Materialien 1971
Münchner Prozesse
Die „Deutsche Volksunion“, eine neonazistische Sammlungsbewegung vor allem aus CSU, NPD und Aktion Widerstand, hatte für den April 1971 zu ihrer ersten Massenkundgebung im Schwabingerbräu in München aufgerufen. über 3.000 Münchner Demokraten gingen auf die Straße, „um gegen diese Herausforderung zu protestieren“ (OB Dr. Vogel). Im Anschluss an eine Protestkundgebung, auf der u.a. OB Dr. Vogel und Ministerpräsident a.D. Wilhelm Hoegner zum entschiedenen Widerstand gegen den Neonazismus aufriefen, blockierten die Demonstranten das Bräuhaus. Die Münchner Polizei unter dem Befehl des CSU-Bürgermeisters Steinkohl versuchte mit äußerster Brutalität die Demokraten auseinanderzuknüppeln und den Neonazis den Weg freizumachen. Auf Befehl der Einsatzleitung und in Absprache mit den Neonazis der Aktion Widerstand wurden während der Pressekonferenz des DVU-Chefs Dr. Frey „mehrere der führenden Kommunisten Münchens und Bayerns“ festgenommen. Einigen wurde in diesen Wochen der Prozess gemacht. Die Kommunisten wurden verurteilt, weil „das Rechtsgut“ der neonazistischen Organisationen „auf öffentliches Auftreten und Gehör geschützt werden muss“. (Amtsgerichtsrat Dr. Hill)
I. Wieder Hauptstadt der Bewegung?
Seit den Vertragsverhandlungen in Moskau und Warschau intensiviert die Reaktion in der Bundesrepublik ihre Anstrengungen, das Land und seine Bevölkerung in die Schützengräben des Kalten Krieges zurückzubringen. Die Profite der Rüstungskonzerne, die Herrschaft der Monopole werden — fällt der äußere Feind, die sozialistischen Staaten weg — fragwürdig; die Verleumdung, die Tabuierung der fortschrittlichen, demokratischen Bewegung als „ferngesteuert“, als „totalitär“ wird brüchig.
Die Offensive der Reaktion hat eine organisatorische Seite. Während die CDU/CSU zum alleinigen parlamentarischen Stoßtrupp wird (vgl. die Entscheidung der NPD in Baden-Württemberg, auf eine eigene Kandidatur zu verzichten und stattdessen zur Wahl der CDU aufzurufen), soll auch im außerparlamentarischen Raum eine einheitlichere Sammlungsbewegung geschaffen werden. Unterstützt von CDU/CSU, NPD und Aktion Widerstand versucht der Herausgeber der neonazistischen „Deutschen Nationalzeitung“, diese Sammlungsbewegung in der „Deutschen Volksunion“ zu schaffen.
Zum Ausgangspunkt seiner Bewegung hatte Dr. Frey München auserwählt. In aller Heimlichkeit wurden Ende 1970 die Vorbereitungen zum Gründungskongress der Faschisten-Union getroffen. Demokratische Organisationen und auch die Stadtverwaltung bekamen dennoch davon Kenntnis. 20 Gewerkschafter — Betriebsräte, Vertrauensleute, Gewerkschaftsfunktionäre — schrieben unter dem Titel „Stoppen Sie die Nazi-Provokationen in München, Herr Vogel!“ in einem Offenen Brief an den Münchner Oberbürgermeister:
„Dr. Frey lobte im Jahre 1969 nach den Bundestagswahlen Franz Josef Strauß als den Mann der Zukunft, er rief noch vor wenigen Wochen bei der Landtagswahl zur Stimmabgabe für die CSU auf. Diese Tatsachen lassen also auf einen weiteren ,Freundeskreis Strauß’ schließen, der sich in München bilden will.
Demokraten dürfen zu den ständigen Provokationen der Rechten nicht länger schweigen. Wir rufen alle Münchner zu Protesten gegen das Treffen der Rechtsextremisten um Dr. Frey auf. Vom Oberbürgermeister der Olympiastadt fordern wir das Verbot der Gründungsaktion der sogenannten Deutschen Volksunion.
