Flusslandschaft 1970
Zensur
Für den 27. Februar ist im Aktionsraum 1 das „7. Abreaktionsspiel“ von Hermann Nitsch geplant.1 Das Amt für öffentliche Ordnung lehnt den Antrag auf Genehmigung ab. „Der Verein ‚Freunde des Aktionsraums 1’ wird ordnungsgemäß gegründet (mit Satzung). Einige Polizeiwagen stehen bereits in der Waltherstraße in der Isarvorstadt. Die Akteure greifen zum Abendessen. Etwa um 19 Uhr 30 riegelt die Polizei die Hofeinfahrt ab. Zunächst wird das Tor verschlossen, später werden noch Sei-
le davor gespannt. Auch die Akteure werden nicht mehr eingelassen, Presse erst nach halbstündi-
ger Verhandlung. Rechtsanwalt Eggert Langmann und die Veranstalter bemühen sich um die Öff-
nung des Tores, um die Akteure, die teilweise leicht gekleidet sind, in den Aktionsraum zu bringen und versuchen, einen Verantwortlichen von der Polizei zu finden. Pfeiffer (Polizei-Reviermeister) schlägt Austausch von bereits im A 1 befindlichen Besuchern vor gegen Akteure oder die Veranstal-
tung nur für Fernsehen und Presse durchzuführen. Beides wird abgelehnt. Es sind nun eine halbe Hundertschaft Polizisten, vierzehn Polizeiwagen und mehr als zweihundert Leute in der Walther-
straße. Polizei steht auf dem Dach und bewacht die anliegenden Mauern. Nitsch will die Aktion durchführen. Die Polizei macht uns unter Androhung unmittelbarer Gewalt klar, dass sie vom Kul-
tusministerium oä Order hat, die Veranstaltung auf alle Fälle zu verhindern. Sie wird das Abreak-
tionsspiel bereits in den ersten Minuten abbrechen. Rücksprache Nitsch – Langmann – A 1. Gegen 22 Uhr sagen wir das 7. Abreaktionsspiel endgültig ab. Nitsch geht mit den Akteuren und Publi-
kum in die ‚Eule’. Polizei kontrolliert noch bis 2 Uhr morgens. Als geschlossene Veranstaltung findet das 7. Abreaktionsspiel am 28. Februar 1970 gegen 12 Uhr statt. Fernsehen, Presse und ca. vierzig Besucher sind da. Brus beginnt mit einer 5-Minuten-Aktion, die das Publikum stark trifft. Auf diese Aktion hin und die am Abend vorher erlebte Auseinandersetzung mit der Polizei ist das Publikum sehr gespannt, konzentriert. Ungefähr fünfzig Leute sind da. Davon: direkt Beteiligte – zehn Leute Lärmorchester, Schreichor, fünf Leute Beatband, drei Leute in der Blutküche, fünf Leute als Mitakteure. Dann sind noch Filmer, Tonleute und Fotografen da. Nitsch führt seine Ak-
tion ungefähr nach seiner Partitur durch. Das Publikum (vor allem Filmer und Fotografen) folgt Nitsch von einem Aktionsfeld zum anderen, weicht beim ‚Anschütten’ aber zurück. Beim Anschüt-
ten des Lammes beteiligen sich zaghaft etwa 5 Personen. Als die Frau am Kreuz Blut auf das Publi-
kum spuckt, rücken die Leute sofort zurück. Bei der Balgerei am Schluss, als das Blut überall am Boden steht; drängt sich das Publikum ganz in die Ecke. Gerade als die Aktion vorbei ist, will Pfeiffer (Revier-Polizeimeister) mit einer Karte der Freunde des Aktionsraum einen Einlass, ohne in die Liste. eingetragen zu sein. Er wird nicht eingelassen. Nach der Aktion bringt Nemetschek die Akteure sofort weg. Auch Filmmaterial und Fotomaterial wird sofort in Sicherheit gebracht. Das Säubern und Aufräumen dauert bis 22 Uhr. Am Abend ist Lamm-Essen bei Nitsch in Ascholding. Nach Besprechung mit Rechtsanwalt Langmann wird beschlossen, einen Prozess gegen die Lan-
deshauptstadt München zu führen.“2
Am 6., 7. und 8. März bringen Paul und Limpe Fuchs ihren „Anima-Sound“ im Aktionsraum 1 zu Gehör. Beide spielen mit entblößtem Oberkörper. Man zählt zweihundertfünfzig Besucher sowie zwei Beamte des Amts für öffentliche Ordnung und einen Beamten des Stadtsteueramts.
