarbeit sehr an den Kräften zehrte, wie tröstliche Überschriften über der Arbeit mit ihm stehen sollten: »liebe freunde, was will ich wirklich mit meiner arbeit? ich will, dass das drama zum fest erweitert wird. ich will das schönste fest der menschheit entwerfen, das keinen anderen vorwand als das leben selbst hat.«
Als Gründungsmitglied war ich fast immer bei den Zusammenkünften des Vereins, und als Nitsch mich fragte, ob ich Regie machen wolle beim 24-Stunden-Spiel, dem »Mustertag« für das große 6-Tage-Spiel, sagte ich sofort zu. Vor allem, da ich wusste, wie der »Theaterraum«, der Ort für das Spiel, aussah, und was sich da ereignen sollte. Die Vorbereitungen begannen schon 1974 mit dem Anwerben der Akteure. Hauptsächlich Kunststudenten meldeten sich. Aus München, Frankfurt, Wien, Salzburg, aber auch aus Frankreich, der Schweiz und den USA kamen Anmeldungen. Die Münchner Gruppe traf sich des öfteren bei mir. Nitsch erklärte, führte ein. Wir zeigten Filme und Fotos seiner Aktionen, hörten seine Musik. Wir lernten uns kennen.
Das 24-Stunden-Spiel war geplant vom Sonnenaufgang des 26. Juli bis zum Sonnenaufgang des 27. Juli 1975. Es sollte Nitschs fünfzigste Aktion werden. Zwei Wochen vor Beginn des Spiels trafen die Akteure in Prinzendorf ein. Sie wurden in den Schlossgebäuden untergebracht. Mit meinem Assistenten Hans Schork, einem ehemaligen Vermessungsingenieur, der fotografierte und kunst-
volle Lichtkästen baute, war ich schon dort. Nitsch hatte uns in sein großes Büro, einen der schönsten Räume im Schloss, einquartiert. Wir schliefen und arbeiteten dort. Ich hatte eine Videoanlage (Kamera, Recorder, Monitor) mitgebracht, eine Polaroidkamera und ein Tonband-
gerät. Hans Schork hatte Fotoapparate dabei. Unser Wohn- und Arbeitsraum wurde zur »Hirn- und Herzkammer des Spiels«, wie Nitsch sagte. Hier saßen wir drei jeden Morgen ab 7 Uhr und arbeiteten an der Partitur, schrieben um oder neu, denn große Teile der Partitur entstanden erst während der Proben, zeichneten die Aktionsabläufe in die vielfach kopierten Grundpläne des Schlossareals ein – einen ehemaligen Vermessungsingenieur als Assistenten zu haben: was für ein Glück! –, schrieben die Probenpläne für den jeweils nächsten Tag, zeigten die während der Proben gemachten Aufzeichnungen am Spätnachmittag den Akteuren, korrigierten auf Grund der Auf-
zeichnungen und suchten nach Alternativen – hier schrieben wir drei bis spät in die Nacht weiter am Spiel, besprachen die Schwierigkeiten, die eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Menschen bei einer solchen für viele neuen, ungewohnten Arbeit macht und hat.