Die baldige Ratifizierung der Verträge von Moskau und Warschau durch das Parlament in Bonn ist der wirksamste Weg, den Hetzkampagnen des Rechtskartells den Boden zu entziehen.“
OB Vogel, der wenige Monate zuvor schon ein Treffen griechischer Faschisten in München unter ausdrücklichen Polizeischutz gestellt und so seine Durchführung garantiert hatte, unternahm nichts. Die antifaschistischen Gewerkschafter bekamen nicht einmal eine Antwort.
Frey führte sein Gründungsunternehmen durch. Vor dem Tagungslokal, dem „Deutschen Kaiser“, protestierten etwa 200 Demonstranten, vor allem Kommunisten. Gewerkschaften und SPD wollten die „Sache nicht aufwerten“ und blockten Gegenaktionen ab. Die Vorhersage der Kommunisten erfüllte sich bald. Die Nazis fühlten sich ermutigt, nun Großkundgebungen durchzuführen, um ihre Basis zu vergrößern. Zwei Wochen nach dem Gründungsakt im „Deutschen Kaiser“ konstituierte sich in Würzburg die Totschlag-Aktion Widerstand. Nach der Saal-Kundgebung verbreiten sie mit einer vorher ausdrücklich verbotenen Demonstration Terror in den Straßen der Stadt. Im Bericht der Münchner Post (der Zeitung des SPD-Unterbezirks München) heißt es: „Aus einem Lautsprecherwagen tönt: ,… rücksichtslos Widerstand leisten … legal gegen eine legalisierte Verzichtspolitik, illegal, subversiv gegen eine illegale Verratspolitik’. Wem diese Drohung gilt und für wen man den Galgen gedacht hat, der mehrere Plakate ,ziert’, ist klar: ,Hochverräter Willy Brandt, raus aus unserm Vaterland’ und ,Seit Moskau wissen wir’s genau, Brandt heißt die Verrätersau’. Und immer wieder hört man den Mordruf: ,Brandt an die Wand’. Eine kleine Gruppe von Gegendemonstranten wird mit dem Ruf: ,Deutschland, wir kommen’ und ,Fegt ihn weg, den roten Dreck’ zusammengeschlagen.“
Der nächste Schritt auf dem Weg zur nazistischen Massenbewegung soll mit der Kundgebung am 3. April im Münchner Schwabingerbräu getan werden. Woche für Woche wird sie in Freys Deutscher Nationalzeitung unter dem Motto „Abrechnung mit Brandt, Kampf dem Verrat“ angekündigt. Sinn der DVU sei es, der CDU/CSU den Rücken zu stärken für den Kampf gegen die Ostverträge. Solange noch eine Minderheit an das Reich und an das Recht glaube, sei die deutsche Sache und der deutsche Osten nicht verloren. Es gelte jetzt, den Zweiten Weltkrieg politisch zu gewinnen.
In einer Presseerklärung und Flugblättern ruft die DKP zum gemeinsamen Handeln aller Demokraten gegen die beabsichtigte Provokation der Neonazis auf. Sie fordert von OB Vogel das Verbot der geplanten Veranstaltung und von der Regierung in Bonn das Verbot aller neofaschistischen Organisationen in der BRD. Die DKP veröffentlicht auch die Abschrift eines Fernschreibens des Polizeipräsidiums in München, in dem der Text eines Flugblatts mitgeteilt wird, das die Aktion Widerstand in Würzburg an ihre Anhänger verschickt hat. Die Aktion Widerstand ist u.a. als „Ordner-Truppe“ für die Kundgebung in München-Schwabing vorgesehen. Im erwähnten Flugblatt erklärt sie sich so: „Die Jugend Deutschlands ruft zur Aktion Widerstand. Aktiver Widerstand gegen die rote Regierung, gegen Hoch- und Landesverrat. Wie einst in der düsteren Zeit der napoleonischen Unterdrückung die Reden eines Fichte das deutsche Volk veranlasst haben, die Fesseln der Unfreiheit abzuschütteln, so ist es jetzt ebenso allerhöchste Zeit, dass wir gegen Unterdrückung, Verfälschung der Demokratie und folgende Versklavung mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, allenfalls mit der Waffe in der Hand, kämpfen … Jetzt gehen genauere Weisungen über die praktische Durchführung des aktiven Kampfes gegen die roten Genossen und Wegbereiter des Kommunismus: SPD, FDP und DKP … In ganz kurzer Zeit wird die Parole in ganz Deutschland verbreitet sein: ,Wer hat uns verraten: Die Sozialdemokraten’ und ,Brandt an die Wand’ … 2. Im Bekanntenkreis spreche man über den roten Hochverrat von SPD/FDP und KPD, dem zwangsläufig der Kommunismus folgen wird. Nur die CDU/CSU-NPD kann uns retten … 5. Es muss sofort gehandelt werden: Zwischenfälle herbeiführen, damit das Volk aufwacht. 