Am 20. Oktober können zehn Millionen Bundesbürger kurz vor Mitternacht die NDR-Reportage „Obszönität als Gesellschaftskritik?“ mit koitierenden Paaren, homosexuellen Küssen und Grup-
pensex im Fernsehen genießen. „Für die Deutschland-Stiftung erhob das geschäftsführende Vor-
standsmitglied Kurt Ziesel gleich gegen alle ARD-Intendanten Klage, weil ‚der Bayerische Rund-
funk nicht mehr den Charakter einer Anstalt des öffentlichen Rechts, sondern durch diese Sendung den Charakter eines öffentlichen Bordells angenommen’ habe. Der ‚Pressedienst der Heimatver-
triebenen’ sprach von ‚fortschreitender Zersetzung der öffentlichen Moral’ und drohte: ‚Sollte die-
ser Stimme des Gewissens kein Gehör geschenkt werden, dann werden sich Hunderttausende zur Selbsthilfe zusammentun.’ … Münchens Intendant Wallenreiter gab zu, dass sein Haus diesmal ‚nicht aufmerksam genug gewesen’ sei. Er wies seinen Fernsehdirektor Clemens Münster an, ‚Zweifelsfälle in Zukunft rechtzeitig zu erkennen und zu prüfen, ob die Ausstrahlung durch den Bayerischen Rundfunk möglich ist’.“3
Hannelore Messow/Eckart Spoo: „… Im Jahr 1970 erschien in der Münchner Boulevardzeitung tz ein Bericht über eine Gerichtsverhandlung, in der der Besitzer des C&C-Großmarktes Jost Hurler wegen Nötigung von Angestellten verurteilt worden war. Schon dieser Bericht wurde wesentlich kleiner als ursprünglich geplant gebracht, nachdem Strauß-Freund Hurler massiv vorstellig ge-
worden war (der CSU-Vorsitzende, so erfuhr die Redaktion, sei an dem Unternehmen beteiligt). Doch da seine Wünsche nach einer völligen Unterdrückung des Berichts nicht erfüllt worden wa-
ren, ließ Hurler dem Blatt die Anzeigen sperren. Als ein Jahr später die Berufungsverhandlung stattfand, brachte die tz keine Zeile darüber. – Als Lehrlinge der Firma Siemens auf einer Frei-
sprechungsfeier in München Mißstände in ihrer Ausbildung öffentlich bekanntgaben, griffen die Anzeigenabteilungen von zwei als liberal geltenden Münchner Tageszeitungen massiv in die Be-
richterstattung ein. In der Abendzeitung ließ sich der kaufmännische Direktor den Bericht zur Zensur vorlegen. – »Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt«, heißt es im Grundgesetz … So ent-
schied in dem oben erwähnten Fall einer Nachrichtenunterdrückung in der tz der Lokalchef ohne direkte Anweisung vom Verleger, daß der Bericht über die Berufungsverhandlung gegen den Großmarkt-Chef »kein Thema« sei, obwohl der Nachrichtenwert der Geschichte zugestandener-
maßen groß war. Es hatte völlig genügt, die Journalisten über den Anzeigenboykott des Groß-
marktes zu unterrichten, die Konsequenzen zogen sie von sich aus, die Selbstzensur war perfekt. Episoden dieser Art ereignen sich fast täglich in fast allen bundesdeutschen Redaktionen … Freie Journalisten haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Für Urlaub, Alter, Krankheit, Invalidität müssen sie selbst vorsorgen. Um ihre Aufträge nicht zu verlieren, verzichten viele von ihnen auf einen jährlichen Erholungsurlaub, jeder Tag einer Krankheit kostet sie nicht nur, sie haben in dieser Zeit auch keine Verdienstmöglichkeit. Auf die Höhe des Honorars haben sie in der Regel keinen Einfluß. Wenn es dem Verleger beliebt, sie loswerden zu wollen, braucht er sich um Kün-
digungsfristen oder gar Kündigungsgründe nicht zu scheren. So erfuhr der Journalist Klaus Bud-
zinski, der seit mehr als zehn Jahren regelmäßig für die Abendzeitung gearbeitet hatte, ganz unver-
