Materialien 1972
Hasenbergl – Beispiel einer Gettovorstadt
In der Bundesrepublik gibt es – nach vorsichtigen Schätzungen – zwischen einer halben Million und 800.000 Obdachlose, das heißt, in provisorischen Notunterkünften Lebende.
Doch der provisorische Status ist in Vergessenheit geraten, die Notunterkünfte sind zu Dauerein-
richtungen geworden, man hat sich mit der Existenz der Vorstadtgettos abgefunden: der soziale Wohnungsbau stagniert; in München beispielsweise – und nicht nur hier – ist er sogar rückläufig.
In der Olympiastadt, die 1972 „die Welt zu Gast“ haben wird, gibt es noch immer 7.300 Obdachlo-
se, darunter 2.700 allein im Hasenbergl.
Es geht in diesem Bericht darum, zu zeigen, wie und unter welchen Bedingungen eine Minderheit lebt, für die keine Lobby sorgt – Minderheiten wie Obdachlose zeichnen sich ja gerade durch sehr geringe Einflussmöglichkeiten auf gesellschaftliche Prozesse aus; es soll gezeigt werden, wie in der kapitalistischen Gesellschaft der Bundesrepublik, der privater Gewinn und wirtschaftliche Prospe-
rität einer (anderen) Minderheit vor dem Gemeinnutz kommt, für jene gesorgt ist, die für sich selbst zu sorgen – aus welchen Gründen immer – kaum in der Lage sind. Die Beschreibung der Wohnverhältnisse in diesem Stadtviertel wird zwangsläufig jene Vokabel zum Streitobjekt machen, die „Sentimentalitäten in sich aufsaugen und die inhumane Wirklichkeit verdecken kann“ (Mit-
scherlich), auf die aber nichtsdestoweniger zurückzukommen sein wird: menschenwürdiges Woh-
nen.
Verkehrssituation
Hasenbergl liegt im äußersten Norden Münchens. Die Blocks der Obdachlosenunterkünfte in Ha-
senbergl-Nord grenzen unmittelbar an die Stadtgrenze Münchens.
Die Straßenbahnlinie 8, die zum Hasenbergl führt, ist eine der meistfrequentierten. Die meist streckengleiche Linie 6 (die aber nicht bis Hasenbergl, sondern nur bis Harthof verkehrt) ist ebenso stark frequentiert, so dass ein Fahrgastausgleich mit nachherigem Umsteigen nicht in Frage kommt. Selbst in relativ verkehrsruhigen Zeiten benötigt man für die Fahrt, von der Stadtmitte (Stachus) aus gerechnet, mindestens 40 Minuten. Dazu kommen weitere Anmarsch-
wege von 10 bis 16 Minuten. – Die Streckenführung der neuen U-Bahn lässt das Hasenbergl völlig unberücksichtigt.
Innerhalb des Hasenbergl verkehren zwei Linien: eine verbindet die Endhaltestelle der Linie 8 mit Hasenbergl Mitte (Stanigplatz) und dem westlichen Rand des Hasenbergl; die andere verkehrt nur an Werktagen – und da nur zur Entlastung zu Spitzenverkehrszeiten – zwischen Linie 8 und dem südlichen Hasenbergl.
Mit dem Auto ist für eine Fahrt zur Stadtmitte bei mittlerer Verkehrslage ebenfalls mit einer Drei-
viertelstunde zu rechnen.
Da es im Hasenbergl weder weiterführende Schulen noch Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl gibt, andererseits die Autodichte sehr gering ist (auf elf Personen kommt ein Auto), sind die meisten der Schüler und Arbeitenden auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen.
Soziale Struktur
Das Hasenbergl ist kein soziostrukturell uniformes Gebilde, wie es der gemeinsame Name für die verschiedenen Gebiete vielleicht vermuten lassen könnte. Die Streuung der Berufe beispielsweise reicht vom vorherrschenden Berufstyp des Hilfs- und unteren Facharbeiters in Hasenbergl-Nord bis zu unteren und mittleren Angestellten und Beamten im südlichen und am Westrand des Ha-
senbergl; aber auch akademische Berufe und ein stärkeres Kontingent an Arbeitern sind hier an-
zutreffen. Genaue Angaben über die Berufssituation der Bewohner des gesamten Hasenbergl sind, obschon überfällig, nicht vorhanden; an einer ersten Aufstellung von Daten anhand der letzten Volkszählung wird zur Zeit gearbeitet. Dennoch kann die Aussage gemacht werden, dass im Ha-
senbergl eine sehr hohe Frauenarbeitsquote vorliegt. Es ist klar, dass selbst eine Teilzeiteschäf-
tigung von Frauen für die Kindererziehung katastrophale Folgen haben muss, wenn durch die Doppelbelastung der Frau durch Beruf und Haushalt überhaupt noch von einer Möglichkeit zur sinnvollen Erziehung gesprochen werden kann. In einem besonders starken Maße gelten diese Aussagen für Hasenbergl-Nord, wo die überdurchschnittlichen Haushaltsgrößen und die weit unter jedem Durchschnitt liegenden Raumverhältnisse von einem erzieherischen Notstandsgebiet sprechen lassen können.
Bevor jedoch die Vorschul- und Schulsituation dargestellt wird, kurz ein paar Angaben über die Einwohnerzahlen der verschiedenen Gebiete; ihre Kenntnis ist für die Beurteilung der vorhande-
nen bzw. fehlenden Einrichtungen unerlässlich.
Die bis heute etwa 32.000 Einwohner des Hasenbergl ballen sich in den Gebieten Hasenbergl Nord, Mitte und am Westrand. Einfamilienhäuser und freifinanzierte Mietwohnungen trifft man vor allem im südöstlichen Gebiet (Siedlungsstil).