6. Sabotageakte, Sprengstoffanschläge immer dort herbeiführen, wo wir Landesverräter treffen können: in Bonn, in den Parteizentren der Roten, bei Kundgebungen der SPD, FDP und DKP. 7. Direkte vernichtende Angriffe gegen die Verräter Brandt, Wehner, Scheel mit Schusswaffen, Gift und anderen Vernichtungsmitteln. Um drei Verräter ist es nicht schade, wenn wir damit die Freiheit Deutschlands retten können …“
Gegen diese sich zu CSU und NPD bekennende Bande von Mordhetzern steht die immer breitere Front der demokratischen Organisationen in München. Nach der DKP protestieren der DGB, die SPD, Betriebsräte, Gewerkschafter, zahlreiche Friedens-, Jugend- und Studentenverbände. An der Spitze eines Bürgerkomitees ruft OB Vogel „alle Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, in einer eindrucksvollen öffentlichen Demonstration gegen diese Herausforderung zu protestieren …“ Ort: Münchner Freiheit, also knapp 50 m vom Versammlungsort der Nazis entfernt; Zeit: 14 Uhr, wenige Stunden vor Beginn der Nazi-Veranstaltung.
Ein breites Bündnis von Kommunisten und Sozialdemokraten, parteilosen Gewerkschaftern und Studenten unterstützt die von OB Vogel veranstaltete Protestkundgebung und ruft seinerseits auf zu einer vorherigen „Demonstration gegen das Rechtskartell“. Unter der Losung „Der Feind steht rechts — wie eh und je“.
II. 3. April 1971
Der antifaschistische Demonstrationszug soll um 13 Uhr im Stadtzentrum beginnen. DGB und SPD haben als Organisationen nicht zur Teilnahme aufgerufen. Vogel, der starke Mann in der Münchner SPD, und Ludwig Koch, Kreisvorsitzender des DGB-München, stehen ganz auf der Linie des Antikommunismus-Beschluss’ ihrer Partei: keine Aktionseinheit mit Kommunisten. Es zeigt sich, dass die Mitglieder anders denken, davon ausgehen, dass der Kampf gegen den Faschismus die Einheit aller demokratischen Kräfte erfordert.
Um 13 Uhr sind 2.000 Münchner Antifaschisten im Zentrum versammelt. Hinter einem 20 Meter breiten Transparent „Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam gegen rechts“ demonstrieren sie durch die Stadt in Richtung Münchner Freiheit. Hunderte stoßen unterwegs noch hinzu. Die Polizei will verhindern, dass der gewaltige Zug als geschlossener Block auf dem Kundgebungsplatz einzieht. Polizeimotorräder und Polizeiautos verbarrikadieren die Zufahrtsstraße. Im Nu sind sie von den Demonstranten beiseite geräumt. Unter den Sprechlosungen „Strauß und Frey üben fleißig — für ein neues Dreiunddreißig“ und „Arbeitereinheit gegen Faschismus“ marschieren sie zur Münchner Freiheit, wo sie von etwa 500 bereits Versammelten mit solidarischem Applaus empfangen werden.
In ihren Reden erklärten Ernst Müller-Meiningen jun., Ministerpräsident a.D. Wilhelm Hoegner und OB Dr. Vogel, dem Neonazismus müsse entschiedener Widerstand entgegengesetzt werden, wenn ein zweiter Hitler und die erneute Zerstörung Münchens durch Bomben verhindert werden sollten. Mit Bedacht aber vermeiden sie es, zu gemeinsamem Handeln aufzurufen. Stattdessen ist zu hören, der Naziaufmarsch sei rechtmäßig und müsse von der Polizei beschützt werden.