Schloss Prinzendorf liegt abseits. Im Umkreis nur einige kleine Bauerndörfer. Mehr als sechzig meist junge Leute, Kunststudenten, Künstler, Musiker, mussten nicht nur beschäftigt, sondern auch unterhalten werden. Außer der täglichen festen Probenzeit von 10 Uhr bis 12.30 und von 15 bis 18 Uhr, die tatsächlich eisern eingehalten wurde über die ganze Probenzeit hin, gab es auch noch für die festen Essenszeiten einen in Gruppen eingeteilten Küchendienst mit Auftragen, Abtragen, Geschirrspülen, Aufräumen. Die Freizeit wurde oft neben Fußballspielen dazu genutzt, Filme anzuschauen, Vorträge anzuhören: Zum Beispiel hielt Peter Kubelka, der während des 24-Stunden-Spiels mit Helfern für alle kochte, einen Vortrag über Kochkunst und Essen, ich sprach über den Aktionsraum 1, Nitsch über den Wiener Aktionismus. Natürlich gab es für die Akteure am Abend unbegrenzt den guten ungeschwefelten und ungezuckerten Prinzendorfer Wein, der, das war ein von allen akzeptiertes Gebot, erst bei Anbruch der Dunkelheit getrunken werden durfte, also nach den Proben. Und es wurde exzessiv getrunken. Trotzdem, während der ganzen Probenzeit gab es nie Ausfälle. Und es kam zu keinem einzigen Unfall. Durch das Zusammensein bei Tag und Nacht entstand eine Gemeinschaft, ja, sogar eine »verschworene« Gemeinschaft – Nitsch sprach später von einer »klösterlichen Gemeinschaft« –, die nur ein Ziel hatte: das 24-Stunden-Spiel so gut wie möglich stattfinden zu lassen.
Ganz zu Beginn der Probenzeit, beim ersten Zusammentreffen, teilte Nitsch die Akteure in »aktive« und »passive« ein. Ein aktiver Akteur ist einer, der etwas tut, ein passiver Akteur ist einer, mit dem etwas getan wird. Die passiven Akteure, Männer wie Frauen, wurden von Nitsch nach ihrer körperlichen Beschaffenheit ausgewählt. Da sie meist nackt sind in den Aktionen, sollten es schöne, ansehnliche Körper sein. Oft bin ich gefragt worden, ob Nitsch die Modelle »zwingen« müsse. Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten fühlen sich auserwählt, oder, wie mir eine sehr schöne junge Frau sagte: »Damit gehe ich in die Kunstgeschichte ein.« Akteure haben sogar, während der Proben zum großen 6- Tage-Spiel, versucht, mich zu bestechen, um als Modell ins Aktionsgeschehen gebracht zu werden. Sowohl Männer wie Frauen. »Oba Gulden, de is doch z’schiach, na, wirklich net«: Nitschs Satz habe ich noch im Ohr.
Zurück zum 24-Stunden-Spiel: Trotz der über fünfzig Mitwirkenden wären es, aufgeteilt in (Lärm-)Orchester und Akteure, zu wenige gewesen. Ich hatte die Idee, alle Beteiligten im Orchester mitwirken zu lassen. Grundprinzip war, dass jeder Akteur für alles einsetzbar sein musste, dass er notfalls alle Funktionen übernehmen konnte. Das Orchester war die Basis, der Grundkörper. Aus ihm rekrutierten sich die Akteure, aktive wie passive. Wurde ein Mitwirkender in der Aktion nicht mehr benötigt, war er sofort wieder Orchestermitglied. Dieses Haushalten mit den Kräften machte einen präzisen Aktionsablauf, zu dem die jeweils live dazu gemachte Musik gehörte, erst möglich.
»die musiker haben mit ihren instrumenten nur lärm zu erzeugen und dabei die angegebene intensität des lärmes, die mit der intensität des geschehens korrespondiert, zu beachten. der einzelne musiker darf keine anleihen aus vergangener musik nehmen. deshalb bringen berufs-
musiker wenig verständnis und voraussetzungen für meine musik mit. sie verwechseln ihr spiel
mit improvisieren. am liebsten verwende ich laien, oder spieler, welche das instrument, das sie benützen, nicht beherrschen. die unkenntnis des instrumentes lässt vollkommen neue, nie gehörte töne entstehen, die aus allen schemen ausbrechen«, schreibt Nitsch zur Musik des O.M. Theaters im Vorwort zur Partitur des 24-Stunden-Spiels.