Hasenbergl-Nord (ehem. Lager Frauenholz): 2.979 Einwohner
Hasenbergl-Nordost (Thelottstraße): 1.537 Einwohner
Hasenbergl-Mitte: 17.534 Einwohner
Hasenbergl-Süd: 8.420 Einwohner
Feldmoching-Ost (soweit zum Hasenbergl gehörig): 1.460 Einwohner
zusammen: 31.930 Einwohner
In diesem Zusammenhang interessiert noch die Zahl der Miet- und freifinanzierten Wohnungen; sie vermögen eine Vorstellung von den Einkommensverhältnissen der Mehrheit der Bewohner geben. Die Zahlen beziehen sich auf 1968; aus diesem Jahr liegt die letzte verfügbare Statistik darüber vor.
Damals gab es:
5.378 Wohnungen zur Miete
168 Eigentumswohnungen
48 Eigenheime.
Das Verhältnis dürfte sich inzwischen weiter zugunsten der Mietwohnungen verändert haben. 1972 wird die mittlere Bezugszeit für zwei weitere Komplexe sein: am Feldmochinger Anger werden 870 Wohneinheiten; in Hasenbergl-Nord an der Winterstein-/Stösser-Straße 350 Wohneinheiten ent-
standen sein (Mietwohnungen).
Arbeitsplätze
Das Hasenbergl ist eine reine Wohnsiedlung. Das bedeutet, dass Arbeitsplätze lediglich in Form von Stellen für Verkäuferinnen, Putzkräfte etc. existieren, von ganz wenigen Ausnahmen im Dienstleistungsgewerbe einmal abgesehen. Nach den Ergebnissen einer Bonner Untersuchung sind die außerhalb des Hasenbergl gelegenen Arbeitsplätze überdurchschnittlich weit entfernt; die An-
fahrtszeiten betragen für öffentliche Verkehrsmittel fast 40 Minuten, für Autofahrer stark die Hälf-
te (22 Minuten). Das bedeutet, 43 Prozent haben eine Anfahrtszeit von mehr als einer halben Stun-
de, die durchschnittliche Entfernung vom Arbeitsplatz beträgt für den im Hasenbergl wohnenden „Arbeitnehmer“ 6,8 km.
Außer den hier mitgeteilten Daten zur Arbeitsplatzsituation im Hasenbergl gibt es so gut wie keine weiteren. Wie der Gründungsrektor der Bremer Universität, von der Vring, in ähnlichem Zusam-
menhang meinte, hat hier die Wissenschaft im Vergleich zur Erforschung des Hühnerkropfes bis-
lang wenig geleistet, einmal davon abgesehen, dass Daten zur allgemeinen Sozialstruktur des Ha-
senbergl längst nicht auf dem Stand sonst üblichen statistischen Wissens sind. In absehbarer Zeit sollen jedoch aus dem Material der letzten Volkszählung Sondererhebungen angestellt werden – initiiert von Arbeitsgemeinschaften im Zusammenhang mit dem Münchner Amt für Stadtentwick-
lung und Datenanalyse.
Altersaufbau
Viele der drückendsten Mißstände gehen auf das Konto der spezifischen Altersstruktur des Hasen-
bergl bzw. auf die Missachtung dieser Gegebenheiten durch die Planung (die Stadt spricht in die-
sem Zusammenhang gerne von „Planungsversäumnissen“). Eine Fülle von Benachteiligungen für die Bewohner des Hasenbergl ist die Folge; prognostische Studien wurden erst in neuerer Zeit er-
stellt, so etwa vom Münchner Stadtentwicklungsamt 1970.
Schon ein kurzer Gang durch eigentlich alle Gebiete des Hasenbergl überzeugt von der ungewöhn-
lichen Altersstruktur. überall sind Kinder zu sehen, junge Mütter, wenig alte Menschen. Der Pro-
zentsatz der unter Einundzwanzigjährigen liegt mit 40,2 Prozent (!) weit über dem Landesdurch-
schnitt (31,5 Prozent). Auf die Haushaltsgrößen übertragen, sieht das so aus: Haushalte haben im Durchschnitt 2,66 Mitglieder, im Hasenbergl sind es zwischen 3,8 und 4,2. Der Anteil der Alten dagegen ist mit knapp 5 Prozent weit unter dem Durchschnitt der Stadt München, der bei 12,7 Prozent liegt.
Noch krasser sehen die Vergleichszahlen zwischen dem Münchner Durchschnitt und dem von Ha-
senbergl-Nord aus: während 7,5 Prozent der gesamtmünchner Jugend unter 6 Jahre alt ist, sind es im Hasenbergl-Nord 10,4 Prozent; zwischen 6 und 9 Jahren lauten die Vergleichszahlen 4,3 Pro-
zent bzw. 12,9 Prozent (!); zwischen 10 und 13 Jahren 3,4 Prozent bzw. 12,6 Prozent (!); zwischen 14 und 15 Jahren 1,4 Prozent bzw. 6,2 Prozent; zwischen 16 und 19 Jahren 4,1 Prozent bzw. 10,8 Prozent.
Gerade umgekehrt ist es bei den Zahlen des gesamtmünchner Durchschnitts und des nördlichen Hasenbergl, bezogen auf die Alten: hier sind beispielsweise 7,4 Prozent der Bevölkerung aller Münchner Stadtteile älter als 70 Jahre, im Hasenbergl nur 1,9 Prozent.
Zwei weitere sehr krasse Zahlen sollten vielleicht noch herausgestellt werden: in München sind 16,6 Prozent jünger als 15 Jahre, in Hasenbergl-Nord dagegen 42,1 Prozent.
Das bedeutet den bei weitem höchsten Prozentsatz an Jugendlichen in ganz München und die wohl „unausgeglichenste“ Altersstruktur, die selbstverständlich nicht ohne weitreichende Konsequenzen auf die verschiedenen Bedürfnisse der Hasenbergler bleibt, besonders was Einrichtungen für die Jugend betrifft, wie Kinderkrippen/Kindergärten und Kinderhorte, Schulen, weiterführende Schu-
len, Freizeiträume und Spielplätze.
