Materialien 1972
Die letzten Jahre der Kindheit
Der Münchner Rechtsanwalt Norbert Kückelmann drehte diesen Film nach dem authentischen Fall eines vierzehnjährigen Jungen, der sich im Februar 1972 in der U-Haft in Stadelheim das Leben nahm.
Der Film erzählt die Geschichte von Martin Sonntag, der in der Siedlung lebte, die sie Klein-Chicago nennen, wo früher die Baracken standen. Wo die Fernstraßen zwei Meter am Schlaf-
zimmer vorbeiführen, die Funkstreifen anders durch die Gegend fahren und die Kinder schnell
in Sonderschulen gesteckt werden.
Mit sieben ist er aktenkundig, mit neun bricht er Automaten auf, und von klein auf beginnt er zu laufen.
Martin ist noch nicht strafmündig, aber die Ämter haben ihn auf ihre Liste gesetzt. Ein Kind ist tabu, aber ein Kind das stört, ist kein Kind mehr.
Martin: „Wenn man mich festhalten will, dann wehr ich mich.“
Als Martin mit seinem Bruder in einer Baubaracke bei einem Einbruch gestellt wird und mit einer Flasche zuschlägt, ist das Maß voll.
„Eine Flasche ist eine Waffe“ sagen die Strafjuristen. Und Martins Bruder kommt nach Laufen-Lebenau in Jugendstrafe und Martin in ein Heim.
Martins Wünsche an sein Leben sind wach, aber wo die Beschäftigung mit den Gründen seines Verhaltens ihm helfen könnte, sieht man Abnormes, Veranlagung, vererbte Kriminalität, schlechten Charakter, und man gedenkt es mit Sanktionen und Maßnahmen auszutreiben wie einen Teufel.
Martin: „Manchmal fühl ich mich wie der letzte Mensch auf der Welt. Ich lauf immer neben mir her. Sie sagen immer, ich soll ehrlich sein, aber wenn ich darüber nachdenke, dann bin ich eigentlich ehrlich, was das bei mir heißt. Aber ob die darüber nachdenken …“
Als Martin vom Selbstmord des Bruders erfährt, reißt er aus. Das ist seine Antwort auf die Gleichgültigkeit und die Ohnmacht, sich zu formulieren.
Martin: „Und in dem Heim – es ist nicht so, als ob man da nicht schlafen könnte, oder man hätte nichts zu essen oder so. Es ist, als ob da immer einer mit einem Hammer steht und wartet, dass du eine falsche Bewegung machst. Ich hau immer wieder ab, immer wieder. Abhauen kann man immer.“
Er flieht immer wieder, nur einmal findet er in einem Therapeuten einen Freund. Aber auch diese Hoffnung zerbricht am System, das keine Ausnahmen zulässt.
Der Psychiater: „Er ist ein gefühlskalter Psychopath. Er ist nicht in der Lage, gemütlich mitzu-
schwingen, kann nicht unterscheiden zwischen gut und böse, Ehre und Schande, Strafe und Belohnung. Ein Wanderer zwischen Arrestzelle und Landstraße. Finster, kalt, mürrisch und brutal.“
Martin wird immer wieder gefangen, „verwahrt“, zuerst in der Psychiatrie, dann, als er endlich „strafmündig“ ist, im Knast. Dort gibt er endgültig auf, schmeißt den Löffel.
ARRI, 16. – 29.11.
Blatt. Stadtzeitung für München 159 vom 16. November 1979, 21.