Materialien 1971
Alle für Kipphardt
Nachdem der Münchner Stadtrat sich bisher nicht dazu bereitgefunden hat, die Entlassung Heinar Kipphardts rückgängig zu machen, ist es zu einer ganzen Reihe von Aktionen und Protesten gekommen, die unterstreichen, wie sehr der künstlerische Rang der Münchner Kammerspiele bedroht ist.
Die wichtigsten Regisseure und Bühnenbildner, die die nächste Spielzeit der Münchner Kammerspiele bestreiten sollten, haben ihre Verträge und Absprachen rückgängig gemacht, falls Kipphardt nicht wieder in sein Amt gesetzt wird.
Dieter Giesing, bisher Oberspielleiter, hat um sofortige Lösung seines Vertrages gebeten. Ulrich Heising hat ebenfalls seine Verpflichtungen abgesagt. Der frühere Intendant der Kammerspiele Hans Schweikhart will unter den Umständen, dass Kipphardt nicht Dramaturg ist, in der kommenden Spielzeit nicht inszenieren. Ebenso Horst Siede, der nach seinem Erfolg mit den beiden Kroetz-Einaktern eine neue Inszenierung angeboten bekommen hat, Hans Hollmann, der Büchners „Dantons Tod“ inszenieren sollte, Hans Heyme, der an den Kammerspielen beim „Prinz von Homburg“ und in der darauffolgenden Spielzeit bei der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ Regie führen sollte. Klaus Peymann hat ein Solidaritätstelegramm an Kipphardt geschickt.
Die Bühnenbildner Jürgen Rose, Karl Ernst Herrmann, Bernd Kistner, Karl Kneidl und H.W. Lenneweit haben ihre Mitarbeit bis zum Widerruf der Entlassung Kipphardts aufgekündigt.
Zahlreiche Schauspieler der Kammerspiele, unter ihnen Ulrich Hass, Gerhard Winter, Vadim Glowna, Heinz Baumann, Ruth Drexel, Hans Brenner, Ulla Berkewicz, Christa Berndl, haben unter gegenwärtigen Umständen um ihre sofortige Entlassung gebeten.
Unter den Bühnen und Ensembles, die sich durch Telegramme mit Kipphardt solidarisch erklärt haben, befinden sich jetzt schon das Stuttgarter Ensemble des Staatsschauspiels (Mitunterzeichner Peter Palitzsch, Jörg Wehmeier, Hannelore Hoger und Traugott Buhre), die Städtischen Bühnen Köln, der stellvertretende Intendant des Schillertheaters Berlin, Albert Beßler, Mitglieder der Volksbühne Berlin, die Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin, das Theater in Wuppertal und das Theater am Turm in Frankfurt. Auch die Intendanz des Landestheaters Darmstadt, der Kasseler Schauspieldirektor Kai Brach und die WDR-Fernsehdramaturgie, angeführt von Günter Rohrbach, haben sich mit Kipphardt solidarisiert. Rainer Werner Fassbinder hat sich dem Solidaritätsprotest angeschlossen. Das „Nachtasyl“-Ensemble des italienischen Teatro e Azione hat gleichfalls ein Solidaritäts-Telegramm an Kipphardt gesandt, das von Giorgio Strehler und der gesamten Truppe unterzeichnet ist.
Andererseits hat die Mehrheit des Münchner Kammerspiel-Ensembles (90 Prozent) Telegramme an die Ensembles aller deutschsprachigen Bühnen in der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreich geschickt und um Solidarität gebeten.
In München kam es bei allen Aufführungen von Biermanns „Dra-Dra“ zu Spielunterbrechungen, Protesten und Forderungen nach Diskussion von Seiten der Zuschauer.
Im Namen des „Verlags der Autoren“ haben Ursula Bothe und Karlheinz Braun den Münchner Kulturausschuss aufgefordert, seine Entscheidung zu revidieren. In der Bundesrepublik wohnende Theaterkritiker (Benjamin Henrichs, Peter Iden, Hellmuth Karasek, Rolf Michaelis, Ivan Nagel, Henning Rischbieter und Hans Schwab- Felisch) sehen in der Entlassung Kipphardts einen „einmaligen Eingriff in die notwendige politische und künstlerische Autonomie eines Theaters“. Auch sie fordern eine Revision der Entscheidung des Münchner Kulturausschusses.
