Materialien 1971
Haidhausen
war lange Zeit so eine Art Geheimtipp unter den Münchner Stadtvierteln. Mittlerweile ist der Tipp so geheim nicht mehr. Hier versammeln sich zunehmend alle Leute, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, dass sich’s in der Stadt leben lässt – und hier lässt sich’s tatsächlich leben. Es ist gar nicht so einfach, zu beschreiben warum. Einmal abgesehen von den Treffpunkten einer „Alternativkultur“, von den Wohngemeinschaften etc., von denen es zunehmend mehr gibt, hat das Viertel selbst eine merkwürdige Anziehungskraft. Die Sonnentage kommen einem hier besonders sonnig vor und die Regentage nicht ganz so trostlos. Vielleicht sind es die vielen Leute, die sich auf den Straßen und Plätzen aufhalten, die vielen Bäume entlang der Straßen, die alten Häuser, deren Ästhetik nicht so anspruchsvoll ist wie die neurenovierter Gründerzeitfassaden, so dass man sich noch traut, ein paar Sprüche draufzuschreiben, oder die Straßen selbst, die manchmal so kreuz und quer durcheinandergehen, dass man sich auch nach mehrmaligen Spaziergängen noch wundert, wo man jetzt plötzlich wieder gelandet ist. Vielleicht ist es ganz schlicht noch ein Hauch von Dorf, von Vorstadt, von Vergangenheit – einer in den Augen achtbarer Bürger keineswegs rühmlichen Vergangenheit …
Für den Kriechbaumhof, die älteste und berühmteste Herberge, wird gerade ein besonders feinsinniger Plan in Erwägung gezogen: er soll Balken für Balken abgetragen und an anderer Stelle wieder errichtet werden – unter Aussonderung der morschen Balken vermutlich. Bei diesem Verständnis bzw. Unverständnis von Denkmalspflege fühlt man sich dazu bewegt, der chronisch finanzschwachen Stadtverwaltung nahezu legen, doch einmal Kontakt mit jenem Amerikaner aufzunehmen, der vor nicht allzu langer Zeit die London Bridge in die USA bringen ließ …
Gegen Anfang des 19. Jahrhunderts hatten sich auch einige Adlige mit ihren Landsitzen in der Gegend niedergelassen, doch waren die meisten Bewohner Haidhausens Tagelöhner. Ihre Zahl vergrößerte sich rapide, als während des Aufschwungs, der aus dem Beginn der „Gewerbefreiheit“ und sonstigen „sozialen Reformen“ resultierte, immer mehr arbeitssuchende Landbevölkerung in das mittlerweile eingemeindete Haidhausen kam.
Die Stadt ließ von 1870 – 1900 das „Franzosenviertel“ errichten: Gebäude unterschiedlicher Qualität (viele davon ziemlich schäbige Mietskasernen), nach einheitlichem Konzept im Gründerzeitstil entlang gradliniger Straßen, die auf den neuerrichteten Ostbahnhof ausgerichtet wurden (zum Beispiel Wörth-, Weißenburger Straße). Dadurch und durch die größeren Industrieunternehmen, die sich zunehmend im Viertel breit machten, wurde die dörfliche Struktur weitgehend zerstört. Umstrukturiert wurde auch die Gegend am Gasteig und anschließendem Isarufer, wo sich zunächst zahlreiche kleine Brauereien mit ihren Bierkellern niedergelassen hatten. Jetzt wurden sie von den Großbrauereien geschluckt.
Heute fällt dieses Gebiet für die Stadtverwaltung unter „potentielle Umstrukturierungsflächen“, die „keine gestalterische/historische Bedeutung mehr“ (Baureferat) haben. Seine strategische Bedeutung hat dagegen das Gasteig-Gelände behalten: wo einst die feindlichen Armeen anhielten, um die Münchner Innenstadt zu observieren, Sendlinger Bauernschlacht) soll jetzt Kronawitters ursprünglich als Jahrhundertprojekt erträumtes Kulturzentrum entstehen und „nebenbei“ – auf den zwei Drittel der Fläche, die Löwenbräu gehören – Läden, Büros, ein Hotel und teure Wohnungen. Bis Februar 1974 stand auf der jetzt leeren Fläche ein ebenso leeres (seit neun Monaten), aber gut erhaltenes Altersheim, das einige in Haidhausen aktive Gruppen zu nutzen gedachten, als ein an den Bedürfnissen der Bürger orientiertes Stadtteilzentrum, und somit Alternative zu dem am Prestigegedenken der Stadt orientierten Kulturzentrum, bei dem zudem nicht einmal klar war, ob man die Fertigstellung überhaupt noch erleben würde. So kam es, dass man am Abend des Freitags, 15. Februar 1974, in Haidhausen folgendes Flugblatt (Ausschnitt) lesen konnte:
„Gasteigspital besetzt.