Kindertagesstätten
Der Bestand an Kindertagesstätten im Bereich des Hasenbergl liegt etwa ein Drittel unter dem des gesamtmünchner Durchschnitts. Die Zahl der Kindergartenplätze im Hasenbergl reicht nicht ein-
mal für die berufstätigen Mütter; für 1.500 Kinder unter 3 Jahren stehen ganze 100 Plätze in Kinderkrippen zur Verfügung. Kindergartenplätze sind ebenso Mangelware: 557 bestehende für insgesamt 1.700 Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren. Kindergruppen, die bis nahe an 50 Mitglieder heranreichen oder diese Zahl gar überschreiten, sind keine Seltenheit, übrigens auch nicht in anderen Münchner Kindergärten. Bei dieser hoffnungslosen Überfüllung und Überforderung des pädagogischen Personals wird jede individuelle Betreuung zur Farce – die Kindertagesstätten werden zu Kinderaufbewahrungsstätten und Dressuranstalten degradiert.
Alleine die Aufstockung der Differenz, die zwischen dem Bestand an Kindertagesstätten im Ha-
senbergl und in Gesamtmünchen besteht, würde den Bau weiterer 187 Kindergarten- und 291 weiterer Hortplätze verlangen. Dazu kommen neue Bedarfsmeldungen aus den bei den Neubau-
gebieten Feldmochinger Anger und Winterstein-/Stösserstraße: zusätzliche 770 Kindergartenplät-
ze.
Für die Schulen im Bereich des südlichen Hasenbergl ist überhaupt kein Hort (für Schulpflichtige) vorhanden. Eine Umfrage des Elternbeirates der Eduard-Spranger-Schule ergab einen Sofortbe-
darf von 223 Hortplätzen, für 1972 dagegen wurde ein Bedarf von 290 Hortplätzen prognostiziert.
Im Frühjahr 1968 begannen in vier Münchner Kindergärten Versuche zur vorschulischen Erzie-
hung, d.h. Förderung durch Einführung von Lernspielen: Lesen, Rechnen, Formauffassung. Darunter befand sich ein Hasenbergl-Kindergarten. 1969 wurde das Modell auf eine weitere Kindertagesstätte im Hasenbergl übertragen, auf diejenige der Schule an der Thelottstraße.
Schulen
„Durch die Erkrankung der Klasslehrerin hat Ihr/Ihre Sohn/Tochter seit heute Schichtunterricht. Leider können wir an unserer Schule die verwaisten Klassen nur jeden 2. Tag beschulen. Viele unserer Schüler und Schülerinnen kommen mit dem Schulbus um 7.45 Uhr und fahren um 12.35 Uhr zurück. Bei jeweils drei Stunden Unterricht müsste eine ganze Klasse auf dem Gang oder auf der Straße von 10.15 Uhr bis 12.30 Uhr warten. Leider haben wir niemand zur Beaufsichtigung. Auch können wir infolge der kleinen Schulzimmer keine anderen und zusätzlichen Schüler und Schülerinnen mehr unterbringen. Bitte haben Sie für unsere Maßnahme Verständnis!“1
Die allgemeine Benachteiligung der Hasenbergl-Bewohner, die sich aus den verschiedenen kon-
kreten Unterkunfts- und Wohnsituationen besonders für die Kinder ergibt, lässt sich anhand der Schülerstatistik ablesen. Während im Stadtdurchschnitt von zehn Schülern drei die Oberschule besuchen, sind es im Hasenbergl-Durchschnitt nur stark halb so viele (16,5 Prozent). Dass diese Größe kein Zufall ist, sondern konkreter Ausfluss konkreter Bedingungen, beweist die doppelt so hohe Sonderschülerquote, die das Hasenbergl aufweist: 10,5 Prozent gegenüber 5 Prozent im Stadtdurchschnitt. Man kann dabei zynischerweise auch von einem „minderwertigen Schüler-
material“ ausgehen, wie dies ein Münchner Stadtrat tat; sozialwissenschaftlich ist die Fiktion der Startchancengleichheit (mag sie noch so verbreitet sein) jedenfalls nicht haltbar. Eine Schüler-
statistik wie die des Hasenbergl wird wohl kaum anders aussehen können, wenn Unterschicht-
kinder wenig und schon gar keine individuelle Frühförderung erfahren, wenn sie in beengten Wohnungen keine lerngerechte Umgebung vorfinden und die meist berufstätigen Eltern den Kindern bei den Schulaufgaben nicht helfen können. Dazu kommt, dass es im Hasenbergl keine einzige weiterführende Schule gibt, das heißt, sowohl Schüler als auch Lehrlinge müssen Schulen in Schwabing oder in anderen Stadtteilen besuchen, wo sie noch oft genug als „Hasenbergler“ apostrophiert werden. Nach einer Umfrage durch Elternbeiräte haben viele Eltern erklärt, bei aus reichenden Schulverhältnissen im Hasenbergl auch ihre Kinder in höhere Schulen zu schicken.
Von weiterführenden Schulen einmal ganz abgesehen, fehlt es auch an Basisschulen. Die katastro-
phalen Folgen davon sind Schichtunterricht, an manchen Schulen bis zu 95 Prozent, und Klassen-
frequenzen bis zu 50 Schülern. Diese Situation betrifft derzeit 5.571 Schüler in 167 Klassen, denen insgesamt 118 Unterrichtsräume zur Verfügung stehen. Anders gesagt: von den in Gesamt-Mün-
chen fehlenden 120 Klassenzimmern entfallen alleine auf das Hasenbergl 571. Noch einmal anders: die 32.000er-Bevölkerung des Hasenbergl trägt die Schulversäumnisse der 1,4-Millionenstadt München zu beinahe 50 Prozent. Diese düsteren Zustände verdunkeln sich weiter, wenn man mit weiteren 570 Schülern rechnet, die aus den beiden Neubaugebieten Feldmochinger Anger und Winterstein-/Stösserstraße in Hasenbergl-Nord bis 1972 hinzukommen werden. Dass dann un-
tragbare Zustände eintreten werden, ist nicht nur Ansicht der Elternbeiräte.
