Materialien 1972

Weihnachtsfrieden

von Wolfgang Blaschka 12/2012

Die Weihnachtsbotschaft klingt im Krieg immer besonders hohl. Ich erinnere mich noch an die Christmette 1972 im Regensburger Dom. Weihnachtsbombardements in Hanoi. Der Domprediger hub an zu seiner salbungsvollen Predigt. Die dichtgedrängte Menge lauschte andachtsvoll im hohen Dunkel der gotischen Kathedrale. Plötzlich rief eine helle Stimme dazwischen: „Gilt der christliche Weihnachtsfriede auch für die Menschen in Vietnam?" Wie bitte? Gab’s das, dass einer während der Predigt das Diskutieren anfängt?! Durfte der das!? Die Gläubigen wallten auf. Unruhe, Zischeln, empörtes Gemurre. Eine Woge der Entrüstung bemächtigte sich der Feiertagskatholiken. Hinter dem Studenten, der es gewagt hatte, die Ansprache zu unterbrechen, hielt jemand seinen Regenschirm hoch wie um einen Galgen anzudeuten. Lynchstimmung kam auf. Doch der rundfunkerprobte Monsignore Leierseder beschwichtigte souverän: „Lassen wir doch den jungen Mann seine Frage ruhig stellen. Ich werde sie beantworten". Der Zwischenruf wurde wiederholt, nun laut und deutlich. Das hatte es seit Grundsteinlegung dieser Glaubensfestung wohl noch nie gegeben: Kritische Fragen während der Weihnachtspredigt! Unglaublich. Das waren die neuen Zeiten. „Nun", hub der eloquente Prediger an, und hatte sich schnell besonnen: „Selbstverständlich gilt der Weihnachtsfriede auch für die Menschen in Vietnam." Grummelndes Gemurmel in Teilen der Gemeinde. „Er gilt für alle Menschen, die guten Willens sind". Erleichtertes Raunen beim anderen Teil des Auditoriums. Dann setzte er nach: „Allerdings vermisse ich bei Herrn Le Duc Tho1 bei den Pariser Verhandlungen so manches Mal den guten Willen." Aha! Die Volte war gelungen, der Störenfried hatte seine Chance gehabt, und wurde nun unter Geschiebe und Gedränge hinaus bugsiert durch die dichten Reihen Richtung Ausgang. Ein Kirchendiener aus dem bischöflichen Gefolge nahm sich seiner an und geleitete ihn zur Seitentür, um Schlimmeres zu verhüten. Einige der Christenmenschen hätten sich doch fast zu körperlichen Übergriffen hinreißen lassen. Nach wenigen Schrecksekunden war der Weihnachtsfriede wieder hergestellt. Ich hätte schreien mögen! Laut skandieren: „Ho-ho-Ho-Chi-Minh!“. Aber niemand hätte mitgemacht. Selten habe ich ein verlogeneres „Stille Nacht, heilige Nacht” gesungen. So rein, so beinah engelsgleich, und doch so falsch.

:::

1 Nordvietnamesischer Außenminister


zugeschickt am 13. März 2013

Überraschung

Jahr: 1972
Bereich: Internationales

Referenzen