Die Musikinstrumente, nur Blas- und Schlaginstrumente, wurden teils von den Akteuren mit-
gebracht, teils ausgeliehen oder als gebrauchte erworben. Im Orchester waren lediglich zwei Berufsmusiker, der Fluxuskünstler Joe Jones aus New York und Emmerich Hörmann, ein Trommler aus München. Bei den Proben hatte es sich eingespielt, dass der Vormittag für das Einüben der Aktionsvorgänge und Abläufe von mir bestritten wurde, eine oft harte körperliche Arbeit, und die Nachmittagsproben für die Musik, die Nitsch hielt. Ich sehe ihn vor mir, wie er das Lärmorchester dirigierte: Fingerzeige, geballte Fäuste, rudernde Arme, Abwinken.
Aber es war nichts Zufälliges in dieser Musik. Sie war festgeschrieben. Notiert. »für die niederschrift der partitur wird millimeterpapier benützt. jeder millimeter bedeutet eine sekunde spieldauer. die spieldauer der instrumente ist durch waagerechte striche aufgezeichnet. es gibt drei verschiedene lärmstufen (sie sind über den waagerechten strichen eingetragen)«, schreibt Nitsch in Die Musik des O. M. Theaters.
Bei den Vormittagsproben ging es allerdings nicht nur um Aktionsabläufe und Vorgänge, sondern auch um das Einrichten und Herrichten der Schauplätze für die Aktionen, die Nitsch sehr genau in seinen Vorarbeiten und Plänen zum Orgien-Mysterien-Theater für eben diese Lokalität beschrie-
ben und in Plänen vorgezeichnet hatte. Zwar gab es auch hier Innenräume wie die Stallungen, den Schüttboden des Schlosses, die Schlosskapelle und die tief unter der Erde liegenden Kellergewölbe, aber vor allem Außenräume: den großen Innenhof des Schlosses, die lange Kastanienallee durch den Schlosspark, die Wege durch die Weinberge, Wiesen und Felder zu den Kellergassen und Presshäusern in der Umgebung.
Nicht wie in München in einer geschlossenen Halle mit Aktionszonen – die meisten Vorgänge
und Ereignisse sollten unter freiem Himmel stattfinden. Freilufttheater, Naturtheater mit allen Unwägbarkeiten. Kein Theaterhimmel mit künstlichem Licht – Sonne, Mond und Sterne waren echt, aber auch die brütende, stechende Hochsommerhitze, der Wind und vor allem der Regen bis zum Unwetter mit Sturm und Hagel. Einerseits gab es durch die Vielzahl der Räume kein Problem mit dem Verteilen und Zuteilen der einzelnen Arbeitsstätten wie Schreinerei, Schneiderei, Umklei-
deräume, Toiletten, Duschen (nach jeder Blutaktion müssen die Akteure unter die Duschen und neu eingekleidet werden), die Blutküche: Ein besonderes Problem bereitete das Frischhalten der organischen Aktionsmaterialien wie Innereien, Blut und die Tierkadaver; andererseits sollten die einzelnen Arbeitsstätten ihrer Funktion nach am rechten Platz sein. Die einzelnen Aktionsstät-
ten und die Abläufe dort hatte Nitsch ungefähr festgelegt. In den frühmorgendlichen und bis spät in die Nacht dauernden Partitur- und Regiebesprechungen zwischen Nitsch, meinem Assistenten und mir wurde dann präzisiert, auch umgestellt oder neu entworfen.
Anders als im Aktionsraum 1 hatten hier die Akteure von einem Aktionsort zum anderen teilweise größere Strecken zurückzulegen. Diese Gänge durften nicht ein ungeordnetes Hingelangen und Weggehen sein, sie sollten eine Form bekommen. In einer katholischen Umgebung aufgewachsen zu sein, half mir da ungemein. Ich sah die vielen Prozessionen, an denen ich teilgenommen hatte, vor mir: Fronleichnams-, Beerdigungs- und Flurprozessionen, erinnerte mich an ihren Aufbau und wie sie sich von einem Ort zum anderen – fast immer zu einer bestimmten Musik – bewegten. Wir installierten die Videokamera in einer Luke auf dem Schlossdach und zeichneten die Gänge der Akteure auf, schauten sie uns an und korrigierten zuerst auf Papier, dann in den Proben: bis sich der Bildeindruck eines konzentrierten, dennoch gelassenen Gehens in den »großen Schauplatz« harmonisch fügte, die Prozession ein Eigenleben, eine Eigenständigkeit bekam, die auch in sich stimmte.
