Materialien 1971

„Man merkt's oft nicht ...“

Wir sprachen mit Hermann Wilhelm über Haidhausen.
Das Gespräch führte unser Redaktionsmitglied Günther Gerstenberg.

WIR: Hermann, Du bist hier in Haidhausen schon lange aktiv. Du hast die HAIDHAUSER NACHRICHTEN mitbegründet, das HAIDHAUSEN MUSEUM aufgebaut und Du bist seit neun Jahren im Bezirksausschuss. Was hat sich denn in den letzten Jahren hier im Viertel getan?

H.W.: Das Haidhausen von vor zehn oder fünfzehn Jahren, das historisch gewachsene Haidhausen der Arbeiter und Angestellten, der Handwerker und Kleingewerbetreibenden, existiert heute nicht mehr. Die Menschen, die heute hier wohnen, sind einkommensstärker als damals. Damit hat sich auch die Geschäftsstruktur gewandelt. Das alles hängt mit der Konzeption der Stadt zusammen, die unter dem Begriff „Aufwertung der Innenstadtrandgebiete“ Ende der 60er Jahre firmierte. Damals sollte München „Weltstadt“ werden, eine Metropole wie London, Rom oder Paris. Und dazu sollten Großprojekte dienen wie die Olympiade und das Europäische Patentamt sowie die Großprojekte in unserem Viertel: das Kulturzentrum am Gasteig, Penta-Hotel und Motorama. Nun sollen die Großbauten an der Rosenheimer Straße ergänzt werden durch das riesige Hilton-Hotel, der Gema und dem Europäischen Markenamt. Gleich um die Ecke in der Inneren-Wiener-Straße plant der Freistaat Bayern den Verkauf des Geländes der jetzigen Hofbrauerei an einen privaten Bauherrn. In den dann errichteten Wohnungen wird man „wohnen wie über den Dächern von Paris“, so Stadtbaurat Uli Zech. Neben dieser Wohnanlage wird aller Voraussicht nach ein großer Hotel- komplex errichtet werden.

WIR: Und wie sehen die Konsequenzen aus für die hiesigen Anwohner?

H.W.: Das ist doch klar: Das Viertel wird noch „attraktiver“ und damit noch teurer. Die kleinen Geschäfte werden immer mehr verdrängt. Nur Großketten können sich die gestiegenen Mieten am Wiener Platz zwischen 50 und 80 DM pro qm leisten. So wird z. B. der kleine unabhängige Bäcker vom Großbäcker abgelöst. Man merkt’s oft nicht, denn der Laden schaut ja immer noch klein aus, auch wenn er jetzt zu MÜLLER gehört. Am Wiener Platz steht heute außer dem Marktstandln in der Mitte und dem Coop kein einziges Geschäft mehr, das es hier vor acht Jahren gab. Aus der Stadtbücherei wurde ein Café, aus dem Hutmacher Zeidler eine Boutique und aus dem Stehausschank ein Reisebüro. Wo heute umgebaut wird, war erst ein Möbelgeschäft, dann ein Jeans-Laden und schließlich die Hypo-Bank drin. Zu Antiquitäten-Geschäften wurde ein Metzger, ein Bäcker und ein Zigaretten-Geschäft, und das Wohnhäusl am Eingang zur Kreppe hat sich in ein „Wein-Häusl“ verwandelt.

WIR: Als es jetzt im Sommer in der Hofbrauerei gebrannt hat, ist doch eher zufällig dabei herausgekommen, dass hier ein Hotelbau geplant wird.

H.W.: Davon waren einige Leute, besonders die Anlieger, wirklich überrascht, vor allem diejenigen, die sich für ein Umnutzungskonzept für Hofbrauerei eingesetzt haben. Dieses Konzept besagte, dass auf dem Gelände der Hofbrauerei die Fabrikgebäude erhalten bleiben sollten, und dass die Sozial- und Wohnstruktur der Umgebung, also die Mischung aus Kleinbetrieben, Geschäften und Wohnungen sich im Gelände der Brauerei fortsetzen sollte.

WIR: Eine eigentlich selbstverständliche und angemessene Lösung!

H.W.: Schon, aber wahrscheinlich ist das Umnutzungskonzept durch den Brand gestorben. Ich wünsche mir halt bei den Entscheidungsträgern der Stadt mehr Sensibilität für die Bedürfnisse derer, die hier schon lange wohnen. Wir waren stellvertretend für die anderen Viertel das Versuchskaninchen: Modellsanierung, Großbauten, Kabelfernsehen … Zeitverschoben werden all unsere Probleme, Veränderung der Bevölkerungsstruktur, Veränderung der gewachsenen Bausubstanz, z.B. Hinterhofentkernung und dadurch Vertreibung der kleinen Handwerksbetriebe etc. auch auf die anderen Viertel zukommen.


Wir. DGB-Kreis München 3 vom November – Dezember 1987, 4.