Materialien 1971

Unsere Wurzeln, unsere Stimmen

Das Gedächtnis der Populärkultur: „Wir haben von den Amis gelernt, wie man kreativ mit der Musikgeschichte umgeht“, sagt Achim Bergmann, Geschäftsführer des kleinen Trikont-Labels, das längst auch Perlen aus dem Archiv der Volksmusik fischt.

Auf Giesings Höhen, unweit des Grünwalder-Stadions, liegt der Sitz der Plattenfirma Trikont. Ein typisches Münchner Vorstadt-Handwerkerhaus mit knarrenden Dielen und niedrigen Zimmerdecken beherbergt mehrere kleine Büro- und Lagerräume. Mehr als 300 Tonträger sind seit 1971 auf dem unabhängig geführten Label erschienen, einige davon stehen ordentlich aufgereiht in Metallregalen. So muss es bei einer kleinen Plattenfirma mit fünfeinhalb Angestellten aussehen. Zwischen Verpackungen, gerahmten „Preisen der deutschen Schallplattenkritik“, an die Wand gehefteten Fanbriefen und Promotionpostern bahnt sich ein niederbayerischer Praktikant den Weg und brüht Kaffee in der Küche auf.

Die Adresse in Giesing existiert schon seit den Siebzigerjahren. Damals veröffentlichte Trikont aber hauptsächlich Literatur. Die Herausgabe von Büchern wurde 1981 eingestellt. Das Aushängeschild von Trikont sind die seit Anfang der Neunzigerjahre erscheinenden CD-Zusammenstellungen mit Musik, die von Gewährsleuten wie etwa Jon Savage oder Sigrid Pfeffer nach subjektiven Maßstäben ausgewählt wurden: Irgendwo zwischen Pop-Oldies, Jazz, Americana und der Frühgeschichte von Folk pflegt Trikont so ein riesiges Schallarchiv populärer Musik. Eine Hierarchisierung zwischen Welt- und Popmusik findet dabei nicht statt, dafür gibt es Hybride wie finnischen Tango oder Russendisko. Immer führen Linernotes die Hörer weiter, erläutern Hintergründe der zum Teil jahrzehntelang vergriffenen Songs und ihrer vergessenen Interpreten. Alle Songs werden offiziell lizenziert. Außerdem hegt das Label selbst einen kleinen, am Rande des Mainstreams aktiven Künstlerstamm: Rocko Schamoni, Bernadette La Hengst oder Hans Söllner, um nur die Umtriebigsten zu nennen. Auch der betagte deutsche Jazzgitarrist Coco Schumann hat vor kurzem ein Album für Trikont eingespielt. Nicht zu vergessen das japanische Duo Coconami, das bayerische Volksmusik mit japanischem Synthiepop und einer Vorliebe für die Ramones unter einen Hut zu bringen sucht. Klingt aussichtslos, gelingt aber.

Bis dahin war es ein weiter Weg. „Arbeitersache – wir befreien uns selbst“ hieß das erste Trikont-Album aus dem Jahre 1971. Darauf der Beitrag eines gewissen Albino mit unsäglicher Flötenbegleitung: „Wir sind alle Fremdarbeiter“. Künstlerisch vielschichtiger ging es erst 1975 zu. Der Rockband Ton Steine Scherben fehlte für eine Nachpressung ihres zweiten Albums „Warum geht es mir so dreckig?“ das nötige Kleingeld. Trikont sprang ein und fungierte als Vertrieb, der die Scherben-Scheiben an linke Buchläden lieferte. Die Scherben waren auch die erste Band, die jenseits des linken Milieus auf Gehör bei Jugendlichen stieß, weil sie Gefühle mit deutschen Texten artikulieren konnten und im Nachhall der Rolling Stones eine eigenständige Formensprache entwickelt hatten. Fortan erschienen TSS-Alben in Koproduktion, wie alle Trikont-Platten mit der schön pathetischen Bestellnummer „US“ (für „Unsere Stimme“).