Das Gasteig ist von 200 Münchnern besetzt worden. Die Besetzung ist den Plänen der Stadt zuvorgekommen, die mit Sicherheit das Spital noch dieses Jahr abreißen möchte. Das Gasteigspital in Haidhausen steht seit einem ¾ Jahr leer, hat 6.000 qm Wohnfläche, über hundertfünfzig Zimmer, einen großen Garten, ist beheizt und voll eingerichtet.
Das Gasteigspital ist jetzt für alle offen. Kommt und schaut’s euch an. Unterstützt die Besetzung.“
_ _ _
In einer Nacht- und Nebelaktion räumten siebenhundert Polizisten das Gebäude wieder und nahmen einhunderteinundfünfzig Leute fest (einige Prozesse laufen noch heute). Dazu die Stadtverwaltung: „Wir konnten die Demonstranten nicht drin lassen. Die Gefahr, dass sich linke Gruppen in dem Haus ansiedeln, war zu groß.“ Sie versicherte, dass man sowieso noch im Sommer mit dem Bau des Kulturzentrums beginnen wolle. Flugs wurde das Altersheim abgerissen, ebenso flugs ein städtisches Grundstück am Oskar-von-Miller-Ring an die Bayrische Landesbank für 50 Millionen verkauft, angeblich um das Gasteig-Projekt (162 Millionen) zu finanzieren – nur gebaut wurde halt nichts, bis heute nicht. Nach neuesten Meldungen „hofft“ das Baureferat, im Spätsommer 1977 mit dem Bau des Kulturzentrums beginnen zu können.
Zum Glück für die Bewohner und zum Leidwesen mancher Stadterneuerer blieb Haidhausen im Zweiten Weltkrieg fast unbeschädigt. Noch die Hälfte der Gebäude stammt aus der Zeit vor 1900, vor allem in Haidhausen-Süd, das 1968 die billigsten Mieten Münchens hatte (allerdings auch 17 Prozent Wohnungen ohne Bad und WC). Dieser wenig „repräsentative“ Charakter Haidhausens und die zunächst nicht gerade optimale Verbindung zur Innenstadt brachten es mit sich, dass das Viertel zunächst von Aufkäufen durch Betriebe des tertiären Sektors weitgehend verschont blieb.
Die gingen lieber ins idyllische Villenviertel Bogenhausen oder später dann ins Lehel. Dafür ließen sich die cirka achthundert privaten Einzeleigentümer und sonstigen Grundbesitzer (Zweiundachtzig Gebäude gehören zum Beispiel Brauereien) einiges einfallen zur besseren Verwertung ihres Eigentums. Ein typisches Mittel dazu ist auch hier (wie in anderen Vierteln) die „Belegung“ von Wohnungen durch Gastarbeiter: 1973 waren etwa siebzig Häuser ganz oder teilweise von Ausländern bewohnt, viele wurden als ganze von Firmen (zum Beispiel Rodenstock, Hoch-Tief, Siemens, Bundesbahn) gemietet und als Wohnheim benutzt, mit bis zu zweihundert (!) Betten.
Auch Abriss und Neubau sind häufig: in der Zeit von 1968 – 1971 wurden ein Sechstel aller Grundstücke von solchen „Sanierungsmaßnahmen“ betroffen. Wen wundert es da noch, dass vielen Hausbesitzern die Verwertung ihres Eigentums so gut gelang, dass sie dasselbe pro Jahr um ein weiteres Haus erweitern konnten.