mittelt, daß eine von der AZ in Auftrag gegebene und von ihm gelieferte Geschichte nicht gedruckt werden könne, weil sein Name auf die AZ-Herausgeberin Anneliese Friedmann »einen gewissen Reizeffekt« ausübe. Chefredakteur Flade teilte ihm weiter mit, daß auch künftig keine Geschichte von Budzinski mehr in der AZ erscheinen könne, kurzum, er habe »Schreibverbot«. Gegenüber der Journalistin Hella Schlumberger rühmte sich Flade, daß in der AZ nur schreiben könne, wer ihm passe, und sie passe ihm eben nicht. Die freie Journalistin, die ihren Lebensunterhalt ausschließ-
lich durch ihre Arbeit für die AZ bestritt, hatte kurz zuvor ein Interview mit dem Schauspieler Gerd Baltus gemacht, in dem dieser die Ansicht äußerte, der gesellschaftliche Bezug zwischen Schau-
spielern und ihrem Publikum sei in der DDR wesentlich besser als in der Bundesrepublik. Und eben diese Äußerung, so ließ der Chefredakteur erkennen, war der Grund, die Journalistin nicht weiter zu beschäftigen.“4
„Else Markert, 89, Photomodell, verwirrte Münchner Männer. Um zu demonstrieren, dass ‚Gaudi und Gemütlichkeit’ in der Bayern-Metropole ‚unter die Räder des Olympiarummels geraten sind’, hatte der einheimische Siebdrucker Werner Templin, 33, die Greisin für ein Honorar von 200 Mark als Münchner ‚Kindl’ ausstaffieren und ablichten lassen – mit bunten Olympia-Ringen und welkem Rettichkraut. Die ‚Deutsche Städte-Reklame GmbH’ war auch zunächst bereit, 500 Exem-
plare des Parodie-Posters (Slogan: ‚Rettet München’) in der City zu verkleben und kassierte vorab 1.160 Mark, besann sich dann jedoch – nach Intervention aus dem Rathaus – Punkt drei ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach ‚Anschläge zurückzuweisen’ seien, ‚deren Inhalt nach … pflichtgemäßen Ermessen gegen irgendeine behördliche Bestimmung … oder die guten Sitten verstößt’. Den Verstoß gegen das Wahrzeichen bajuwarischen Frohsinns hatte Münchens (SPD-)
Bürgermeister Albert Bayerle, 64 …, wahrgenommen. Bayerle laut ‚Städte-Reklame’-Chef Ernst Klatt: ‚Eine Verunglimpfung des Münchner Stadtsymbols.’“5
Siehe auch „Kunst/Kultur“.
(zuletzt geändert am 22.4.2023)
1 Für die Einordnung der Münchner Aktion in Nitschs Gesamtwerk siehe „Nitsch proben“ von Alfred Gulden.
2 Aktionsraum 1 oder 57 Blindenhunde, München 1971, 80 f.; siehe dazu auch „Stellungnahmen“, „Aktionsraum 1: Öffentlich kontrollierter Freiraum“, „Ein Jahr …“ und „Die Erfahrungen …“ vom HA Schult.
3 Der Spiegel 47 vom 16. November 1970, 248.
1 kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 4/1972, 609 ff. – Hannelore Messow, Jahrgang 1944, Studium: Politische Wissenschaften, Philosophie, Geschichte. Absolventin der „Deutschen Journalistenschule“. Freie Mitarbeit und Redak-
teurstätigkeit bei Nachrichtenagentur, Tageszeitung und Zeitschrift. Vorsitzende des Ortsvereins München der Deutschen Journalisten-Union (dju) in der IG Druck und Papier, Mitglied des dju-Landesvorstands Bayern, Mitglied der zentralen Tarifkommission der dju. – Eckart Spoo, Jahrgang 1936, Studium: Germanistik, Philosophie, Soziologie, Publizistik. Freie Mitarbeit, Redakteurs- und Korrespondententätigkeit bei Tageszeitung. Bundesvorsitzender der Deutschen Journalisten-Union (dju) in der IG Druck und Papier. Herausgeber bzw. Mitherausgeber der Bücher „Die Tabus der bundesdeutschen Presse“, München 1971, „Das Rechtskartell – Reaktion in der Bundesrepublik“, München 1971, „Fetisch Eigentum – Wie privat sind Grund und Boden?“, München 1972.
5 Der Spiegel 4 vom 18. Januar 1971, 124.