Günter Grass: „… finde ich beschämendes Material.“ Mit Recht fragte man: Wo hat er das gefunden? Er wird’s doch nicht vom OB Vogel haben, der auch als Drachenbrut abgebildet werden sollte und mit dem Grass gerade in Schleswig-Holstein zusammengearbeitet hatte? („Gemeinsam versuchten wir, die Auswüchse der Demagogie zu beschneiden.“) Und schon musste er in München wieder weiterbeschneiden: Kipphardt nannte er gleich mal „dumm und gemeingefährlich“, einen Nachbarn Ziesels, er sieht ihn „im schmalen Bereich, der zwischen Josef Goebbels und Eduard von Schnitzler offengeblieben ist“. Wie das eben so geht, wenn man gerade vom Auswüchsebeschneiden kommt. Grass war offenbar sehr erregt von dieser nicht realisierten Programmheft-Idee. Dass Everding die SPD-Kollegen rechtzeitig und erfolgreich geschützt hatte, genügte ihm nicht. Dass die Idee überhaupt eine schlechte Idee war, sah er nicht. Die Erregung diktierte ihm: „Ich bleibe beharrlich und fürchte auch keinen falschen Beifall.“ Die Überschrift dieses Artikels: „Abschusslisten“. Kipphardt sei unter die „Hexenjäger“ gegangen, solche Methoden seien bisher nur „rechts“ üblich, nicht aber links. Nun will es nicht die Ironie der Geschichte, sondern der von Grass selbst beschworene Geist der Verhältnisse: Kipphardt wurde abgeschossen. Und zwar von rechts. Ein linksliberaler Chefdramaturg wird abgeschossen, weil er … ja, warum eigentlich?
Weil er zum Intendanten gegangen war und dem eine mäßige Programmheft-Idee gerade zum Verbieten vorgelegt hatte? Schließlich kannte Kipphardt seinen Intendanten, und die Verhältnisse waren ihm auch nicht unbekannt, also konnte er sich denken, was mit der Drachenliste geschehen würde. Er hat also seine Pflicht getan. Passiert war auch nichts. Kein Wort, kein Bild hatte das Programmheft erreicht.
„Hetze, die zum Mord führen kann“, donnerte trotzdem Grass. Aber selbst in dem Text der Kipphardt-Mitarbeiter kann man lesen, dass nicht die Personen gemeint waren, sondern die Funktionen. Und mit diesem Satz kriegt das ganze Unterfangen wieder einigen Sinn. Damit ist es dann doch noch ein Aufruf zur Veränderung der Verhältnisse, die durch Amerongen, Abs, Schiller, Vogel und Strauß lediglich bezeichnet werden! Wo ist denn da Mordhetze?
In der Sitzung des Kulturausschusses des Münchner Stadtrats, in der Kipphardt abgeschossen wurde, diskutierte man säuberlich separat über Kipphardt und über das Dra-Dra-Stück. Das Stück kam gut davon. Kulturreferent Dr. Hohenemser konnte den Ausschuss davon überzeugen, dass der „Kampf gegen den „Stalinismus“ das Thema dieses Stücks sei Und bleibe! Auch Intendant Everding rettete sich mit ortsüblichem Gerät, als er sagte, er habe mit diesem Stück etwas angenommen, was in der DDR verboten sei und was in Russland keine Chance habe. So ist das eben mit den Metaphern: Kipphardt und seine Mitarbeiter und ebenso linksliberale Kritiker jubeln, weil sie eine Antikapitalismus-Parabel haben. Die, die das Sagen haben, wissen, es ist was Antistalinistisches. Wenn da nicht die nichts als komische Programmheft-Panne passierte, dann erführen diese beiden Seiten wahrscheinlich überhaupt nicht, dass sie das Stück so herzlich verschieden verstehen. Dafür sind Programmhefte gut. Also, das Stück wurde gerettet. Kipphardt nicht. OB Vogel schloss sich ziemlich erregt dem Grass-Artikel an: „Ich lehne Gewalt von jeder Seite und gegen jedermann ab.“
Zur Gewalt wird aber nicht im Programmheft, sondern nur im Stück aufgerufen. Aber das ist ja innerhalb der Parabel. Dass man Parabeltiere schlachtet, heißt nicht, dass man die damit bezeichneten Menschen auch schlachten will. Die würde man ja gern nur in den Ruhestand schicken. OB Vogel meinte in der Ausschußsitzung, den Schluss, die photographierten Prominenten nicht zu morden, könnten wohl nur Leute ziehen, die ein „literarisches Studium von vielen Semestern und eine politische Bildung von vielen Jahren“ hinter sich hätten. Für „schlichte Gemüter“ ergebe sich aus dem Programmheft „in hohem Maße“ der Anreiz, diese Prominenten auch wirklich umzubringen. Deshalb musste Kipphardt abgeschossen werden. Obwohl er nichts, nichts, nichts getan hat.