Eine solche Probe, die »Lichtprobe«, die wir nachts durchführten, um den Effekt von normalen und Magnesiumfackeln zu testen, und die in den tiefen Kellergewölben begann und in einer Prozession mit Fackeln durch die Kastanienallee des Schlossparks ging, war von einer so ein-
drucksvollen Stimmigkeit, dass Nitsch diese Probe zu einer eigenständigen Aktion erklärte und
ihr eine Nummer gab in der Liste seiner Aktionen im Werkverzeichnis.
Waren die Prozessionen sozusagen Vorgänge en gros, tatsächlich raumgreifend und die großen Räume gestaltend, so musste an den einzelnen Aktionsorten, den direkten Schauplätzen der Aktion, en detail gearbeitet werden; es musste festgelegt, aufnotiert werden, wer was dort macht im jeweiligen Handlungsablauf. Wie viele aktive Akteure, was sie dort zu tun haben, welche passiven Akteure, was mit ihnen dort getan wird. Welche nichtorganischen Materialien – Geräte wie Tragbahren, Kreuze, Tücher, Seile -, welche organischen Materialien wie Blut, Innereien, Tierkadaver dort, nach Partitur, Verwendung finden sollten. Nach dem Aufteilen der Tätigkeiten wurden diese eingeübt. Handhabungen wie das gemeinsame Anheben der Tragbahren mit darauf befindlichem Modell auf Hüfthöhe, Schulterhöhe und über den Kopf – und dann damit gehen. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es ist, hoch über den Köpfen auf einem Holzkreuz liegend, zwar angebunden, aber dennoch sehr freischwebend, getragen zu werden, musste jeder Akteur während der Proben auch Modell sein. Ein Gespür für Gewicht, Balance, gemeinschaftliche Bewegungen musste ihm in Fleisch und Blut übergehen. Unzählige kleine Handgriffe mussten immer wieder geübt werden. Allein das richtige Anbinden, Festbinden, Fesseln der Modelle mit Seilen ist eine Kunst für sich, die später, in der Aktion, nicht stümperhaft aussehen darf, sondern gekonnt sein muss, in den Ablauf eingepasst.
Dass in Nitschs Aktionen nichts zufällig ist, zeigte sich auch in den Liegeproben der Modelle auf den Bahren. In vielen Vorzeichnungen hatte Nitsch die genauen Positionen der Modelle auf den einzelnen Bahren festgelegt. Da gab es zum Beispiel die »Schiele-Position«, nachgestellt einem Bild von Egon Schiele. Bei den Proben wurden die Haltungen der Modelle auf Polaroidfotos festgehalten und nummeriert für das spätere selbständige Einüben. Trainer und Mannschaft, diese Begriffe aus dem Sport treffen ziemlich gut, was die Vorarbeit zum 24-Stunden-Spiel und meine Rolle dabei war. Direkt vom Sport übernommen und in die Nitsch-Aktion als wichtiges Element eingebaut habe ich 1998 in das 6-Tage-Spiel die »Rugby-Form«: das »Gedränge«, das Drücken und Schieben, für Ungeübte nicht ungefährlich, aber in Prinzendorf sehr beliebt, weil der Zu-
sammenhalt, das Gruppengefühl, die Kraft, die körperliche Nähe mit ihrer Erotik, die in einer solchen Form steckt und von einer solchen Form ausstrahlt, Gemeinschaft und Zusammengehörig-
keit bilden kann. Diese dem Rugby abgeschaute Form wurde in verschiedenen Aktionsteilen benutzt. Als es auf der Kippe stand, ob die Polizei beim 6-Tage-Spiel am fünften Tag das Schloss-
areal räumen würde und ich die Akteure in einer schnell einberufenen Generalversammlung fragte, ob sie bereit wären, sich dem zu widersetzen, kam sofort der Vorschlag, beim Eingriff der Polizei die »Rugby-Position« einzunehmen, also den »Kraftkreis« zu machen, da der kaum zu sprengen sei.
