Materialien 1971

Vom großen Besänftiger „Kunst“

Autoren der Gegenwart (VIII.): Heinar Kipphardt

Von Hella Schlumberger. Die AZ-Serie „Autoren der Gegenwart“ versucht die Stellung eines Autors in unserer Gesellschaft darzustellen. In der heutigen Folge kommt Heinar Kipphardt, der Autor, zu Wort. Das Gespräch mit seinen Fragen nach Werk, Arbeits- und Denkweise dreht sich auch um die Münchner Kammerspiele, aus denen er als Chefdramaturg unter spektakulären Umständen ausschied.

Wenn man im August ungefähr 50 km von Schwabing nach Nordosten, in Richtung Erding fährt, vorbei an Bauernhäusern, die weiß sind vom Kot der Störche, muss man am Dorfgasthof scharf rechts abbiegen, dann führt der ungeteerte Weg zu einer alten Mühle, die sehr schön, beinahe karg eingerichtet ist; oder wenn man im Oktober in Richtung Obermenzing fährt, vorbei am Campingplatz und der „Rosenschau“, dann wird man vom selben Hausherrn begrüßt: Heinar Kipphardt (49). Der Ex- Chefdramaturg der Kammerspiele, in hellblauem Hemd, blaugrauer Hose oder im Tennisdress mit gelben Frottehandtuch um die Schultern, wird umwedelt von Pluto, seinem jungen Boxer.

Noch ist die Kipphardt-Affäre zu frisch, die Ohnmacht des Intendanten, die Nutzlosigkeit der Solidarisierungen von Ensemble, Regisseuren vergangen, um näher darauf eingehen zu müssen. Kipphardt hat aus seiner politischen Überzeugung als Marxist nie ein Hehl gemacht.

Er wollte versuchen, der veralteten Verwaltung auf neue Sprünge zu helfen, zeitnahes Theater machen, das – wie er sagt – „den Zuschauer in einer gewissen freien Partnerschaft lässt, ihn nicht nur hermetischen Ergebnissen gegenüberstellt, sondern ihn teilnehmen lässt an einem Prozess des Findens“.

Ein Weg des Widerstandes

Dr. med. Kipphardt, sein Weg vom Nervenarzt der Berliner Charite, zum Dramaturgen am Deutschen Theater in Ostberlin, zum Autor von „Der Hund des Generals“ (1962), „Joel Brand, die Geschichte eines Geschäfts“ (1965), „Die Nacht, in der der Chef geschlachtet wurde“ (1967), „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ (1964), der Bearbeitung von Lenz’ „Soldaten“ und den zwei Kriegserzählungen „Die Ganovenfresse“ (1964) – um nur das Wichtigste zu nennen – sein Weg ist nie der Weg des geringsten Widerstandes gewesen.

1964, bei der Verleihung des Fernsehpreises der Deutschen Akademie der darstellenden Künste formulierte er es folgendermaßen: „Ein Schriftsteller muss der Gesellschaft die Frage stellen, die sie zu verdrängen wünscht. Er muss unbequem sein.“

Früher sprach man, wenn man von Ihnen sprach, von „objektiver Weltsicht“, jetzt spricht man von Marxismus. Wie passt das zusammen: Objektivität und Ideologie, oder ist das eine Entwicklung?

„Ich meine, das Interessante am Marxismus ist doch, dass er eine kritische Wissenschaft ist und kein Glaubenssystem. Wenn Marxismus durch Objektivität zu beschädigen wäre, dann wäre das schlimm für den Marxismus. Soweit ich sehe, ist er doch das einzige gedankliche System, das eine untersuchende Haltung zur Welt hat und das die Veränderung von Wirklichkeit begünstigt, das sich nicht außerhalb stellt von den sonstigen Bemühungen, Welt für Menschen passender und angenehmer zu . machen.“

Wie erklären Sie sich die 1964 um sich greifende Angst vor der „Dokumentarischen Welle“, diese „Angst vor den Fakten“, wie Sie es einmal nannten?

„Ja, im Grunde genommen ist doch der bürgerliche Begriff der Literatur und der Kunst der Begriff des ,ganz anderen’, nicht? Alle Leute sind im Lauf des Tages Zwängen ausgesetzt, sie werden entfremdet, verstehen immer weniger, noch einen Sinn in ihrem Leben zu erblicken, dann kommt der große Besänftiger ,Kunst’, man betritt eine andere Welt, die das Höhere bringt oder das Tiefere. Dann ist man wieder befähigt am nächsten Tag, sich den Zwängen auszusetzen, sich strapazieren zu lassen.