Wenn man die anschwellende Hetze gegen links ansieht, dann weiß man auch, dass es nicht der Jargon linksintellektueller Programmhefte ist, der schließlich Schüsse auslöst. Das wissen Sie doch, Herr Oberbürgermeister, von wo nach wo die Schüsse fallen. Doch nicht von links nach rechts. Die deutsche Schussrichtung geht immer noch von rechts nach links. Sogar Günter Grass, der gerade noch Kipphardt unter die Abschiesser einreihen wollte, ist (metaphorisch gesprochen) wider Willen selber ein Abschuss gelungen. Eine groteske Situation. Wenn OB Vogel schon so nervös ist, dass er in Kipphardt einen Anstifter zum Mord sieht, warum geht er dann nicht zum Staatsanwalt? Eine andere Beschuldigung als dieser völlig unhaltbare Unsinn wurde nicht formuliert. Und alle diese Formulierungen vibrieren geradezu vor demokratischer Tadellosigkeit. Aber das Ergebnis: Einer ist gefeuert für nichts und wieder nichts. Das Äußerste, was Kipphardt vorzuwerfen wäre, ist eine Meinung.
Karasek hat recht, der einzige Weg, diesen Skandal zu beenden, ist der Weg zurück. Aber wie geht das? Ganz sicher nicht ohne die Solidarität aller, die in der Kulturindustrie arbeiten.
Deshalb schlage ich vor:
1. Die Schauspieler der Kammerspiele, die in diesem Skandal einen Skandal erkennen, machen von jetzt bis zum Widerruf der Entlassung „Dienst nach Vorschrift“, das heißt, sie engagieren sich nicht mehr, sie liefern Text ab, auf den Proben und abends. Und sie erklären den Zuschauern abends, warum sie das tun, und fordern auch das Publikum zur Solidarisierung auf.
2. Autoren, Bühnenbildner und Komponisten erklären, dass sie die Kammerspiele bestreiken werden, bis die Entlassung widerrufen wird. (Eine Liste derer, die sich diesem Streik anschließen, wird im Büro des „Arbeitskreises Kulturindustrie“ aufgelegt. Adresse: Eckart Spoo, 8 München 25, Kidlerstraße 12.)
3. Schauspieler und Regisseure erklären, dass sie an keiner Inszenierung in den Kammerspielen mitarbeiten, bevor die Entlassung nicht widerrufen wird. (Eine Liste wird im Büro des „Arbeitskreises Kulturindustrie“ aufgelegt.)
4. Die Kritiker erklären, dass sie keine Premiere der Kammerspiele mehr besprechen werden, wenn die Entlassung nicht widerrufen wird. (Eine Liste wird im Büro des „Arbeitskreises Kulturindustrie“ aufgelegt.)
5. Intendant Everding tritt von seinen Geschäften zurück, bis die Entlassung widerrufen wird Oder er erklärt uns, aus welchen Gründen Kipphardt nicht mehr Kammerspieldramaturg sein kann.
6. Günter Grass prüft, ob OB Vogel und der Kulturausschuss mit der Entlassung Kipphardts die richtige Konsequenz aus seinem Artikel „Abschusslisten“ gezogen haben oder nicht.
Eckart Spoo
Die Zeit 22 vom 28. Mai 1971.