Zusätzlich zu den Wohnungen gingen von 1961 – 1970 eintausendzweihundert kleine Handwerksbetriebe und einhundertneunundachtzig kleine Läden verloren, was vermutlich Folgen für die Kommunikationsstruktur des Viertels hat.
Die Stadt tat sich zunächst in Haidhausen nicht besonders hervor, jedoch erschien ihr das Viertel schon relativ früh als ein Störfaktor bei der zügigen Umstrukturierung der Stadt. Im Flächennutzungsplan 1965 wurden größere Teile des Viertels als Kerngebiet oder Stadterneuerungsgebiet ausgewiesen, letzteres allerdings ohne viel Konsequenzen: es gab kein Geld für Sanierung. 1968 wird gesprochen von einem „Gürtel gründerzeitlicher Stadtteile, der sich entwicklungshemmend um das Zentrum Münchens legt, wo nun eine gewisse Stagnation eingetreten ist,“ und die „Entwicklung eines dem jetzigen Altstadtbereich ebenbürtigen Geschäftsbereichs“ gefordert. „Hier haben sich Lebensformen und spezifische Baustrukturen gefunden, die offensichtlich gegenseitig eine überdurchschnittliche Verlangsamung der Entwicklung bewirken, es sei denn, Einflüsse von außen würden entscheidende Veränderungen hervorrufen.“
Den „Einfluss von außen“ gedenkt nun die Stadt auszuüben: am 10. Januar 1968 wird die „Aufwertung“ Haidhausens beschlossen, worunter verstanden wird: „… dass die Aufgabe der Stadterneuerung im Münchner Osten gegenwärtig weniger in einer Sanierung der dicht besiedelten Wohnblöcke liegt, sondern zunächst in der allgemeinen Aufwertung verschiedener Bereiche zu zentralen Geschäftsgebieten, bzw. zu neuen Gemeinbedarfskomplexen unter Koordination der verschiedenen öffentlichen und privaten Interessen besteht. Trotzdem muss damit gerechnet werden, dass in naher Zukunft auch die Umstrukturierung der Wohnbebauung in den Vordergrund treten wird, nicht zuletzt dann, wenn eine allgemeine Entwicklung zur gesteigerten geschäftlichen Nutzung hin einsetzen sollte.“
Im Verein mit der Privatindustrie und unterstützt durch entsprechende Verkehrsmaßnahmen (S-Bahn, Tangente 3 Ost, U-Bahnlinie 5 – davon Tangente als nicht mehr nötig fallengelassen) sollten geeignete Bauprojekte vor allem im Bereich Rosenheimerplatz und Gasteig, Max-Weber-Platz und Umgebung und Orleansplatz neue „Akzente“ setzen, zum Beispiel
Gasteig-Projekt
Motorama: Autosalon, Läden, Restaurants (zum Beispiel Mövenpick), Hotel (eröffnet 1973, der Bauherr spricht dabei vom „Ende der Schonzeit für Haidhausen“)
Franziskanerhof (Franziskaner-/Rablstraße) der Bayrischen Hausbau GmbH: Appartements, Läden, Restaurants, Eigentumswohnungen, Büros (zum Beispiel Deutsche Bank, IBM); und anschließend (bis zur Hochstraße) das Dera-Center: Eigentumswohnungen, Appartements, Büros, Läden
Ostbahnhofprojekt der Bayrischen Versicherungskammer: Überbauung der Gleisanlagen und Bebauung des anschließenden Geländes, insgesamt 123.000 qm, für Büros, Dienstleistungen, Läden, Appartements. Mittlerweile aufgegeben, da die Versicherungskammer kein Baurecht für das ehemalige Bundesbahngelände bekam und es deshalb an die Bundesbahn zurückgab. Die DB plant jetzt eine teilweise öffentliche Tiefgarage, und gewisse Umbauten für ihre Verwaltung.
Laden- u. Wohnungsprojekt der Rationbau an der Orleans-/Auerfeldstraße.
Während die Stadt so mögliche Aufwertungen durch Kapitalinvestitionen wohlwollend betrachtet (ähnlich wie auf der Schwanthaler Höh’), versucht sie sich selbst am ersten Sanierungsprojekt nach dem Städtebauförderungsgesetz in München, beim sogenannten Block 15 zwischen Wolfgang-, Preysing- und Leonhardstraße (endgültig beschlossen 1974). Ferner soll ein Gesamtkonzept für die Sanierung Haidhausens erarbeitet werden.