Während die offiziellen Redner umgehend unter dem lauten Protest der Demonstranten in ihren Autos entschwinden, ziehen die 3.000 Kundgebungsteilnehmer geschlossen die 50 Meter weiter zum Schwabingerbräu, das mittlerweile nach allen Regeln der Polizeikunst massiv abgeriegelt ist. Es war für alle selbstverständlich, den Appell zum entschiedenen Widerstand gegen die Neonazis in die Tat umzusetzen, die geplante Großveranstaltung der DVU zu verhindern.
Die Blockade des Schwabingerbräus beginnt. Sie wird acht Stunden dauern, bis 11 Uhr in der Nacht. Vor der Absperrung der Polizei organisieren die Demonstranten ihre eigene. In fünf, sechs Reihen hintereinander stehen sie an den schmalsten, in fünfzehn, zwanzig an den dichtesten Stellen der hunderte Meter langen Kette rund um das riesige Bräuhaus. Ihnen gegenüber tausend blaue Stadt- und behelmte grüne Bereitschaftspolizisten.
Ihnen gegenüber auch die „Ordner“ der Aktion Widerstand. Walkietalkies am Ohr, verständigen sie die Polizei über „Bewegungen“ der Demonstranten, fordern lautstark spezielles Vorgehen der Polizeieinheiten. Oben, hinter dem Panoramafenster im ersten Stock des Hauses, die gemeinsame Leitung von Polizeispitzen und den Führern des Nazi-Aufmarsches.
Oberster Chef der Polizeitruppen ist CSU-Bürgermeister Steinkohl. Als die Demonstranten ihn zur Diskussion auffordern, verschwindet er eiligst im Hof, wo Dutzende vollbesetzter Polizeiwagen stehen. CSU-Steinkohl weiß warum: die Deutsche Volksunion zählt über 100 CSU-Mitglieder in ihren Reihen. Die Allianz zwischen Polizei und Nazis steht auf solidem Fundament.
Die Solidarität der Demonstranten fügt sich in den zahllosen, ständigen Diskussionen noch fester. Junge Arbeiter, Studenten, Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale, Christen, sie diskutieren untereinander, sie diskutieren mit Passanten. „Wir stehen hier, um zu verhindern, dass München wieder einmal zur Hauptstadt der Bewegung gemacht wird.“ Sie haken sich unter, wenn jemand die Absperrung durchbrechen will. Erika Runge, Filmemacherin, später vor Gericht: „Wenn jemand durch unsre Absperrung wollte, dann bildeten wir Ketten, um ihn daran zu hindern. Deshalb standen wir ja da.“
Gegen 16 Uhr versucht eine Gruppe der Demonstranten, mit ordnungsgemäßen Eintrittskarten in den Versammlungssaal zu kommen. Sie wird von der Polizei gewaltsam gehindert. Die Polizisten lassen nur durch, wer von den „Ordnern“ akzeptiert wird. Dabei ist die Veranstaltung als öffentliche angekündigt.
Als Frey gegen 17 Uhr seine Pressekonferenz beginnen will, ist der 2.000 Menschen fassende Saal gähnend leer. Die Blockade ist dicht, sie funktioniert. Den DVU-Führern dämmert, dass ihre Großkundgebung zum Großreinfall werden könnte. Es findet — wie Presseleute berichten — eine weitere Lagebesprechung mit der Polizei statt.
Unmittelbar nach dieser Lagebesprechung führt die Polizei zahlreiche Verhaftungen durch. Verhaftet werden ausschließlich Kommunisten, genauer: „mehrere der führenden Kommunisten Münchens und Bayerns“ (Frankfurter Rundschau). Verhaftet wurde nur, wie später ein Polizist vor Gericht aussagte, auf ausdrücklichen Befehl der Einsatzleitung. Die Verhafteten wurden an einem Spalier jubelnd applaudierender „Ordner“ der Aktion Widerstand vorbei zu den Polizeiwagen geführt, wo sie stundenlang bis zum Abtransport ins Polizeipräsidium festgehalten wurden.
Die gezielte Hatz auf die DKP-Funktionäre brachte Polizei und Nazis nichts ein. Die Demonstranten ließen sich nicht einschüchtern. Zwar konnte Frey am Abend die Polizisten loben, „die gegenüber den Demonstranten ihre Pflicht erfüllt haben“, aber er tat dies vor nur „450 Aktivisten — ein Großteil der geladenen Gäste konnte wegen der Gegendemonstranten nicht ins Haus gelangen“.
