Flusslandschaft 1971
Hausbesetzungen
1971 wird in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen ein Baukomplex besetzt, aus dem das alter-
native Projekt „Christiania“ entsteht. Seit etwa zehn Jahren ist in manchen europäischen Ländern das „Squatting“ durchaus geduldet, da der Baugrund noch nicht so knapp und die Preise noch nicht so hoch sind.
Schwabing wird immer teurer. Die Wohnraumspekulation blüht. Am 27. November besetzt kurz vor 23 Uhr das Umfeld der Roten Hilfe das seit etwa einem Jahr leer stehende Gebäude in der Friedrichstraße 23 und richtet dort einen Kinderladen und ein Mieterberatungsbüro ein. Außer-
dem plant man in dem Altbau eine neunköpfige Familie unterzubringen, die bis jetzt in einer zweieinhalb Zinmmer großen Notunterkunft lebt. Der Hausbesitzer plant ein neues Appartement-
haus mit Tiefgaragen zu errichten.1
Ein paar Tage später organisiert die Gruppe den Widerstand von etwa fünfzig Bewohnern eines weiteren Hauses in der Kaiserstraße 43, die von Zwangsräumung bedroht sind, damit die Besitze-
rin, eine Grundstücksgesellschaft, das Haus abreißen kann, um an dessen Stelle ein modernes Appartementhaus zu errichten. „Den wenigen Mietern … seien Ersatzwohnungen angeboten wor-
den. Die übrigen Bewohner wurden von dem Sprecher der Grundstücksgesellschaft als ‚Gammler-
Kommunen’ bezeichnet, die sich wiederrechtlich in dem Gebäude eingenistet hatten.“2
„Die Polizei griff zunächst nicht ein. Beide Häuser wurden zu Anziehungspunkten für die gegen-
kulturellen Szenen Schwabings. Akribisch vermerkte die Polizei, wie ‚Langhaarige’ und ‚Gammler-
typen’ Einrichtungsgegenstände und Lebensmittel in die Häuser trugen, Flugblätter verteilten oder aber den beobachtenden Zivilbeamten provozierend-freundlich zuwinkten. Die beiden Hausbeset-
zungen in Schwabing … richteten sich nicht nur symbolisch gegen die als katastrophal empfunde-
nen Zustände auf dem Münchner Wohnungsmarkt. Vielmehr spiegelten sich in den Aktionen expe-
rimentell gelebte und mit ‚antibürgerlicher’ Rhetorik vorgetragene Ansprüche auf eine ‚Reorgani-
sation urbanen Lebens auf einer kollektiven, von unten bestimmten Weise.’“3
Einen Monat später, am Dienstag, 28. Dezember, stürmen um vier Uhr in der Frühe dreihundert-
sechzig Polizeibeamte das Haus in der Friedrichstraße 23, räumen die Barrikade im Treppenhaus zur Seite, schlagen mit Äxten die Wohnungstüren ein und verhaften achtundfünfzig Bewohner, die dem Hausbesitzer vorgeschlagen hatten, zehn Prozent ihres Einkommens als Miete zu zahlen. Beim Sturm auf das Haus verwenden die Polizisten zum ersten Male Schilder, die Schutz vor Wurf-
geschossen bieten. Noch am gleichen Tag wird das Haus abgerissen. Am 29. Dezember findet ein Demonstrationszug der Roten Hilfe von der Friedrichstraße zum Marienplatz statt. Anfang 1972 stürmt die Polizei das Haus in der Kaiserstraße.
„Kennzeichnend für den ‚Kampf um die Stadt’ am Beginn der 1970er Jahre war, dass sich der uto-
pische Gehalt der angestrebten radikalen Veränderungen von einer globalen Ausrichtung der spä-
ten 1960er Jahre auf die Aneignungspraktiken im urbanen Nahraum verlagerte. Obgleich viele Ak-
tivist/innen wie beispielsweise Fritz Teufel mit dem Zustand der Außerparlamentarischen Oppo-
sition haderten, waren deren Lebensentwürfe doch noch überwiegend durch einen revolutionär-optimistischen Gestus geprägt, der etwa in den Erinnerungen Marianne Enzensbergers förmlich zu greifen ist: ‚Das ist unheimlich schwer heute vermittelbar, wie schön einem jeder Tag vorkam. Also man wachte morgens auf und freute sich irrsinnig, weil man glaubte, dass jeder Tag die Revolution ein Stückchen näher bringt.’“4
1 Siehe „Junge Leute besetzen Wohnhaus in Schwabing“.
2 Süddeutsche Zeitung vom 7. Dezember 1971, 17.
3 Michael Sturm: „‚Passt bloß auf!’ Militante Proteste in München (1969 – 1982)“ in Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrika-
den. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 133.
4 A.a.O., 133.