Hohe Wellen schlug auch „Wie alles anfing“ von Bommi Baumann: Eine auf Interviews basierende Autobiografie über eine Berliner Jugend im Zeichen von Mauer, Rock ‘n’ Roll, ersten Drogenerfahrungen und dem Abgleiten in einen Untergrund politisch motivierter Gewalt in den Jahren nach 1968. Weil Baumann untergetaucht war, gab Trikont statt seiner das Buch heraus und wurde dafür von zwei Seiten in die Mangel genommen: Auf der einen Seite stand die RAF, die dem Autor Verrat vorwarf. Auf der anderen Seite war die Staatsgewalt, die „Wie alles anfing“ verbieten ließ. „Der Mechanismus zur Verselbstständigung militärischen Denkens nahm damals eine gefährliche Entwicklung, die kritisiert werden musste“, ist auch heute noch Achim Bergmanns Meinung über die Berechtigung des Buchs.

Ein Begriff wie „die 68er“ bringt den Trikont-Geschäftsführer ganz schnell auf erhöhte Betriebstemperatur. Dieser Sozialtypus sei eine sträfliche Vereinfachung, schnaubt der 65-Jährige. „Die Beteiligten waren durch unterschiedlichste Herkunftsmilieus geprägt.“ Verschiedenheit sei gerade das konstituierende Element gewesen. Möglich gemacht worden sei der Zusammenhalt auf einer vorpolitischen Ebene, wo es Allianzen, etwa zwischen sogenannten Gammlern und Filmhochschülern, gegeben habe. Bergmann, mit 40 Betriebsjahren inzwischen Dienstältester bei Trikont, stammt aus dem Sauerland und kam 1965 zum Studium nach München, wo er in Schwabing in den Strudel der Studentenproteste geriet.

Gegründet wurde Trikont (der Name leitet sich von der kubanischen Zeitung Trikontinentale ab) bereits 1967 im Umfeld des Kölner SDS. Federführend waren zwei ausländische Studenten, ein Vietnamese, ein Koreaner sowie Gisela Erler und Herbert Röttgen. Castro persönlich empfahl die Veröffentlichung von Ches Tagebüchern. 200.000 Exemplare wurden von Trikont damals im deutschsprachigen Raum verkauft. Ein anderer, reichlich antiquiert wirkender Kassenschlager war „Bauernrevolution in Süd-Vietnam“ von Lê Châu. „Dass da viele Spinnereien passiert sind, musste wohl so sein“, sagt Bergmann. Mit ihm und seiner Partnerin Eva Mair-Holmes lässt sich trefflich über Irrungen und Wirrungen der Linken streiten. Im Gespräch sind sie selbstkritisch, autoritäre Töne sind keine zu hören, und Versäumnisse werden freimütig zugegeben. „Nur über Irrtümer gelangt man zu den Wahrheiten“, ist Bergmanns Antwort auf die Feststellung, dass die zwei Wege des sozialistischen Aufbaus, wie sie in den Siebzigern auch in Schriften des Trikont-Verlags verbreitet wurden, irrelevant geworden sind. Ein wichtiger Verlagsteil sei feministische Literatur in der Reihe „Frauenoffensive“ gewesen, darunter der Klassiker „Häutungen“ von Verena Stefan.

„Danke, Papa!“, kommentiert Eva Mair-Holmes Bergmanns Ausführungen sarkastisch. Meir-Holmes ist acht Jahre jünger als Bergmann und wurde in den Siebzigern beim Blatt sozialisiert, einer nach amerikanischem Vorbild entstandenen alternativen Münchner Stadtzeitung, deren letzte Ausgabe 1984 erschien. „Für uns“, sagt sie, „hatte Musik einen viel höheren Stellenwert als in den Reihen der Studentenbewegung. Die haben Pop nie richtig ernst genommen.“ Die USA stehen in vielfacher Hinsicht Pate für das Trikont-Programm. Das fängt mit Schriften aus der Bürgerrechtsbewegung an, die einst in deutscher Fassung vom Verlag herausgegeben wurden. Klaus der Fiedler, ein Trikont-Künstler der Siebzigerjahre, war eigentlich Stockhausen-Schüler, bevor er, beeinflusst von amerikanischen Hippies, als Straßenmusiker durch die Lande zog.