Aufgrund außerordentlicher Aktivitäten einzelner Elternbeiräte, aber auch des „Gemeinsamen El-
ternbeirates der Schulen am Hasenbergl“ wurde nach den Fehlplanungen der letzten Jahre auch von der Stadt versucht, Schulbauprojekte zu forcieren, bzw. in höhere Dringlichkeitsstufen zu brin-
gen. Der Schuletat wurde innerhalb der letzten 5 Jahre beispielsweise von 30 auf 130 Mill. DM erhöht, unmittelbare „Erleichterungen“ sind zwei neue Grundschulen sowie die Erweiterung einer bereits bestehenden Tagesheimschule. Diese Tagesheimschule dient der Realisierung des Resozia-
lisierungskonzepts der Stadt München: 40 Prozent Obdachlosenkinder sollen zusammen mit 60 Prozent Kindern aus Gesamt- und vor allem Nordost-Hasenbergl unterrichtet werden, um so einen Abbau von Vorurteilen zu erreichen. Da die Besuchsgebühren für die Tagesheimschule jedoch häu-
fig nicht bezahlt werden können (50,- DM mit Verpflegung, Ermäßigung möglich), entfielen 73 Prozent der Gebührenschulden bereits auf Obdachlosenkinder; die Folge davon war, dass die Ob-
dachlosenkinder nur noch einen Satz von 24 Prozent ausmachen, im nächsten Schuljahr werden es noch weniger sein.
Spiel- und Bolzplätze
In kürzeren und gelegentlich auch längeren Abständen berichtete die Münchner Presse über die Situation der Hasenberglkinder, oft im Zusammenhang mit Spielplätzen und der Frage der Grün-
flächenfreigabe. Gegen den Beschluss der Stadt München, die Grünflächen freizugeben (Oktober 1970), glaubte der Ortsverband Hasenbergl der CSU Front machen zu müssen: „Schon jetzt sehen Sie die Folgen: Lärmende Kinder, Verunreinigung des Rasens, Belästigungen für die ganze Sied-
lung … Auf den Grünflächen besteht erhöhte Gefahr für Sie und Ihre Kinder (!!!) … Wussten Sie, dass die spielenden Kinder Ihre Grünanlagen zum Müllabladeplatz machen und Ihnen damit Ihre nächste Umgebung total verschandeln? Es geht um Ihre ureigensten Interessen! … Die Sozialisten (sic!) haben sich selten um die Belange des Einzelnen gekümmert. Helfen Sie sich selbst! Fordern Sie nachdrücklich, dass die Freigabe der Grünanlagen rückgängig gemacht wird.“ (Auszüge aus einem Flugblatt). Die Münchner Presse hingegen feierte die Freigabe als einen Akt der Vernunft und münzte sie in ein Lob für die Weitsicht der Stadt um. Dabei geriet außer acht, dass die Un-
terkunftssatzungen jahrelang als Pressionsinstrumente gegen die Mieter verwendet worden waren und teilweise noch immer gegen sie verwendet werden:
_ _ _
Landeshauptstadt München
Amt für soziale Wohnungsfragen
Betreff:
Verstoß gegen § 4 der Unterkunftsanlagensatzung
Sehr geehrte Frau …,
wiederholt, fast täglich, wurde festgestellt, dass Ihre Söhne die in der Wohnanlage entstandenen Grünanlagen als Fußballplatz benützen. Dem nicht genug, stieg Ihr Sohn … am … 70. … Uhr über den Zaun zum Werkstättenhof und beschädigte denselben erheblich. Auch überstieg Ihr Sohn … den Zaun zur Pumpstation …
Das Verhalten Ihrer Söhne stellt, wie Ihnen bereits mündlich erklärt, einen groben Verstoß gegen § 4 der Unterkunftsanlagensatzung vom 19.12.68 dar und könnte uns veranlassen, das mit Ihnen bestehende Benützungsverhältnis sofort zu beendigen.
Wenn wir ausnahmsweise noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen, d.h. von einer Beendi-
gung des Benützungsverhältnisses Abstand nehmen, so geschieht dies nur unter der Vorausset-
zung, dass Sie sofort veranlassen, dass Ihre Söhne die Grünanlagen nicht mehr als Fußballplatz benützen und das Übersteigen der Zäune unterlassen …“2
_ _ _
Neben den Spielplätzen am Heinrich-Braun-Weg, an der Stösserstraße, einem Freizeit-Jugend-
heim und zwei Fußballplätzen gibt es eine Menge unzureichender, primitiver Sandkästen und Kleinspielplätze (Schaukeln, Klettergerüste, Rundläufe etc.). Im Oktober 1971 wurde – die Stadt scheint sich der unzureimenden Spielplatzsituation bewusst zu sein – ein neuer Spielplatz ein-
geweiht, nachdem die Stadt erfreulich unbürokratisch erhebliche Zuschüsse aufgewandt hatte. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Robinson- oder Abenteuererspielplatz. Das pädagogi-
sche Konzept dieses leider noch viel zu seltenen Spielplatzes besteht darin, dass man die Kinder an und für sich nicht Ungefährliches unter pädagogischer Aufsicht tun läßt. Der Spielplatz besteht aus einem größeren umzäunten Gelände, auf dem die Kinder treiben können was sie wollen: Hütten bauen (Baumaterial ist vorhanden) oder Feuer machen, Seilbahn fahren (es ist eine Primitiv-Seilbahn vorhanden) etc.