Anders als 1970, als beim 7. Abreaktionsspiel im Aktionsraum 1 in München die Polizei das Viertel abriegelte und so eine öffentliche Veranstaltung verhindern konnte; und anders als 1998, als ein Großaufgebot Polizei unsere Probenarbeit vor von der Boulevardpresse Fanatisierten aus den verschiedensten Lagern – Tierschützer, religiöse Fundamentalisten, Neugierige und wirklich Verrückte – schützen musste, aber nur, auf den Augenblick wartete, dass von Wien aus Kunde käme, das Verbot sei rechtskräftig und sie könnten eingreifen – anders als damals verliefen die Proben zum 24-Stunden-Spiel im Sommer 1975 in einer ruhigen, friedlichen, fast klösterlichen Atmosphäre. Kleine Widrigkeiten wie die vielen Wespenstiche ließen sich mit frisch geschälten Zwiebeln leicht behandeln. Auch einen Unfall gab es, eher anekdotisch: Ein Dorfbewohner hatte sich über die Schlossmauer gewagt, um von den »Sexorgien oben im Schloss« zu berichten, saß aber unglücklicherweise im Schlossgraben dort, wo aus der Schlossküche die Köchin eine ange-
brannte kochendheiße Suppe ausgoss. Im Krankenhaus erzählte er von Hexen und Pech und Schwefel.
Das 24-Stunden-Spiel im Sommer 1975 war ein, wie Nitsch sagte, »Mustertag« aus dem 6-Tage-Spiel, ein Ausprobieren, ob seine Vorstellung umsetzbar, seine Partitur auch kräfte- und zeitmäßig zu verwirklichen sei: Und es war mit allen kleinen und größeren Fehlern, wie es Experimente nun einmal an sich haben, gelungen und machte ihm Mut, im Sommer 1998 sein endgültiges, das große, das 6-Tage-Spiel zu wagen.
Dass es nicht das 24-Stunden-Spiel mal sechs werden würde, war schon in der über Jahre dauernden Vorbereitung klar. Aber die Ausmaße, die es dann tatsächlich annahm, hatte niemand vorausgesehen. Das Umarbeiten der 1.500 Seiten der Partirur, die noch während der Proben in drei Bänden druckfrisch aus einer Wiener Druckerei kam, in ein ausführbares Regiebuch, das ich mit Hans Schork und einer Regieassistentin in nächtelanger Arbeit machte – allein die Skizzen für die Prozessionen und Aufbauten der einzelnen Aktionen füllten ein Buch –, ging oft an die Grenze. Die Musik, beim 24-Stunden-Spiel noch von allen Akteuren gemacht, hatte Nitsch inzwischen zu einer gewaltigen Komposition entwickelt, die unter einem Dirigenten von einem professionellen Orchester einstudiert worden war. Hinzu kamen zwei Blaskapellen, ein Team für die elektronische Musik, riesige chinesische Gongs, die neben einem großen Glockengeläut im Schlosshof aufgehängt waren und von Musikern bedient wurden.
Akteure, aktive wie passive, waren ungefähr doppelt so viele da wie 1975. Sie waren nur Akteure und nur in den Aktionen beschäftigt. Das verlangte schon die ungeheure Anzahl an Aktionen, die im Ablauf der sechs Tage und Nächte zu bewältigen waren. Da mit der gesamten Gruppe auf einmal, auch mit Megafon und Trillerpfeife, nicht gearbeitet werden konnte, hatte ich die Idee,
die Akteure in Aktionsgruppen einzuteilen, Gruppenverantwortliche zu wählen und diesen die Organisation ihrer Gruppe für die Trainingsarbeit und die Aktionen der sechs Tage zu übertragen. Die Verantwortlichen waren bei den täglichen Regiebesprechungen dabei und arbeiteten dann selbständig mit ihren Gruppen die jeweiligen Aktionsabläufe durch.