Die Repräsentanten und Mitglieder von Aktion Widerstand, Aktion Oder-Neiße, von NPD, Exil-CDU und CSU, von Bayernpartei und Deutscher Volkspartei donnern ihre Grußworte in den weithin leeren Saal. Der Großaufmarsch der Neonazis findet ohne Publikum statt. Die „neue Kraft“ ist keine. Hier nicht. In München-Schwabing haben 3.000 antifaschistische Demonstranten so gehandelt, wie OB Vogel gesprochen hatte: „Ein Hitler war in München genug!“
III. Die Anklage
Während Dr. Frey unter Polizeischutz auf seiner Pressekonferenz die DKP als verfassungswidrig bezeichnete und ihr Verbot forderte, waren draußen verhaftet worden: der DKP-Bezirksvorsitzende Hans Schneider, sein Stellvertreter Werner Feldmann, das Mitglied des DKP-Parteivorstands Lilo Schneider, das Mitglied des DKP-Kreissekretariats Robert Jung und der DKP-Kandidat bei der Landtagswahl 1970, Conrad Schuhler.
Hans Schneider, Lilo Schneider und Conrad Schuhler wurden mittlerweile der Prozess gemacht. Hans Schneider wurde der Aufforderung zu strafbaren Handlungen angeklagt. Er habe aufgerufen, vor dem Schwabingerbräu „mit allen legalen Mitteln“ den Appell von OB Vogel zu verwirklichen.
Lilo Schneider wurde der schweren Körperverletzung angeklagt. Sie habe versucht, ihren von der Polizei festgenommenen Genossen Schuhler gewaltsam zu befreien. Schuhler wurde der Aufforderung zu strafbaren Handlungen, des Landfriedensbruchs, der Beleidigung, der Körperverletzung und des Widerstandes gegen die Staatsgewalt angeklagt. Schuhler habe dazu aufgerufen, das Bräuhaus zu blockieren, er habe dazu aufgerufen, das Bräuhaus zu stürmen, er habe sich selbst beim Ansturm auf die Polizei aktiv hervorgetan, er habe die Polizisten „Drecksäue“ geheißen, er habe Polizisten tätlich angegriffen und verletzt, er habe bei seiner Festnahme erheblichen Widerstand geleistet.
Die Anklage umfasst zwei Ebenen: die politisch-verfassungsrechtliche und die kriminalistische. Indem die Anklage strikt absieht von einer Würdigung des faschistischen Inhalts der DVU-Kundgebung, das Vorgehen der Demonstranten als „strafbare Handlung“ qualifiziert, stellt sie faschistische Organisationen und Ideologie gleichberechtigt neben demokratische Aktivitäten: allen politischen Doktrinen und Organisationen müsse gleichermaßen der grundgesetzliche Anspruch auf Meinungs-, Informations- und Versammlungsfreiheit eingeräumt werden. Damit würde der Nazismus rechtlich-politisch wieder offiziell hoffähig gemacht werden — der Nazi-Bewegung wird per Gericht Polizeischutz vor demokratischen Demonstranten verordnet. Der Katalog der kriminellen Delikte soll belegen: Die aktiven Antifaschisten, vor allem die Kommunisten, verstoßen nicht nur grundsätzlich gegen die Verfassung, sie bedienen sich auch im einzelnen krimineller Methoden. Verteidigung und Angeklagten kam es darauf an, beide Behauptungen zu widerlegen.
IV. Die Prozesse
Gegen Hans Schneider und Schuhler formuliert die Anklage ihr politisch-juristisches Weltbild: Am 3. April 1971 fand vor dem Schwabingerbräu der Zweikampf zweier extremer Gruppen statt, bei dem die eine — die Kommunisten — der anderen verwehrte, was sie selbst für sich beansprucht, nämlich Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit. Dieses Vorgehen müsse empfindlich bestraft werden, da es an die Grundnormen unserer politischen Verfassung rühre. Für den Nebenkläger — die Anwälte des Polizeipräsidiums München — beweisen die Vorfälle, „dass die Deutschen nicht reif sind für die Demokratie“.