Dagegen ist das ,Dokumentarische Theater’ seit langem der erste ernst zu nehmende Versuch, große politische Stoffe nicht zu beschreiben aus der Intuition einer Einzelperson, sondern sie zu beschreiben als belegbare Stoffe, als überprüfbare Stoffe. Die Literaturkritik äußerte deshalb große Angst, weil dadurch einfach ihre nicht mehr stimmenden Literaturbegriffe ins Rollen kamen.

Innerhalb des Systems könnte man dazu kommen, mit Produktionsgruppen zu arbeiten. Aber gegen diesen Abbau von Hierarchie, gegen ein In-Dienst-Stellen der Verwaltung in den Dienst der Produktion, dagegen hat sich natürlich sofort die Verwaltung gewehrt. Unbedingt sollte der Verwaltungsdirektor dem Intendanten unterstellt sein, wobei ich auch nicht glaube, dass ein Intendant eine gute Institution ist.

Ein Direktorium mit arbeitenden Gremien, Theater produzierenden Leuten wäre sicher besser für die heutige Situation. Dass die Verwaltung diktiert, wieviel Produkte in welchem Wechsel etwa erzeugt werden, das ist selbst unter Kapitalismusbedingungen tief rückständig.“

Woran arbeiten Sie im Augenblick?

„Ich spreche nicht so wahnsinnig gern darüber, weil einem dann die Wege, eine Arbeit aufzugeben, ein bisschen abgeschnitten sind. Der Arbeitstitel wäre: ,Warten auf den Guerillero?’ Es beschäftigt sich also an Hand von konkreten Fabeln mit Fragen möglicher Revolution in unserer Welt.“

Und wie sehen Sie das Verhältnis von Dokumentation und Dramatik?

„Also für mich ist das ,Poetische’ im Drama ein recht unhandhabbarer Begriff, es scheint mir eher das Finden des Charakteristischen zu sein. Nach einer Phase der Stoffsammlung, sagen wir in wissenschaftlicher oder auch journalistischer Weise, stellt der Dramatiker aus den Materialien etwas her in einer sehr verkürzten Form ein kondensiertes Dokument. Dabei muss man sich fragen: wie kommt da etwas zustande wie Betroffen-Sein beim Zuschauer?

Mit welch szenischen Techniken ist das zumachen? Sind die Figuren wichtiger, ist die Fabel wichtiger, kann man noch mit einer Fabel arbeiten? Was mich betrifft, so glaube ich, dass man auch mit Fabelbündeln arbeiten muss. Und wer in seiner Zeit lebt, hat die Chance, dass die Fragen, die ihn interessieren, bedrücken, die er gern verdrängen möchte, dass die auch die anderen bedrücken.“

Zum Beispiel die Problematik im „Oppenheimer“.

„Was mich betrifft, so halte ich ,Oppenheimer’ für ein Stück, das ganz besonders viel mit mir zu tun hat, mit meiner Identität. Das mag vielleicht merkwürdig klingen. Aber diese Problematik gibt es mehrfach bei mir in Stücken, nämlich Fachleute, die in ihrem Fachbereich sehr fähig und sehr integer sind, die dann in bestimmte politische Zusammenhänge gestellt, zu eklatanten Versagenshaltungen kommen.“

Schreiben Sie eigentlich lieber Dramen oder Erzählungen? Und haben Sie auch Gedichte geschrieben?

„Ich habe sogar ziemlich viel an einem Roman gearbeitet, an dem ich weiterarbeite, Mir sind die epischen Methoden vertraut, ich wende auch auf dem Theater eine epische Form an, einerseits, weil es die am weitesten objektivierte Methode, andererseits, weil es die offenste ist. Also in einer bestimmten Phase von Jugend, wenn man herausgefunden hat, wie beschissen diese Welt ist, die man doch nicht beherrschen kann, dann findet ein Rückzug statt.

Da bekommt das Schreiben diese magische Komponente, dass man benennt, was man empfindet, und sich so davon befreit. Da habe ich auch außerordentlich viele Gedichte geschrieben.“

Wie stehen Sie eigentlich zu Schillers „Bühne als moralischer Anstalt“?

