Materialien 1971
Junge Leute besetzten Wohnhaus in Schwabing
‚Wir wollen die Leute wachrütteln’
Mitglieder der ‚Roten Hilfe’, Studenten, Schüler und junge Arbeiter, besetzten in der Nacht zum Samstag das vierstöckige, zum Abbruch vorgesehene leerstehende Jugendstil-Wohnhaus Friedrichstraße 23 in Schwabing. Ein Sprecher der ‚RoHi’: ‚Damit wollen wir die Münchner Bevölkerung auf die Wohnungsnot aufmerksam machen.’ Die Polizei schritt nicht ein, denn: ‚Der Hauseigentümer hat keinen Antrag auf Räumung gestellt, folglich unternehmen wir auch nichts.’ Hausbesitzer Wilhelm Edelmann, Architekt, lässt die Besetzung kalt: ‚Das Haus wird noch in diesem Winter abgerissen. Dann werde ich bessere Wohnungen bauen.’
Die Hausbesetzung verlief in aller Ruhe und ohne Gewalt. Kein Schloss wurde demoliert: Die etwa zwölfköpfige Gruppe kletterte durch offenstehende Parterrefenster ins Haus, das – nach Auskunft der Besetzer – unten zwar ziemlich ‚verwohnt’, in den oberen Stockwerken aber ‚bestens intakt und gerade für große Familien gut geeignet’ sei. Die Nachbarn reagierten unterschiedlich.
Rudolf Fackler (30), Arzt: ‚Die Aktion ist im Ansatz gut, in der Konsequenz — so fürchte ich — schlecht. Man wird die Leute herausholen, und alles bleibt beim alten.’ Lotte Schlumberger (55), Hausfrau: ‚Das Haus gehört abgerissen.’ Karl Zorn (58), kaufmännischer Angestellter: ‚Solche Aktionen sind besser als Bombenflugzeuge bauen. Die Leute werden wachgerüttelt: Obwohl Tausende Münchner Bürger Wohnungen brauchen, werden schöne, alte Wohnhäuser mit billigen Wohnungen abgerissen.’
Transparente mit der Aufschrift ‚Leere Häuser — hohe Mieten — wehrt Euch!’ wurden inzwischen an der Hausfront angebracht. Die Besetzer haben im ersten Stock eine Barrikade aus Holzbalken errichtet. Sollte die Polizei einschreiten, so wird es nicht harmlos zugehen’. Die ‚Rote Hilfe’ will in das Haus einige Familien einziehen lassen und ein Mieter-Informationszentrum einrichten.
Abendzeitung vom 29. November 1971.