Beides zieht sich hin – ohne Bevölkerungsbeteiligung (ein zunächst ins Leben gerufener Sanierungsbeirat für Block 15 wurde wieder abgeschafft) und ohne Aussicht auf Nutzen für die Bevölkerung: Trotz Sozialplan ist kaum mit dem Verbleib der Mieter zu rechnen, da die Neubaumieten zwei bis drei mal so hoch sein werden wie die alten. Die Sanierung ganz Haidhausens dürfte an der Finanzierungsfrage scheitern: durch die Notwendigkeit der Entschädigung für die Eigentümer u. ä. dürften sich die Kosten (nach Schätzung Zechs) auf cirka fünfzehn Milliarden DM belaufen, und das wäre fünf mal soviel wie der gesamte städtische Jahreshaushalt.
Haidhausen heute
Als Schwabing immer mehr in Nepp und Neon versank und Bohemiens und Hippies aus Straßen und Parks vertrieben wurden, begann der Exodus der Szene aus dem neuen Sankt Pauli des Südens. Auf der Suche nach einem Wohnviertel, in dem man noch heute in unseren Betonwüsten, die sich Städte nennen, wohnen kann, das heißt, in dem noch menschliche Kontakte möglich sind, in dem man noch in Häusern und nicht in Schlafsilos wohnen kann, entdeckte man Haidhausen.
Dabei war diese Entdeckung gar nicht mal so neu. Bereits Ende der 60-er Jahre gab es die bekannte Kommune in der Einsteinstraße, die sogar zum Geburtshelfer einer „alternativen Fußballmannschaft“ namens Wacker Einstein wurde. in der Fritz Teufel den Mittelstürmer spielte. Sein Konterfei als Fußballer diente dann als Motiv für ein Anti-Olympia-Plakat. Und schon damals – Ende der 60-er Jahre – ging man in den Song Parnass um internationale Folklore-Musik zu hören, schon damals fuhr man morgens um vier Uhr nach dem „Short stopp“ nach Haidhausen in die Max-Planck-Straße zu Pierre, einem französischen Gastronom, der dort ein Frühlokal hatte, um dort seinen Kaffee zu trinken oder um eine Zwiebelsuppe zu schlürfen, die einen fast an das Pariser Hallenviertel erinnerte.
Dort saß man dann in einer sehr bunt gemischten Gesellschaft. Da hockten die SDS-Größen, die noch soeben im Short Stop ihren neuesten Schlachtplan für das Knastcamp in Ebrach diskutiert hatten neben den Möchte-gern-Hippies a la Thomas Fritsch und echten Gammlern, die auf ihrer Gitarre klimperten und noch einen Joint durchzogen, der von Tisch zu Tisch wanderte.
Und es gab auch bald die Arge Haik, die Arbeitsgemeinschaft Haidhauser Künstler, von denen die meisten Schwabinger Emigranten waren, die sehr früh erkannt hatten, dass die Kunst nicht nur in der Maximilianstraße oder in Schwabing einen Platz hat. Sie versuchten die Kunst in engen Kontakt zum Publikum zu bringen und stellten ihre Kunstwerke in Kneipen und Läden von Haidhausen aus. Aber erst durch die Gasteigbesetzung kam so etwas wie eine Haidhauser Szene ans Tageslicht und begann sich zusammenzufinden. Man entdeckte, dass es ja eigentlich schon sehr viele WG’s in Haidhausen gäbe, dass man sich viel öfters treffen müsste, dass man irgendetwas zusammen tun müsste. Die Gasteigbesetzung wirkte als Geburtshelfer für einige Projekte und Initiativen, die zwar alle irgend wie inzwischen gestorben sind, die aber wichtig waren und in irgendeiner anderen Form weiterwirkten.