„Tja, also mit dieser Linie der Dramaturgie habe ich nie etwas anfangen können. Dramatiker, die ich lieber mochte, waren von Anfang an Shakespeare, Büchner, Grabbe, später der Brecht. Die Stoffe daraufhin zu untersuchen, in wieviel Entscheidungs-Situationen sie den Helden stellen, impliziert ja, als wäre die Geschichte bestimmt von personalen Entscheidungen. Das ist nicht der Fall. Der Mensch ist ein Wesen, das einerseits der Geschichte ausgesetzt ist, die er andererseits selber macht.“

Was haben Sie eigentlich während Ihrer Zeit an den Kammerspielen von Ihren Vorstellungen verwirklichen können und was nicht?

„Na ja, man muss diesen Zeitraum von 1½ Jahren als eine Art von Vorarbeit nehmen. Ich meine, ich bin nicht in der Lage, dieses Theatersystem, den Umkreis seiner Zuschauer und die Marktsituation zu verändern, nicht? Ich glaube, wir haben innerhalb der gegebenen Struktur einen wirklichkeitsbezogenen Spielplan mit kritischen Interpretationen gemacht und neue Formen der Zusammenarbeit ausprobiert. Man stößt sehr schnell an die Grenzen dieses Stadttheatersystems mit seinem Übergewicht an Verwaltung, die es unflexibel macht.“

Womit beschäftigen Sie sich zur Zeit?

„Im Moment interessieren mich zwei Gegenbewegungen: einmal die Leute, die ein Optimum an sozialem und gesellschaftlichem Interesse haben, die Revolutionäre. Dann die Leute mit der äußersten Zurückgezogenheit aus sozialen Bezugssystemen.

Das wird ein Film werden über Lebensläufe, Verhaltensweisen und Wahrnehmung von Welt bei Schizophrenen. Ihre Weltsicht ist so etwas wie Naturverfremdung, Verrückung, die aus tiefer Kommunikationsgestörtheit kommt.“

Die heilbar ist?

„Die ja eigentlich sowieso nur schubweise auftritt, meist bei besonders sensiblen, intelligenten Leuten. Sie als eine Fluchtbewegung aus den sozialen Bezügen zu nehmen, als verschärfte Neurose, ist eine neue wissenschaftliche Entdeckung. Die Erfolge der Schweizer und amerikanischen Schulen sprechen aber doch dafür, dass diese Theorie eine aussichtsreichere Straße ist als die klassische Psychiatrie.“

Für welches Publikum schreiben Sie und für welches würden Sie gern schreiben?

„Was das Theater angeht, so schreibe ich für die privilegierten Bildungsschichten. Für Arbeiter ist das Theater so verschlossen wie ein Hotel. Mit Stücken wie ,Verhör von Habana’, ,Eisenwichser’ oder ,Dra-Dra’ in Werkhallen gehen, wäre eine interessante Erfahrung, das ist bei uns aber immer an Verwaltungsmaßnahmen gescheitert. Außerdem ist man völlig auf den Goodwill der Unternehmensleitung angewiesen.

Versuch einer Gegenaufklärung

Soweit ich sehe, kann man in diesem Land auch nicht ohne weiteres von der Arbeiterklasse als ,revolutionärem Subjekt’ reden, deshalb ist es ziemlich unverbindlich, wenn man sich ein anderes Publikum wünscht. Soweit ich sehe, gibt es bei uns nur so etwas wie den Versuch einer Gegenaufklärung bei dem kritischen Teil der privilegierten Bildungsschichten.“

Sie sagten einmal, ein Schriftsteller müsse unbequem sein; wie weit geht das, wo werden die Grenzen gesetzt zwischen kritischen und revolutionären Stücken?

„Ja, schauen Sie, die Mechanismen unserer Zensur sind die Marktmechanismen: ,Kunst ist frei, sofern sie verkaufbar ist’. Aus diesem Marktmechanismus resultiert die zweite Zensur, die Selbstzensur, ein Mechanismus der Anpassung, den ein Autor unbedingt bekämpfen sollte.“

Wie würden Sie sich eine Gesellschaft vorstellen, in der Sie leben wollen?

„Tendenziell anstreben würde ich Gesellschaftssysteme, die mehr Selbstverwirklichung ermöglichen, mehr lustvolles und weniger zwanghaftes Handeln. Dieses Mehr an Selbstbestimmung wäre ein Sozialismus, der seine demokratische Basis nicht verlässt in den Räten, der immer wieder kontrolliert wird an den Bedürfnissen der Leute, die dieses Gesellschaftsmodell machen wollen.“


Abendzeitung vom 11./12. Dezember 1971, 8.

Überraschung

Jahr: 1971
Bereich: SPD

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