Flusslandschaft 1972
Armut
Armut verteilt sich nicht gleichmäßig über das Stadtgebiet. Genauso wie Reichtum für seine Resi-
denzen vor allem Grünwald oder Bogenhausen favorisiert, häuft sich Armut am Rande der Stadt, zum Beispiel im Hasenbergl, das inzwischen bundesweit zum Synonym eines sozialen Krisenge-
biets wird.1 Hier setzt die Gemeinwesenarbeit (GWA) an, die bis jetzt mit Hilfe einer „Doppelstra-
tegie“ einerseits, zum Beispiel im Obdachlosenbereich, konkrete Verbesserungen anstrebt und andererseits einen antikapitalistischen, systemverändernden Anspruch formuliert. Der „Doppel-
charakter von Reformen“ in der JuSo-Strategie sah nicht einen antagonistischen Widerspruch, sondern eine Dialektik zwischen der Stabilisierung des kapitalistischen Systems und seiner lang-
fristigen Aufhebung. „… Wie die Geschichte später zeigte, war jedoch der systemverändernde Anspruch dieser Theorie nicht einlösbar, da ihre Axiome falsch waren und die Rolle der Kommu-
nalverwaltung bei Veränderungsprozessen innerhalb des politisch-ökonomischen Systems stark überschätzt wurde. Darüber hinaus war die Praxis der GWA in diesen Jahren auch deshalb dis-
funktional zu den Zielen der Doppelstrategie, weil keinerlei handlungsstrategische Ziel-Methoden-Kontinua entwickelt wurden und nicht systematisch an den intendierten Veränderungen gearbeitet wurde. Somit konnte auch nicht erkannt werden, dass sich die praktizierte Form der Kooperation mit der Verwaltung diametral zu ihrem ursprünglichen Ziel entwickelte, also die Gemeinwesenar-
beit (gezielt) durch die kommunale Verwaltung beeinflusst wurde. Beim Einsetzen der restaurati-
ven Phase (ca. ab 1972), die mit einer Abschottung der Verwaltung einherging, wurde auf der praktischen Ebene erkannt, dass Politik und Verwaltung aus einer distanzierten Position stärker beeinflusst werden können als in verwaltungsmäßig fixierten Gremien ohne Entscheidungskom-
petenz …“2
Rudolf G. ist ein schwerer Fall. Immer wieder muss sich die sowieso heillos überforderte Justiz mit ihm beschäftigen. Jetzt sitzt er schon wieder in Stadelheim. Dort besucht ihn ein Reporter der Münchner Abendzeitung: Seit einem Arbeitsunfall im Jahre 1959 leidet G. unter Kopfschmerzen, Sehstörungen und Konzentrationsschwäche. Dreimal täglich soll er nach dem Essen starke Medi-
kamente einnehmen. Das Problem: Von Oktober 1971 bis zum März 1972 erhält er eine wöchentli-
che Unterstützung von 52 Mark und das reicht höchstens für eine Mahlzeit täglich. G. schluckt die Tabletten trotzdem. Folge: Einmal fällt bei der Aushilfsarbeit bewusstlos vom Dach, ein anderes Mal taumelt er gegen ein Auto. Wörtlich heißt es in der Abendzeitung: „‚Als meine Unterstützung dann auf 47 Mark gekürzt wurde, drehte ich durch und brach eine Kassenschublade auf. Ob was drin war, wusste ich nicht, ich war nur völlig kaputt.‘ Rudolf G. wurde noch an Ort und Stelle ver-
haftet. Schaden gab es außer der kaputten Lade keinen, dennoch sitzt G. wegen dieses Einbruchs (im soundsovielten Rückfall) seit dem 13. März 1972 in U-Haft.“ Reiner Uthoff, der G.s Laufbahn von Fehltritt zu Fehltritt verfolgt hat, nennt sein Buch „Über die Unverhältnismäßigkeit von Ver-
brechen und Strafe in einem sozialen Rechtsstaat: Der Fall Rudolf G.“. Der 52jährige hat in 25 Jahren mit seinen Straftaten einen Schaden von zusammengerechnet 980 Mark angerichtet und sich damit Strafen von 3.480 Tagen Gefängnis eingehandelt. Wird sich der Rückfalldieb je eines Besseren belehren lassen?
1 Siehe Boschs „Hasenbergl — Beispiel einer Gettovorstadt“.
2 Helmut Kreidenweis: „15 Jahre GWA in München. Längsschnittanalyse ihrer geschichtlichen Entwicklung und Folgerun-
gen für eine strategische Neuorientierung gemeinwesenbezogener Sozialarbeit“ in Materialien der AG SPAK (Arbeitsge-
meinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise) 71, Gemeinwesenarbeit Jahrbuch 3. Stadt- und Regionalplanung, hg. von Hil-
lenbrand/Luner/Oelschlägel, München 1986, 167 – 196, hier: 186.