Materialien 1971

Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen

Die Versammlungen

1) Nachdem auf unserer ersten offiziellen Versammlung am Samstag, dem 17. April 1971, im Wohnheimlager Gerberau kaum deutsche Arbeiter erschienen waren, weil sie am Wochenende zum großen Teil nach Hause fahren, verlegten wir die nächsten Versammlungen jeweils auf Donnerstag. Sie fanden unter freiem Himmel in unmittelbarer Nähe der Wohnbaracken statt und wurden durch morgens und nachmittags verteilte Flugblätter, Wohnstubenagitation und Lautsprecheraufrufe unmittelbar vor Versammlungsbeginn vorbereitet. Außerdem installierten wir mittels eines Kleinbusses einen Zubringerdienst vom ca. 5 km entfernten Wohnheimlager Ludwigsfeld.

2) Auf der nächsten, bisher am besten besuchten Versammlung am 22. April (ca. zweihundertfünfzig bis dreihundert Arbeiter) erschien eine größere Gruppe deutscher Arbeiter, ohne sich allerdings durch Diskussionsbeiträge hervorzutun. Doch ist auch das bloße Erscheinen angesichts der Haltung vieler deutscher Arbeiter, wie wir sie bei der Agitation öfters zu hören bekamen, als ein Fortschritt zu werten. Offenbar flößt die Aktivität der Ausländer vielen deutschen Arbeitern eine Art nationalistisch eingefärbtes Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühl ein. Die bei den meisten älteren und vereinzelten jüngeren deutschen Arbeitern vorhandene Ablehnung der Arbeitsemigranten schlägt unter dem Eindruck ihrer praktischen Solidarität um in eine ebenso nationalistisch begründete Diffamierung der deutschen Arbeitskollegen als „Untertanentypen“, „dumm“, „apathisch“, „politisch unaufgeklärt“ und „immobil“, das alles von „Natur aus“ oder wegen der „deutschen Mentalität“. Zu solchen Urteilen gelangten bezeichnenderweise gerade solche Arbeiter, die sich selbst für unermüdlich klassenbewusste, aber einsame Rufer in der Wüste ansahen und im Einzelfall auch nicht mit radikalen Einsichten oder Forderungen sparten: „Diese Misere (in den Wohnheimen) hört erst auf, wenn wir den Kommunismus bei uns haben.“ In der Wahl seiner fiktiven Mittel war der alte Arbeiter, von dem das Zitat stammt, gleichermaßen unzimperlich wie abenteuerlich: „Da hilft nur eins: mit der Maschinenpistole durch den Betrieb gehen und alle Kapitalisten umlegen.“

Diese Zitate sollen nicht nur zeigen, wie vorsichtig wir bei der Einschätzung der sog. „bewusstesten“ Teile der Arbeiterklasse und ihrer Avantgardefunktion verfahren müssen, sondern welche objektiv und subjektiv befestigten Lernschranken zu überwinden sind, bevor ein Teil der deutschen Arbeiter das Beispiel der ausländischen Arbeiter als eigene lebenspraktische Handlungsperspektive wahrnimmt. Es ist nur scheinbar Ironie. dass ausgerechnet der erwähnte Arbeiter nicht auf der Versammlung erschien. wohl aber alle von ihm geschmähten Stubengenossen.

3) Wir stellten fest. dass die gemeinsame Kasernierung den meisten deutschen Barackenbewohnern die Vorurteile über die angeblich dreckigen und undisziplinierten Fremdarbeiter austreibt. Eine Episode auf der erwähnten Versammlung bestätigt dies:

– Als zufällig vorbeikommende, nicht zur MAN gehörende und leicht angetrunkene Bauarbeiter die vorwiegend ausländischen Versammlungsteilnehmer als „Zigeuner“ beschimpften, stießen sie auf energischen Widerspruch bei den deutschen MAN-Arbeitern und wurden abgedrängt.

4) Trotz solcher Fortschritte bleiben aber bei vielen deutschen Arbeitern Einsichten und Erfahrungen individuell gebunden. Auf dieser Grundlage bilden sich gleichermaßen Überheblichkeit gegenüber den deutschen Kollegen wie deren Kehrseite: die resignative Bescheidung mit der eigenen Unfähigkeit, an dem mehr oder weniger offen bewunderten Solidarisierungsprozess der Ausländer teilzunehmen. Generell scheint den deutschen Arbeitern ihre Vereinzelung wie eine unergründliche Qual anzuhängen. die bei einigen stark depressive Reaktionen hervorruft. Nach Auskunft eines Betriebsrates hat es allein 1970 unter den deutschen Barackenbewohnern drei Selbstmorde gegeben.

Ob die Teilnahme an den Versammlungen zur Auflösung solcher Haltungen beiträgt. konnten wir mit Bestimmtheit nicht feststellen, da sich die erschienenen deutschen Arbeiter vorher meistens nicht irgendwie politisch geäußert hatten. Dafür entwickelten einige unter den jüngeren Arbeitern die Fähigkeit, die Versammlungen unmittelbar als Lernprozess zu begreifen. Drei auf allen Versammlungen anwesende Jungarbeiter, ein Deutscher und zwei Österreicher, bildeten auch den deutschsprachigen Teil des aus den Versammlungen hervorgegangenen Arbeiterkomitees; obwohl die drei nach eigenen Aussagen zu Beginn in keiner Weise „anpolitisiert“ waren. Sie ließen sich durch die als Beobachter anwesenden Werksschutzleute etc. in keiner Weise einschüchtern. Einer unter ihnen, ein 19-jähriger Arbeitersohn aus einem kleinen Dorf im bayrischen Wald. nahm auf den Komitee-Sitzungen die Rolle eines Sprechers der deutschen Arbeiter ein und hielt auf der 1. Mai-Kundgebung nach der von den Betriebsgruppen BMW, MAN, MTU und der RAJ veranstalteten Demonstration „Roter 1. Mai“ die deutsche Ansprache.

5) Die jedermann zugänglichen Versammlungen hatten es der Betriebsleitung leicht gemacht, einzelne, die öfters erschienen waren, namhaft zu machen und Schikanen auszusetzen …


Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen. Multinationale Betriebs- und Regionsarbeit der Gruppe Arbeitersache München, München 1973, 74 f.