Dem halten Angeklagte und Verteidiger Schmitt-Lerman entgegen:
1. Es handelte sich nicht um das Gegeneinander zweier extremer Gruppen. Die Gegendemonstranten waren repräsentativ für das demokratische München. Sie waren geschlossen von der Kundgebung zum Versammlungslokal gezogen. Nicht, um dort im gleichberechtigten Nebeneinander mit den Neonazis „pluralistisch“ ihre Meinung kundzutun, sondern um faktisch „den Anfängen zu wehren“, „zu verhindern, dass München noch einmal zur Hauptstadt der Bewegung wird“. Es lag eine echte Verteidigungs- und Widerstandssituation vor.
2. Ein Angriff gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung hätte vorgelegen, wenn die Nazi-Provokation der öffentlichen Mordhetze im Angesicht der Weltöffentlichkeit und mitten in der Olympiastadt ohne sichtbaren Widerstand der Öffentlichkeit geblieben und nicht als Notwehrsituation der Demokratie verstanden worden wäre.
3. Die Behauptung der Anklage, auch inhaltlich demokratiefeindliche und faschistische Organisationen dürften so lange in keiner Weise an ihrer Entfaltung gehindert werden, als das Bundesverfassungsgericht noch kein formelles Organisationsverbot ausgesprochen habe, ist ebenso gefährlich wie falsch. Tatsächlich sind inhaltlich faschistische und neonazistische Bestrebungen ipso iure — d.h. auch ohne Verbot — verfassungsrechtlich stigmatisiert und begründen ein Nothilferecht und eine Nothilfepflicht des Staatsbürgers zugunsten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dies folgt aus dem allgemeinen verfassungsrechtlichen antifaschistischen Vorbehalt der Verfassungsordnung, dem antifaschistischen Wesensgehalt der Verfassungsordnung selbst, sowie der Einbettung auch der bundesdeutschen Verfassungsentwicklung in die internationale, in der Grundtendenz antifaschistische Autoritätsstruktur, wie sie in den „Feindstaatenklauseln“ der Art. 107,53 der UNO-Charta und in UNO-Resolutionen „gegen das Wiedererstehen nazistischer Organisationen in der BRD“ zum Ausdruck kommt.“1
4. Die Nothilfepflicht der Staatsbürger war um so eher gegeben, also Justiz und Polizei ihr verfassungsmäßig vorgeschriebenes Eingreifen ausdrücklich verweigerten. Für die Demonstranten bestand damit das „außergesetzliche Widerstandsrecht“.
5. Faschismus-Analysen zeigen, dass faschistische Organisationen für die an den Kategorien von Schwäche und Stärke orientierten faschismusanfälligen Schichten um so positiver erscheinen, je mehr sie sich als überlegene Autorität und Kraft darstellen können. Den von Völkerrecht und Verfassung vorgeschriebenen Kampf gegen das Wiedererstarken des Nazismus leisten also vor allem die demokratischen Kräfte, die in aktivem politischem Einsatz den Faschisten diese Art Selbstdarstellung verwehren. Den Demonstranten vom 3. April 1971 kommt danach Verfassungsrang zu.
6. Die Bedeutung des entschlossenen Eintretens für demokratischen Fortschritt und friedliche internationale Zusammenarbeit ist längst erwiesen. Hans Schneider und Lilo Schneider sind 1956 bzw. 1961 vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe wegen Hochverrats und Staatsgefährdung verurteilt worden, weil sie wie andere Kommunisten damals nahezu allein für heutige Positionen sozialdemokratischer, liberaler und regierungsoffizieller Politik eingetreten sind: Anerkennung der deutschen Ostgrenzen, der Staatsqualität der DDR, der Atomwaffensperre, der friedlichen Koexistenz. Versuchten die Nazis vor einem Jahr noch, München zu Festung im Kampf gegen die Ostverträge zu machen, so haben in diesen Monaten über 50.000 Münchner mit ihrer Unterschrift für die Ratifizierung der Verträge demonstriert.
Das Gericht — Amtsgerichtsrat Dr. Hill — verwarf die Argumente von Verteidigung und Angeklagten ausnahmslos. Auf den Trümmern einer restlos eingestürzten „kriminellen“ Anklage — auch erfahrene Prozessbeobachter hatten selten so viele widersprüchliche Eidesleistungen von Polizisten erlebt — sprach der Amtsgerichtsrat sein Urteil: Zwar besäßen die Angeklagten „ernste Motive und anerkennenswerte Ziele“; höher aber stehe das Rechtsgut auch neofaschistischer Organisationen auf öffentliches Auftreten und Gehör. 300 DM Geldstrafe für Hans Schneider, Freispruch für Lilo Schneider, 800 DM Geldstrafe für Conrad Schuhler.