Da gab es dann das Haidhauser Ladenkollektiv in der Kellerstraße 19, das so eine Art Stadtteilzentrum werden sollte und in dem heute ein Kinderladen untergebracht ist. Gleich um die Ecke, in der Nummer 28, siedelte sich ein Werkstattkollektiv an, das für Genossen Autos und Motorräder repariert und zwar etwas billiger als normale Werkstätten. Und es gab das Ausländerzentrum in der Breisacher Straße 12, in dem sich Arbeitsemigranten mit den Resten der Arbeitersache trafen und Straßenfeste veranstalteten, von denen heute noch manche Genossen schwärmen. Aber sie machten nicht nur gemeinsame Feste, sie trafen sich auch sonst und diskutierten über Wohn- und Arbeitsprobleme oder hörten türkische Musik und kochten gemeinsam.
In diesem Zentrum fanden die letzten Redaktionssitzungen der inzwischen verstorbenen Zeitung „Wir wollen alles“ statt und hier wurden die ersten Diskussionen über die neue Zeitschrift „Autonomie“ geführt, die sich ganz schön herausgemausert hat. Auch dieses Zentrum besteht nicht mehr, aber in den Räumen nistete sich der Schwarzmarkt Haidhausen ein, von dem noch die Rede sein wird. Im gleichen Hause entstand auch eine WG-Kooperative für Haidhausen. Man traf sich am Stammtisch im Song Parnass oder im Song International und diskutierte über neue Formen des Zusammenlebens, aber man löste auch viele praktische Probleme: Adressensammlungen von WG’s wurden zusammengestellt, Lebensmittel wurden gemeinsam eingekauft, man gab eine Zeitschrift heraus. Auch diese Initiative ist inzwischen sanft entschlafen, aber es gibt noch ein paar Leute dort, die die Adressen aufbewahrt haben, die auch einen gemeinsamen Hobbykeller für die Haidhauser WG’s aufbauten und die irgendwann mal wieder in dieser Richtung weiterarbeiten wollen.
Und dann kamen eines Tages auch die Spontis nach Haidhausen. Sie wanderten von ihrem Stammlokal in Schwabing aus und trafen sich jeden Mittwoch um 20 Uhr in der Gaststätte Il Pomodoro, dem ehemaligen Ansbacher Schlößl, in der Kellerstraße 21. (Ort und Zeit des Spontitreffens sind zu erfahren in der Basis Buchhandlung und im Blatt.) Dort geht es mitunter sehr chaotisch zu, wie es sich nun mal für Spontis gehört, manchmal passiert auch gar nichts, man hockt nur zusammen, trinkt sein Bier oder seinen Kaffee und quatscht miteinander. Auch das ist wichtig.
Aber hier wurden auch oftmals gute Diskussionen geführt, über Portugal oder Whyl oder über Alternative Lebensformen und linke Politik. Hier sprachen die Anwälte von spanischen Genossen, die im Knast saßen und die erschossen werden sollten und hier berichteten amerikanische Genossen über alternative Ansätze in Kalifornien. Hier wurden Flugblätter gegen die Repression entworfen und Veranstaltungen geplant. Neuerdings erlebt das Mittwochsplenum einen Aufschwung, es scheint, als sei wieder etwas in „Bewegung“ geraten, es gibt neue Ansätze und – was noch viel erfreulicher ist – viele neue Gesichter. Und auch der Schwarzmarkt Haidhausen scheint sich so langsam zu einem Treffpunkt alternativer Gruppen und zu einem Ansatzpunkt neuer Initiativen zu entwickeln. Tagsüber kann man dort Bücher, Zeitschriften und Platten kaufen, die es sonst wohl kaum in München gibt. Man kann aber auch gemütlich einen Tee und sogar einen Kaffee trinken und miteinander quatschen oder in den alten Kleiderbeständen wühlen oder sich irgendetwas Handgemachtes wie Kerzen, Gürtel usw. aussuchen. Am Montagabend ist Jour Fixe im Schwarzmarkt, es wird über neue Aktivitäten diskutiert oder ganz einfach nur darüber, welches Buch und welche Zeitschrift noch bestellt werden soll. Demnächst soll an jedem Montag ein bestimmtes Thema diskutiert werden, man will Gruppen oder Individuen einladen, die über irgendetwas berichten wollen und dann kann man darüber diskutieren. Das steht dann alles am Schwarzen Brett, an dem man auch seine eigenen Wünsche, etwa die Suche nach einem Platz in einer WG oder eine Mitfahrgelegenheit nach Berlin anpinnen kann. Am Dienstag trifft sich hier die TVideo-Gruppe und zeigt Filme oder berät, welche Filme man selber machen könnte. Auch die Embryo sind oft hier und musizieren oder diskutieren über ihre Musik und neue Platten.