Im Lauf der Probenarbeit wurden dann die einzelnen Gruppen mit den ihnen zugeteilten Funktionen regelrecht »zusammengesetzt« für das 6-Tage-Spiel. Für Küche, Schneiderei/Kleider-
kammer mit Hunderten von weißen Aktionsanzügen – Jacken, Hosen und Turnschuhen, die angepasst werden mussten; für Wäscherei, Blutküche – es wäre eine lange Passage wert, was von den dort Beschäftigten geleistet werden sollte: Tausende Liter von Blut, Innereien, Kadaver, die gekühlt werden mussten und nach Plan zur rechten Zeit zu den einzelnen Aktionen zu transpor-
tieren waren; für die Schreinerei, die Tragbahren jeglicher Art herzustellen hatte, die Duftapo-
theke, ein Raum mit einer Unzahl an Duftstoffen und Duftplänen nach Vorgaben der Partitur.
Dort würde man sich während der Aktionen unter Anleitung bedienen können.
Nicht zuletzt für die Post- und Pressestelle, wo die täglich eingehenden Presseartikel, anonymen Hassbriefe und Unterstützerpost an ein schwarzes Brett angeschlagen wurden, das sich während der Probenzeit zu einer riesigen Wandzeitung auswuchs – für alle diese Arbeiten gab es ungezählte Helfer, die sich äußerst ernsthaft auf ihre Aufgaben vorbereiten mussten, wissend, wie wichtig ihre Arbeit für das 6-Tage-Spiel war. Dieses Bewusstsein allen Spielteilnehmern zu vermitteln, sie immer wieder zu motivieren, ihnen Tag für Tag der Probenzeit klarzumachen, dass sie an einem der größten und umfassendsten Ereignisse der (neueren) Kunstgeschichte, einem so noch nie aufgeführten Gesamtkunstwerk mitarbeiteten, war auch Teil meiner Arbeit als Nitsch-Regisseur. Obwohl ich mit Nitsch vorbereitend an den Aktionen mitgearbeitet hatte, war ich nie Interpret, sondern immer eher Realisator, Verwirklicher, Umsetzer, der Nitschs Worte im wahrsten Sinn in Fleisch und Blut, Situationen und Handlungen und Stimmungen verwandelte.
Aktionen kann man nur in Aktionen erleben: Wie oft habe ich diesen Satz während der Probentage den Akteuren gesagt, aber in dieser Ausstellung in Budapest, umgeben von unzähligen Aktions-
relikten des 6-Tage-Spiels, scheint dieser Grundsatz für mich so nicht mehr zu stimmen. Alle diese Gerätschaften, diese Werkzeuge, Kleider, Tücher, Gewänder, in den Aktionen benutzt, blutbefleckt, gezeichnet, scheinen eine Aura zu haben, ein Eigenleben …
Und während ich die blumengeschmückte Stiertrage anschaue, bin ich an einem Hochsommer-
abend auf einem Weg durch goldgelbe Kornfelder, dem Feldweg vom Schloss zu den Weinkellern der »Eselstadt«, gehe neben der Stiertrage her, die von vielen weißgekleideten Akteuren getragen wird und auf der ein nackter Mann steht, eine übergroße Monstranz in Händen. Die Stiertrage ist Mitte einer Prozession von vielen festlich gekleideten Menschen, eingefasst von der Musik zweier Kapellen, die das Gehen leicht macht im warmen Licht der Spätabendsonne, während auf der anderen Seite der Mond schon zu sehen ist. Es fallen die Mühen und Anstrengungen der Proben-
arbeit ab, und für diesen Augenblick wird Nitschs Satz für mich wahr: »ich will das schönste fest der menschheit entwerfen, das keinen anderen vorwand als das leben selbst hat.«
Alfred Gulden
Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 5/2010, 388 ff.