V. Die Folgen
In einer Pressemitteilung stellte die DKP-Südbayern zu den Prozessen u.a. fest:
„In der Urteilsbegründung werden die Zeugenaussagen der Demonstrationsteilnehmer völlig ignoriert — darunter des Betriebsratsvorsitzenden der Firma Siemens, Willi Dick, des Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Schriftsteller, Dieter Lattmann, des Vorsitzenden der Deutschen Journalisten Union, Eckart Spoo, des Mitglieds des Bayrischen Landtags und SPD-Landesvorstandes Bayern, Dr. Jürgen Böddrich, der während der Nazizeit 12 Jahre inhaftierten Widerstandskämpferin Karola Karg, die übereinstimmend die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes gegen die neofaschistische Gefahr unterstrichen … Mit diesem Urteil ist der Aktion Widerstand, die am 3. April 1971 unter dem Schutz der Polizei zu dem DVU-Treffen aufmarschieren konnte, und allen reaktionären Kräften ein richterlicher Freibrief ausgestellt, weiterhin mit Provokationen und Androhungen von Gewalt bis hin zur Mordhetze gegen die Ratifizierung der Ostverträge vorzugehen.
Das vom Publikum — darunter mehrere ausländische Beobachter — mit Empörung aufgenommene Urteil macht alle Versicherungen des Nationalen Olympischen Komitees und des Münchner Oberbürgermeisters fragwürdig, die Olympiastadt sei sicher vor neonazistischen Provokationen.“
Lew Ginsburg, sowjetischer Schriftsteller, einer der ausländischen Beobachter in einem Artikel (Literaturnaja gaseta vom 1. Mai 1972):
„Bei diesem Prozess war alles bedeutsam: die Atmosphäre, das Kräfteverhältnis und das Verhalten der Teilnehmer … Schneider wurde zur Bezahlung von 300 Mark Strafe verurteilt. Das Strafmaß könnte als Lappalie erscheinen: zu Adenauers Zeiten saß Schneider wiederholt dafür im Gefängnis, dass er für einen außenpolitischen Kurs eintrat, den heute die Brandt-Regierung vertritt … Und dennoch begriff die Mehrheit der im Saal Anwesenden das Urteil als moralische Ermunterung der Nazisten und als Verurteilung aktiver politischer Tätigkeit der Demokraten.
Trotz alledem war etwas anderes wichtiger als das Gerichtsurteil. Als Zeugen der Verteidigung sind Menschen zum Prozess gekommen, die dem ganzen Land bekannt sind: der Publizist Kurt Hirsch, der Vorsitzende des Schriftstellerverbands der BRD, Dieter Lattmann, die Regisseurin Erika Runge. Der Prozess, von der Obrigkeit als routinemäßige Gerichtsuntersuchung eines ,Straßenkrawalls’ angelegt, schlug in ein ernstes politisches Ereignis um. Zeuge Neumann, ein älterer Ingenieur, sagte: ,Wir dürfen nicht zulassen, dass im Jahr der Olympiade die Stadt München zu einem Symbol des Faschismus wird.’ Eine 63jährige Hausfrau sagte als Zeugin: ,Ich habe im Leben so viel Leid gesehen, so viel Tränen und Blut, dass ich nicht begreifen kann, warum auf der Anklagebank nicht die Neonazisten sitzen?’
Alle begriffen, dass so oder so dieser Vorfall auf der Straße mit der Frage verknüpft ist, die heute das ganze Land erregt: mit der ,Ostpolitik’ der Regierung, mit der Ratifizierung der Verträge, gegen die die Opposition kämpft, mit dem Leben Europas …“
Conrad Schuhler
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1 Vgl. hierzu Hans E. Schmitt-Lerman, Kommunisten als Hochschullehrer. Prof. Dr. Horst Holzer, wiss. Rat, München gegen Freie Hansestadt Bremen, 27 ff.
Kürbiskern. Literatur und Kritik 3/1972, 509 ff.