Flusslandschaft 1971

SPD

»Klassische Entscheidungsfreiheit // Im Mittelländischen Meer / woher unsere Kultur stammt / fand freie Wahl statt / zwischen Scylla / und Charybdis // Es hieß zwar die beiden / hätten sich heimlich verbündet / doch die meisten entschieden sich / für die eine / oder die andre // Sonder-
barerweise / blieb keiner von ihnen / am Leben / außer Odysseus / Der erkannte die Wahl nicht an«1

Der neue Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele, Heinar Kipphardt, brachte 1970 das Stück „Der DRA-DRA“ von Wolf Biermann auf die Bühne. Politiker sehen sich Gewaltdrohungen ausge-
setzt. Eine Zeichnung auf dem Programmheft zeigt einen Drachen und an ihm vierundzwanzig Menschen, vor allem Politiker und unter ihnen Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel. Vogel erklärt: „Es ist der Stadt nicht zuzumuten, einen Mann zu beschäftigen, der zur Ermordung des Oberbürgermeisters auffordert.“ Kipphardts Vertrag wird gegen den Wunsch des Intendanten August Everding im Mai 1971 nicht verlängert. Inzwischen setzt sich auch der Verband Deutscher Schriftsteller für Kipphardt ein; Schauspieler kündigen. Zweiundzwanzig Regisseure, unter ihnen Dieter Dorn, Ulrich Heising, Hansgünter Heyme, Hans Hollmann, Angelika Hurwicz, Wilfried Minks, Peter Palitzsch, Claus Peymann und Peter Stein, protestieren im Juni mit einem offenen Brief: „Wenn dieser Eingriff der Behörden in die künstlerische Freiheit der Theaterarbeit hinge-
nommen wird, stellt er eine Ermunterung dar, die Grundrechte politischer und künstlerischer Freiheit in allen Theatern der Bundesrepublik behördlich einzuschränken.“ Aus Solidarität mit dem Protest des Ensembles der Kammerspiele gegen die Entlassung ihres Chefdramaturgen nimmt das Frankfurter Theater am Turm die Einladung der Kammerspiele, mit seiner „experi-
menta“-Inszenierung des „Frankenstein“ von Wolfgang Deichsel am 13. Juni auf der Woche des Werkraumtheaters in München zu gastieren, nicht an. Der sehr engagiert begonnene Autoren-, Inszenierungs- und Schauspielerboykott versandet schließlich.2 Am 15. Mai beginnt die Abend-
zeitung
mit ihrer kritischen Serie „Autoren der Gegenwart“. Hella Schlumberger porträtiert hier am 11. Dezember Heinar Kipphardt.3

27. Januar: Diskussion von Oberbürgermeister Vogel mit Jungsozialisten vor sechshundert Zu-
hörern in der Technischen Universität an der Arcisstraße 21. Die Gegensätze sind nicht über-
brückbar.4 27. Februar: Unterbezirksparteitag der SPD im Hofbräuhaus am Platzl. Der Münchner SPD-Vorsitzende Dr. Helmut Meyer greift Vogels „autoritären Führungsstil“ an.

Viele Zeitgenossen sagen: »Des is doch völlig wurscht, was d wäist!« Am 22. November findet die Landtagswahl statt. Zum ersten Mal erhält die CSU mit 56,43 Prozent mehr als fünfzig Prozent der Wählerstimmen. Die SPD verliert 2,5 Prozent und landet bei 33,29.

(zuletzt geändert am 28.2.2021)


1 Erich Fried, Unter Nebenfeinden. Fünfzig Gedichte, Berlin 1970.

2 Siehe „Alle für Kipphardt“ von Eckart Spoo.

3 Siehe „Vom großen Besänftiger ‚Kunst’“ von Hella Schlumberger.

4 „Anfang der 70er Jahre haben wir in der SPD heftig über den Rätegedanken und das imperative Mandat der Abgeordne-
ten gestritten. Das Thema, über das vor allem Johannes Agnoli schrieb, war ein großes, überall wurde darüber diskutiert. Rudi Schöfberger hat öfter gesagt, die Abgeordneten würden sich wie Luftkissenfahrzeuge gerieren, die sich nur alle vier Jahre zum Tanken herunter lassen. Er meinte auch, wenn sich die Abgeordneten bei ihren Abstimmungen nur auf ihr Gewissen berufen, dann sollen sie sich in Zukunft von ihrem Gewissen aufstellen lassen. Ich selbst habe in einem Vortrag darauf hingewiesen, dass Abgeordnete aufgrund des Parteienprivilegs an die Meinung der Basis gebunden seien. Leider müssen wir heute einen Roll Back, eine schrittweise Entpolitisierung der breiten Massen, zur Kenntnis nehmen.“ Konrad Kittl am 21. April 2009.