Gleich um die Ecke, in der Elsässer Straße Nr. 9, befindet sich die Redaktion der Haidhauser Nachrichten, einer Stadtteilzeitung, die sich für die Interessen der Haidhauser Bevölkerung einsetzt und bewusst an die proletarische Tradition Haidhausens anknüpft. Die HN war es auch, die sich zurecht gegen die „Schwabingisierung“ zur Wehr setzte: „Soll die Schwabinger Schickeria jetzt plötzlich den Osten (‚East Side’) ‚in’ finden? Wer den Grad der Zerstörung des ehemaligen Schwabing kennt, wird sich gegen eine ähnliche Entwicklung mit Händen und Füßen wehren.“ (HN Nr. 3). Die Zeitung hat sehr viel getan, um die Diskussion über die Bestimmung des alten Ostbahnhofes zu beleben. Inzwischen hat sich eine „Initiative Alter Bahnhof“ gebildet, die aus dem alten Ostbahnhofsgelände ein Kultur- und Sozialzentrum machen möchte, mit Kneipen, Kinos, Konzertsaal, Kinderhort, Altentreff usw. Die Ansichten darüber sind sehr geteilt; obwohl in Haidhausen ein Bürgerzentrum fehlt und die Pläne sich sehr gut anhören, befürchtet man aber auch, dass sich hier letztenendes doch mehr kommerzielle Interessen durchsetzen könnten und so eine Art neues Schwabylon entstehen würde. Aber bis jetzt steht auf jeden Fall nur die Bahnhofs-Ruine.
Ansonsten tut sich in letzter Zeit so allerhand in der Haidhauser Szene. In der Lothringerstraße Nr. 14, in der Nähe des Weißenburger Platzes, hat sich ein Ladenkollektiv angesiedelt, die „Ladenwerkstatt Haidhausen“. Dort werden selbstgefertigte Produkte verkauft, die mit industriell hergestellten nichts gemeinsam haben. Hier steht noch das kreative Moment im Vordergrund und man kann auch selbst mitarbeiten und etwas produzieren, das Material wird zur Verfügung gestellt. Man kann sich aber auch auf Bestellung handgemachte Sandalen machen lassen oder einen Perlengürtel. Man kann aber auch einfach mal vorbeikommen, hereinspazieren und mit den Leuten quatschen, kommunizieren.
Nachdem der „Fraunhofer“ in der Innenstadt ein Begriff geworden ist, hat sich in Haidhausen eine Filiale einquartiert, und zwar in der Balanstraße Nr. 23. Der Laden heißt „Drehleier“ und ist von 19 – 1 Uhr geöffnet. Hannes Wader trat schon auf und Werner Lämmerhirt, mitunter spielen auch Musikgruppen, manchmal gibt’s Folklore-Musik und Kleinkunstdarstellungen …
Statistik zur Bevölkerung
Siebenundvierzig Prozent Arbeiter in Haidhausen-Süd, neununddreißig Prozent in Haidhausen-Nord. Zweiundzwanzig Prozent Ausländer (1973) = Verdoppelung seit 1969. Dreiundsechzig Prozent der Frauen sind erwerbstätig. Einkommen: Sechzig Prozent bis 800 DM netto (in München durchschnittlich achtundvierzig Prozent), vierundzwanzig Prozent leben von Renten und Pensionen (München: dreizehn bis siebzehn Prozent), fünf Prozent von der Sozialhilfe (München: ein Prozent). Von den Jahrgängen 1964 – 1970 sind siebzig Prozent Arbeiterkinder. Nur 18,6 Prozent der Jugendlichen besuchen das Gymnasium (München: neunundzwanzig Prozent). Seit 1939 Bevölkerungsverlust um dreißig Prozent, seit 1961 um elf Prozent.
Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 70 ff.