Freizeit
Die vorhandenen Spielplätze sind nur für Jugendliche und Kinder unter 10 Jahren zugelassen. Es ergibt sich also ein besonderer Mangel an Freizeitmöglichkeiten für die über 10Jährigen, und der Hinweis auf ein paar vorhandene Bolzplätze muss ziemlich verlegen aussehen. München rühmt sich ja immerhin, die Stadt mit dem höchsten Freizeitwert zu sein.
Freizeitheime hat das Hasenbergl nur ungenügend aufzuweisen, eines in Hasenbergl-Nord (Ba-
rackenbau) und ein weiteres in Hasenbergl-Mitte. Noch schlechter sieht es im Unterhaltungsbe-
reich aus: es gibt kein einziges Cafe für Jugendliche, keine Gaststätten (aus den wenigen vorhan-
denen werden sie hinausgeworfen), geschweige eine Diskothek mit Tanzbetrieb. Filmveranstal-
tungen bleiben auf den religiösen Bereich beschränkt, also von einer der Kirchen veranstaltet. Eine rühmliche Ausnahme bildet der bereits erwähnte Abenteurerspielplatz, der für über 14jährige Jugendliche kaum attraktiv sein wird.
So sind Jugendliche also nach den benachteiligenden Zuständen in den Schulen und im familiären Bereich der eigenen Initiative und dem eigenen Einfallsreichtum überlassen, ohne eine Stätte zu besitzen, woraus ihnen Kreativität oder doch das Bewußtsein eines Kreativitätsmangels erwachsen könnte. Es bleibt die Straße.
Wohnsituation
Rein äußerlich lassen die Siedlungen des Hasenbergl nichts von der speziellen Problematik der Trabantenstadt erkennen. Es gibt hier Wohnblocks im zentralen Hasenbergl, die auch nicht schö-
ner sind als anderswo; es gibt am westlichen Rand des Hasenbergl die Wohnriesen der Neuen Heimat oder anderer Bauträger, die das Gefühl der Verlorenheit ebenso aufkommen lassen wie anderswo. Die baulichen Normen sind hier den üblichen angeglichen, die Wohnungen selbst sind so groß, dass sie die Wohnbedürfnisse auch in psychologischer Hinsicht befriedigen, also sowohl Kommunikation als auch ein Sich-Zurückziehen gestatten. Die Ausführung ist solide, Schall- und Wärme-/Kälte-Isolation zumindest ausreichend. Die Blöcke sind durch relativ großzügige Grün-
flächen getrennt, auf denen Kindern das Spielen erlaubt ist.
Ganz anders dagegen in Hasenbergl-Nord, dem ehemaligen Lager Frauenholz, dessen Baracken einfallslosen und primitivsten Blöcken gewichen sind. Nach der Fertigstellung wurden sie von Kinderreichen, Flüchtlingen und Ausländern aus allen Stadtteilen Münchens bezogen – als vor-
übergehende Unterkünfte für Obdachlose.
Im September 1970 führte das Gemeinwesenarbeitsteam (im folgenden GWAT genannt; es wird getragen von dem Caritasverband der Diözese München-Freising und der Victor Gollancz-Stiftung) eine Datenerhebung durch, wobei 629 Haushalte erfasst wurden. Erste Angaben bezogen sich auf die Dauer der Obdachlosigkeit. Dabei ergab sich, dass 31,3 Prozent der Haushalte (das sind 198 von 629) 5 Jahre oder weniger obdachlos waren; zwischen 6 und 10 Jahren obdachlos waren 32,7 Prozent der Haushalte (das sind 205); zwischen 11 und 15 Jahren waren es 21,7 Prozent (136) und zwischen 16 und 20 Jahren obdachlos waren immerhin noch14,3 Prozent (90 Haushalte).
Die Größe der Haushalte im Erhebungsbereich ergab folgendes Bild:
Größe der Haushalte in Hasenbergl-Nord (Basis: 629 Haushalte)
1-Personen-Haushalt: 130
2-Personen-Haushalt: 61
3-Personen-Haushalt: 84
4-Personen-Haushalt: 97
5-Personen-Haushalt: 82
6-Personen-Haushalt: 61
7-Personen-Haushalt: 41
8-Personen-Haushalt: 29
9-Personen-Haushalt: 15
10-Personen-Haushalt: 18
11-Personen-Haushalt: 8
12-Personen-Haushalt: 2
16-Personen-Haushalt: 1
Die durchschnittliche Haushaltsgröße beträgt demnach etwa 4,2 Personen für Hasenbergl-Nord, die Vergleichszahl für die gesamte BRD lautet 2,66. Bezeichnet man die Haushalte mit 4 und mehr Personen als Großhaushalte, so ergibt sich für Hasenbergl-Nord eine Quote von 56 Prozent Groß-
haushalten — eine Zahl, die mit den Erfahrungen anderer Obdachlosenstätten in etwa korrespon-diert.
Die Zuweisung des Wohnraumes erfolgte nach einem Belegungsschlüssel, der ein und zwei Perso-
nen einen Raum zuwies; drei und vier Personen zwei Räume; für 5 bis 7 Personen wurden 3 Räume zur Verfügung gestellt; für 8 bis 10 Personen 4 Räume – jede weitere Person garantierte einen Wohnraum mehr. Obwohl dieser Belegungsschlüssel in keiner Weise als familiengerecht angese-
hen werden kann, wird man die tatsächlichen Belegungen noch schlechter nennen müssen: so sind zum Beispiel in der Statistik fünf neunköpfige Familien ausgewiesen, denen lediglich 3 Räume als Wohnfläche zur Verfügung stehen; Fünfpersonenhaushalte sind in 2 Räumen zusammengepfercht und eine 16-köpfige Familie gar hat nur 5 Räume zum Wohnen. Auf der anderen Seite gibt es auch Familien, denen mehr Wohnraum zugeteilt wurde; als ihnen nach dem Verteilerschlüssel zustän-
de; als wohngerecht sind deren Verhältnisse jedoch keineswegs zu bezeichnen.