Auch die bayerisch singende Rockband Sparifankal (mit dem Zündfunk-Journalisten Carl-Ludwig Reichert) stand in Kontakt zu Bands wie Grateful Dead und versuchte deren Ansätze in einer oberbayerischen Bauernhofkommune nachzuleben. „Ein merkwürdiges ästhetisches Amalgam“, erinnert sich Bergmann. „In Deutschland gab es damals keine Massenkultur, die vergleichbar mit der in den USA gewesen wäre. Die konnte dort nur entstehen, weil gesellschaftliche Initiativen von unten mit eingeflossen sind. Europäische weiße Armut trifft hinter den Appalachen auf schwarze Armut, daraus entsteht etwas Großes. Das liegt all den Musiken, die wir lieben, zugrunde.“ Bis Ende der Siebzigerjahre habe in der deutschen Linken dagegen eine „Situation der Ahnungslosigkeit“ geherrscht, was Pop und seine Wurzeln in der alten Musik aus den USA anbelangt. „Wir haben erst von den Amis gelernt, wie wir mit der Musikgeschichte kreativ umgehen können.“ Bergmann nennt Greil Marcus und seine Bücher „Mystery Train“ und „Invisible Republic“, die ihm klargemacht hätten, dass „Folktraditionen stets Elemente von Freiheit und Gegenwärtigkeit“ enthielten.

Bis sich Trikont allerdings dazu durchringen konnte, im eigenen Sandhaufen zu wühlen, um etwa die alten Schellacks mit bayerischen und österreichischen Volkssängern wieder zugänglich zu machen, fegte erst einmal Punk und New Wave über die Linke hinweg und ließ deren Selbstzufriedenheit und Selbstterror ziemlich schnell ziemlich alt aussehen. „Unser Verdikt war damals, dass wir uns nicht einmischen dürfen, denn das war eine neue autonome soziale Bewegung“, erklärt Bergmann. Tatsächlich hatte Ende der Siebziger ein gewisser Geoff Travis von Rough Trade Records in London bei Trikont angefragt, ob es Interesse gebe, die Platten der neuen Bands aus England und den USA zu vertreiben. Diese Chance wurde vertan.

Heute würden das Eva Mair-Holmes und Achim Bergmann gern nachholen, aber sie können rein ökonomisch nicht. Die Krise der Musikindustrie ist auch an Trikont nicht spurlos vorübergegangen. „Wir sind auch nicht schlauer als die anderen und am unteren Ende der finanziellen Machbarkeit angekommen“, bilanziert Bergmann. Und Mair-Holmes fügt hinzu: „Unsere treue Klientel könnte uns noch einige Jahre länger vor dem Abkacken retten.“ Dann fallen einige sehr stichhaltige Argumente, worüber auch im naserümpfenden Indie-Hausen und im oberflächenfixierten Poptown mal nachgedacht werden könnte.

„Die Krise hat nichts mit den kostenlosen Downloads zu tun. Lange vorher wurde eine systematische Entwertung von Musik durch Verramschung und Überangebot betrieben.“ Bei der Begeisterung für die Technik werde vergessen, dass ohne den Input der Künstler alle Technik nichts nutzen würde, sagt Eva Mair-Holmes. „Musik muss wieder als schöpferischer und kreativer Akt wahrgenommen werden.“

Julian Weber


taz. Die Tageszeitung, Berlin, vom 13. März 2009.

Überraschung

Jahr: 1971
Bereich: Kunst/Kultur

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