Die Raumunterkünfte müssen jedoch noch mit der Angabe der Quadratmeter gekoppelt werden, um eine stichhaltige Aussage über die Wohnzustände zu ergeben. Zweiraumunterkünfte, also für 3 bis 4 Personen bestimmt und oft genug auch für 5 Personen, gibt es in drei Größen: 31, 32 und 35 qm. Dreiraumunterkünfte (für 5 bis 7 Personen also) haben 46 bis 49 qm; Fünfraumunterkünfte, in die sich also 11 oder mehr Personen teilen müssen, sind ganze 78 bis 84 qm groß. Dabei stellt eine Dreiraumunterkunft die größte Wohneinheit dar, so dass also Fünfraumunterkünfte zum Beispiel durch die Zuweisung einer Zweiraumunterkunft zur normalen Dreiraumunterkunft ent-
stehen.
Die Gesamtwohnfläche, die den 2.640 Bewohnern des erhobenen Bereichs zur Verfügung steht, beläuft sich auf 23.900 qm, was einer Wohnfläche von 9,1 qm pro Person entspricht. Damit sind die DIN-MINDESTanforderungen um durchschnittlich 50 Prozent unterschritten, d.h. es steht nur halbsoviel Raum zur Verfügung, wie eigentlich vorgesehen. Dieser Mißstand wird noch weiter ver-
schlechtert durch den bei Großfamilien teilweise noch unterschrittenen Wohnflächendurchschnitt. Dort sind dann 5 bis 6 qm Wohnfläche pro Person vorhanden; diese Situation trifft immer noch 11 Prozent aller Haushalte oder rund 20 Prozent der Bewohner des Hasenbergl-Nord.
Die Wohnungen
_ _ _
Die Bauten sollen sich deutlich von Wohnungen unterscheiden, damit für die Bewohner ein Anreiz bleibt, sich wieder um eine Normalwohnung zu bemühen.
Amt für soziale Wohnungsfragen, München
_ _ _
Die Daten über die Wohnsituation weisen die bauliche Seite als das zentrale Problem der gesamten Hasenbergl-Problematik aus. Dem „Bericht 70/71« des GWAT ist die folgende Beschreibung der Wohnungen in den Obdachlosen-Unterkunftsbereichen des Hasenbergl-Nord entnommen:
„Die 10 Unterkunftsblocks in Hasenbergl-Nord wurden 1962 geplant, 1964 bis 1966 gebaut und lösten das bis dahin bestehende Barackenlager Frauenholz ab. Die ersten Unterkünfte entstanden in konventioneller Ziegelbauweise, die folgenden in Großtafelbauweise. Die Blocks sind 15 Meter hoch und bis zu 55 Meter lang. … In fünf Vollgeschossen sind 1-, 2- und 3-Raumunterkünfte aus-
gewiesen. Sie sind zu 3- und 4-Spännern kombiniert. Die Ausstattung ist primitiv: In der Wohn-
küche, von der alle weiteren Räume erschlossen werden, steht ein Kohleherd, in den überwiegen-
den Fällen die einzige Heizquelle und Kochgelegenheit, Kaltwasserausguss zum Spülen und zur Körperpflege. Das WC liegt außerhalb der Wohnung und wird von mehreren Familien gemeinsam benutzt (1 WC für je zwei Unterkunftseinheiten). Bäder oder Duschen gibt es im Haus nicht. Den Badebedarf der gesamten Siedlung decken zwei öffentliche Badehäuser mit zusammen 13 Duschen und 9 Wannen. Benutzungsgebühr pro Wannenbad DM 1,-, pro Duschbad DM 0,50. Im Keller be-
finden sich kleine Abstellräume, ein Kinderwagenplatz und eine Waschküche. Der Dachboden ist zum Wäschetrocknen vorgesehen, wegen starker Verschmutzung (Rußflug) jedoch hierzu kaum geeignet.“
Die Folge schlechter Feuchtigkeitsisolierungen sind Wasserflecken in Ecken und an Außenwänden, die oft Schimmelbildung nach sich ziehen. Ursache der feuchten Wohnungen ist jedoch nicht Schuld der Mieter; Ergebnis einer inoffiziellen Begutachtung der Wohnungen durch Studenten und Assistenten der Technischen Universität München war, dass die Räume falsch angeordnet wurden („gefangene Räume“, d.h. Wohn- und Schlafräume wurden ohne Zwischenflur direkt an die Küche angeschlossen) und Art und Anordnung der Heizquellen falsch waren. Die Untersuchung erbrach-
te, dass minderwertige Baumaterialien verwendet worden waren, eine mangelnde Schall- und Feuchtigkeitsisolation vorlag und die Luftfeuchtigkeit in den Räumen zu hoch war.
Die geschilderten Verhältnisse machen die Bemerkung überflüssig, dass dem einzelnen Familien- oder Haushaltsmitglied keinerlei Individualraum zur Verfügung steht. Die räumliche Enge wirkt sich nicht nur auf die Kinder nachteilig aus, die damit praktisch auf die Straße verbannt sind; auch Eltern, die ein Ruhebedürfnis oder das Bedürfnis nach sexueller Betätigung haben, besitzen kei-
nerlei Ausweichmöglichkeit. Der bestehende Schichtunterricht wirft die Zeit für Hausaufgaben und zum Lernen meist mit den größten Haushaltsaktivitäten zusammen, so dass das ohnehin fast un-
mögliche Konzentrieren vollends zur Farce wird. Aus der speziellen Bauweise der Unterkünfte re-
sultiert die Unmöglichkeit, ein Gefühl für Geborgenheit und Schutz zu entwickeln: „Die Tür öffnet sich direkt in die Wohnküche; Briefträger, Vertreter, Besuch und Gäste dringen unmittelbar in den Wohnbereich ein. Eine ruhige Zone, in die man sich zurückziehen kann, ist nicht vorhanden. Mangelnde Schallisolierung bedingt teilweise recht aktive Partizipationsmöglichkeiten am Pri-
vatleben der Nachbarn“ („Bericht 70/71“ des GWAT, S. 35).
Zusätzliche Streßsituationen ergeben sich aus den ordnungs- und polizeistaatlichen Vorstellungen der zuständigen Verwaltung, die Räumungsandrohungen ausspricht wegen Unregelmäßigkeiten bei der Zahlung der Unterkunftsgebühren, bei der Beherbergung von Gästen oder spielenden Kindern auf Grünflächen, deren Betreten verboten ist. Rechtsanwalt P. Graf kennzeichnete in einem verfassungsrechtlichen Gutachten über die Unterkunftsanlagensatzung der Landeshaupt-
stadt München die Unterkunftssatzung als Herd „ständiger Unsicherheit“, der ein „besonderes Gewaltverhältnis“ darstelle.
Das Gemeinwesenarbeitsteam hat in seinem „Bericht 70/71“ eine Liste aufgestellt, in der die wichtigsten familiären Belastungen genannt sind, die sich aus der schlechten materiellen Situation der Bewohner ergeben:
Mangel an Rekreationsraum und Rekreationsfähigkeit
Einschränkung der Privat- und Intimsphäre
erhöhte Morbidität (besonders Infektionen)
finanzielle Schwierigkeiten (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Abzahlungsgeschäfte, gering entwickeltes Planungsverhalten)
erschwerte Haushaltsführung
hohe Kinderzahlen (28 Prozent der Haushalte bestehen aus 6 und mehr Personen)
ungenügende Familienplanung
Unvollständigkeit vieler Familien (ledige Mütter, getrennt Lebende, Geschiedene, Kinder in Heimen)
überlastete Mütter
Überforderung der Eltern in der Erziehungspraxis
ungenügende Identifikationsmöglichkeiten der Kinder wegen des sogenannten „Unterschichtenmatriarchats“
geringer Sprachschatz
undifferenzierte Sprache
geringes Abstraktionsvermögen
schlecht erlernte Fähigkeit zur sozialen Interaktion
affektive Konfliktreaktionen
Milieustabilisierend wirkt sich dabei nach den Erfahrungen des GWAT aus: die geringe Aussicht auf die Veränderung der Wohnsituation (die Verwandlung der ehemaligen Baracken in „zemen-
tierte Baracken“ tut hier ein übriges); die Dauer der Obdachlosigkeit; ein alle Bereiche umfassen-
des „Verwaltetwerden“; Häufung von Misserfolgen in beruflicher, schulischer, erzieherischer Hinsicht; starke Außendrücke wie Diskriminierung („Frauenhölzler“) und nicht zuletzt der Reali-
tätsverlust. In konkrete Erscheinungsformen übertragen, bedeutet das: Unordnung, Schmutz, Lärm, Streit, erhöhte Scheidungsquoten, ungenügende Schulleistungen, vernachlässigtes Äußeres, Alkoholismus. Mit anderen Worten: die Bewohner des Hasenbergl-Nord stehen einer Häufung sozialer Benachteiligungen gegenüber, wie sie – vereinzelt auftretend – von den Mitgliedern gleicher sozialer Gruppen gemeistert werden könnte.
Es ist klar, dass das, was hier an konkreter Resozialisierung geleistet wird, gleich null sein muss. Eine Resozialisierung dieser Menschen kann nur dadurch erreicht werden, indem die Familien nach und nach ausgegliedert werden und in neue Umgebungen kommen, wie es vor einiger Zeit Rolf Hochhuth gefordert hat. Selbstverständlich besteht die Gefahr, dass einzelne Familien den Anforderungen einer neuen Umgebung nicht gewachsen sein werden; hier setzt die Arbeit der Sozialarbeiter ein, die natürlich auch die Ausgliederung aus dem ehemaligen Lager psychologisch vorbereiten müssten.
Zwar sagen die vermerkten Einweisungsgründe wenig über die tatsächliche Motivation und An-
gaben wie „Mietschulden“, „leistungsschwache Mieter“, „Eigenbedarfsklage“, „Räumungsurteil wegen Mietstreit“ oder „Krasse Elendsfälle“ sind allenfalls bürokratischen Anforderungen genü-
gend; tatsächliche Aussagen ermöglichen diese Abqualifizierungen nicht. Gerade sie aber wären notwendig und von Stellen der Sozialarbeit zu erbringen, um Ausgliederungen in richtige Milieus zu gewährleisten.
Sozialarbeit
Die teilweise katastrophalen Zustände in vielen Lebensbereichen des Hasenbergl veranlassten eine ganze Reihe von Einwohnern, Bürgerinitiativen zu bilden. Dabei steht einmal die Durchsetzung kurzfristiger Ziele (Bau von Schulen und Kindertagesstätten etc.) im Vordergrund, zum andern aber auch längere, auf Sozialisation gerichtete Unternehmungen. Dazu kommt eine Vielzahl von Stellen und Außenstellen der Träger gemeinnütziger Sozialarbeit, mit dem erklärten Schwerge-
wicht auf Kindern und Jugendlichen. So erstellte beispielsweise die „Sachgruppe: Kinder- und Jugendarbeit“ einen Idealkatalog über notwendige Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen. Dieser Katalog, der für den körperlichen, sozialen und intellektuellen Bereich aufgestellt wurde, zeigt die ganze defizitäre Sozialsituation am Hasenbergl auf und wendet sich gegen ein Sozialisationskonzept, das sich in der äußeren Anpassung an mittelständische Verhal-
tens- und Lebensgewohnheiten bereits erschöpft. Diesem wenig problematisierten Sozialarbeits-
verständnis gälte auch der Tod einer 22-jährigen Mutter (die aus Angst vor der Geburt eines dritten unehelichen Kindes zu einem Engelmacher gegangen war und einen qualvollen Tod starb; die Münchner Presse berichtete ausführlich darüber am 16.3.1970) noch als Unglücksfall, gar noch als tragischer; die Sozialisationsforderungen der Kinder- und Jugendlichen-Sachgruppe hingegen wissen die Regisseure der vermeintlichen Tragödie recht scharf auszumachen.
Nachdem der Tod dieser jungen Frau bekannt geworden war, übte das GWAT in einem öffentli-
chen Schreiben Kritik an der geleisteten Sozialarbeit. Es hieß u.a. „Die Angst vor Repressionen war bei der jungen Frau (jedoch) so tief verwurzelt, dass sie und ihre Familie eine Woche lang die töd-
liche Infektion verheimlichten, bis es zu spät war. Die Basis fehlte, den Weg zu einer der vielen sozialen Einrichtungen zu finden.“ Und: „Was nützen die besten sozialen Einrichtungen, wenn gesellschaftliche Vorurteile und das geltende Strafrecht ihre Benützung über die Kräfte der Be-
treffenden hinaus erschweren bzw. unmöglich machen?“
Doch anscheinend teilte außer PRO FAMILlA niemand diese Bedenken und die Bereitschaft zum Überdenken geleisteter Arbeit – von dieser Reaktion abgesehen, blieb der Brief ohne Echo.
Daraus kann man Folgerungen ziehen:
anscheinend sind nur wenige Träger „gemeinnütziger“ Sozialarbeit im Hasenbergl dazu bereit, ihre Arbeit innovatorisch zu gestalten. Daraus resultiert
eine Starrheit des sozialpädagogischen Konzepts, das mehrheitlich – wie zuvor angesprochen – eine bloße Anpassung an Mittelstandsnormen im Auge haben dürfte.
Es ergeben sich Forderungen nach spezieller Sozialarbeit, die die Bereiche der Sexualität und der Familienplanung zentral betreffen und die
von den Betroffenen mitentschieden und mitgeplant werden sollen.
Täglicher Bedarf, Versorgungssituation
Die wenigen Geschäfte, die es im Hasenbergl gibt, sind in der Regel kleine „Kaufzentren“, d.h. einige baulich zusammenhängende oder nahe beieinanderstehende Läden bilden ein Laden-
zentrum. 4 bis 5 solcher Zentren gibt es, neben Lebensmittelgeschäften (Filialen großer Laden-
ringe) sind es Apotheken und eine größere Ausleihstelle der Städtischen Bücherei, Schreibwaren-
geschäfte und Friseurbetriebe. Im mittleren und nördlichen Hasenbergl gibt es zeitweilig fahrbare Läden (Blumen, Frischgemüse etc.), jedoch keine eigenen Läden für alltägliche und wichtige Le-
bensmittel wie Milch, Brot- und Backwaren, Fleisch und Wurst. Der Wunsch nach eigenen Metz-
gereien und Bäckereien mit angeschlossenen Konditoreien und Cafés steht demnach ganz oben, wie das Ergebnis einer Fragebogenaktion erbrachte. Weitere Wünsche betrafen Kurzwaren- und Textilläden, Elektro- und Radiofachgeschäfte. Geschäfte für Wild und Geflügel sowie Fisch, Gaststätten und andere Lokale sind ebenso erwünscht. Dringlich auch der Neubau eines Post-
amtes: das vorhandene dient nur dem Parteienverkehr, Post- und Paketbelieferung besorgt das Postamt Harthof. Das bedeutet, dass oft lange Fahrten nötig sind, wenn eingeschriebene Sendun-
gen etc. abgeholt werden müssen; in vielen Familien sind ja beide Elternteile berufstätig, so dass die Briefträger die Adressaten oft vergebens zu erreichen suchen. Auch die Zahl der Briefkästen und Telefonhäuschen ist nicht ausreichend.
Ein besonderer Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten erfordert entweder private Einquartie-
rung (was einige Bauträger erst gar nicht erlauben) oder die Unterbringung von Gästen in der Stadt, was wiederum weite Anfahrtswege mit sich bringt. Bis heute jedenfalls gibt es im gesamten Hasenbergl weder eine Pension noch ein Hotel.
Sehr umstritten ist der Bau eines bisher nur geplanten Bürgerzentrums, das von der Stadt initiiert wurde. Die einzelnen Träger der Sozialarbeit sehen sehr wohl die Bedeutung eines solchen Pro-
jekts, sähen aber teilweise lieber vordringlichere Aufgaben bewältigt (Schulhausbau, Kindertages-
stätten etc.).
Das vorläufige Modell sieht ein Bürgerzentrum vor, das – so die Süddeutsche Zeitung vom 24.2.1971 – „von der Cafeteria bis zur Pro Familia-Filiale und zum Mopedreparaturkeller allen Bedürfnissen entgegenkommt“ und „zur lebendigen Zentrale des Hasenbergl werden“ soll. Diese optimistische Darstellung ist wahrscheinlich ebenso naiv wie gefährlich; man kennt ja genügend solcher „zukunftsweisender“ Projekte, die dennoch an den Bedürfnissen der Einwohner vorbei geplant worden sind, weil eine der schwierigsten Überlegungen anzustellen vergessen worden war: ob das geplante Projekt überhaupt „angenommen“ werden würde. Eine Frage, die nur dann positiv beantwortet werden kann, wenn die Menschen selbst aktiv an Planung und Durchführung ihrer kommunalen Einrichtungen beteiligt sind. Die Entwicklungspolitik der Stadt München ist von solcher Qualität immer noch weit entfernt.
Manfred Bosch
:::
1 Mitteilungsblatt an die Eltern der Kinder der Sonderschule an der Paulckestraße (Hasenbergl) zit. nach Süddeutsche Zeitung vom 12. Oktober 1971.
2 Zitiert nach dem „Bericht 70/71“ des GWAT. Die ausgelassenen Daten und Namen sind im „Bericht 70/71“ geschwärzt.
kürbiskern. Literatur, Kritik und Klassenkampf 2/1972, 329 ff.