Materialien 1972

Spur in der Zeit

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Aki

1967 kam ich als Student von Freiburg nach München. Ich studierte Philosophie, Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik. Dann noch Romanistik und ein paar andere Sprachen. Aber dann kam sozusagen die Revolution und ich habe aufgehört zu studieren.

Den ersten Eindruck vom >wilden München< bekam ich im >Kleinen Bungalow<: da lief viel mit Haschisch, es lagen schon Fixer in den Ecken rum und es wurde schwer gesoffen. Geflippert natürlich auch.

Anlaufsteile war immer die Kneipe, gewohnt wurde in Kommunen. Ich war in der Kommune in der Metzstraße, dann gab es noch die in der Einsteinstraße, in der Sckell- und in der Giselastraße.

Nachts ging ich oft zu Fuß von der Türkenstraße nach Hause. Oder ich zog mit dem Hut durchs >Stop In: Eine kleine Spende, ich muss mit dem Taxi heim!< Es drehte sich so um zehn Mark, ein Wahnsinnsgeld, aber ich bekam den Hut immer voll.

So ging das zu, damals. Jeder hatte irgendwie Mut und war gut drauf, dass er sich solche Sachen leistete. Und die anderen honorierten das, ließen sich selber ermutigen. Da gab es Schüchterne, die von außen kamen, die aber nach einiger Zeit bei uns lebendiger und kräftiger wurden sozusagen. Das Thema der Zeit war der Sex. Viele politische Theorien wurden nur aus diesem Grunde verfochten. Da war viel los, wie soll ich sagen, da gab es Mischgeschichten und Zweierkisten, man war einfach vielseitig interessiert.

>Wer zweimal mit derselben pennt> gehört schon zum Establishment.< So war es nicht ganz, aber immerhin (lacht) …

Wir waren ein politischer Kreis, der sich am Anfang gar nicht definierte. Dann gab’s die Streitereien und Spaltereien und dann waren da plötzlich Anarchisten und Kommunisten, die sich immer wieder spalteten, bis sie sich die eigenen Abkürzungen nicht mehr merken konnten.

Die Mitläufernaturen gingen eher zu den Kommunisten, da bewegten sie sich auf sicherem Boden, da gab es Literatur und Geschichte, während so Anarchisten — die sind eben nicht zu fassen.

Bei der Rektoratsbesetzung war ich auch dabei. Ich habe meine Füße auf den Schreibtisch des Rektors gelegt. Dann hat die Polizei alles abgesperrt, wir haben aber noch ein Loch in der Tür gefunden, die anderen wurden verhaftet.

Auch die privaten Verhältnisse wuchsen sich aus. Wohnte ich einmal mit einer Freundin zusammen, kamen da plötzlich politische Kader, so nannte man das, aus der K1-Kommune in Berlin an und richteten sich für eine Zeit ein. Oder man hatte eine Freundin und die hatte einen Freund. Den brachte die dann mit und es entstanden so Dinger (lacht).

Politisch und privat waren wir ganz schön frech und haben immer angenommen: Das bleibt so. Progressiv und lebendig. Das kann keiner mehr rückgängig machen.

Wir haben Anfang der 70er Jahre viele Dinge neu und zum ersten Mal gemacht: wir haben Rockkonzerte organisiert und mit der Stadtzeitung >blatt< angefangen. Wir haben eine Jugendkneipe in Sendling eröffnet, wo früher ein Puff war. Da habe ich ein halbes Jahr gekocht.

Wir haben uns um Jugendliche in Heimen und Gefängnissen gekümmert. Flugblätter vor den Fabriktoren zu verteilen, das waren die Kommunisten. Wir haben uns nie angemaßt, proletarisch zu denken. Wir waren schließlich keine Proletarier.

Im >Pamphletverlag< haben wir Bakunin herausgebracht und das Apo-Adressbuch mit den Namen und Adressen aller linken Gruppen und Organisationen. Eigentlich hatte ich nur nach einem Schlafplatz gefragt und war plötzlich im Verlagsgeschäft. So lief das damals.

Dann kam die Zeit, wo der bewaffnete Kampf, die RAF und der >2. Juni< eine Rolle zu spielen begannen. Ich war da nie in Gefahr mitzumachen. Ich kannte die alle, und wusste, wer was machte und warum. Die Motive waren anders, als sie sich anhörten, und ganz anders, als sie in der Zeitung standen. Da kursierten laufend Spitzelgerüchte, schon wegen der Drogenszene, jeder zweite nahm da doch Haschisch, und plötzlich breitete sich Paranoia aus — auch ein Schlagwort der Zeit. Überall wurde Polizei, wurden >agents provocateurs< gewittert. Irgendwo waren auch Waffen aufgetaucht, dann aber wieder verschwunden. Die ersten Banküberfälle hatten bereits stattgefunden – es war eine wilde Szene. Niemand wusste etwas Genaues. Das waren eigentlich lauter hysterische Leute, die dann tatsächlich zur RAF gingen; die so richtig gar nicht wussten, was sie wollten, sich aber ziemlich weit vorwagten, unter Druck gerieten und dann Paranoia bekamen.

1970 wurde ich an der Münchener Freiheit verhaftet und drei Stunden lang verhört. Die Polizisten legten mir Photos vor, ich sollte einen gewissen >Aki< identifizieren. Sie suchten mich! Und kamen nicht drauf, dass ich ihnen gegenübersaß. Sie ließen mich wieder laufen. Es war schon recht skurril.

Dann haben wir einen Geheimsender betrieben. >Radio Bundschuh ist nicht zu fassen< hatte die AZ getitelt. Wir konnten in die Abendsendungen rein, akustisch. Da haben wir dann zur besten Tagesschau-Zeit Bänder eingespielt von Frauengruppen oder von der >Aktion Maxvorstadt: Achtung, Achtung, hier spricht Radio Bundschuh<, tamtamtam, Erkennungsmelodie, dann kamen unsere direkt aus dem Leben gegriffenen Nachrichten. Der Sender war klein, er passte ins Handschuhfach eines VW-Käfers, wir bauten ihn in immer andere Autos ein. Die Post verfolgte uns, stand manchmal direkt hinter uns, konnte sich aber nicht vorstellen, dass die >Störung< aus so einem kleinen Wagen kam. Sie vermuteten eine Riesen-Sendeanlage. Das war eine Technik, die der Feltrinelli zum Teil gezahlt hat. Das Ganze lief ein paar Monate. Allerdings nicht jeden Tag, aber immer ein bisschen vor oder ein bisschen nach der Tagesschau im Ersten. Wir machten vielleicht zweimal Standortwechsel – die Reichweite betrug so 500 Meter – weil es ungeheuer mühsam war, von erhöhten Standorten aus die richtige Einstellung zu finden. Danach war uns die Post wieder auf den Fersen, dann machten wir Schluss.

Eingestellt haben wir das Ganze, als die Südamerikaner kamen. Kaum hatten wir Kontakt mit der MIR in Chile aufgenommen, standen da plötzlich so komische Typen herum, sahen aus wie vom CIA. Da haben wir Angst gekriegt und eingepackt.

Erst war alles politisch, dann driftete es langsam ab in Hasch und Hippie, Love and Peace. In Berlin gab es bereits die >Umherschweifenden Haschrebellen<, die Hausbesetzerszene wuchs an, und in München fand der letzte Versuch statt, die zerstreute Linke doch noch zu einigen. Ein Treffen fand statt, aber es gab nichts mehr zu einigen.

Bei Reinhard Hauff hatte ich in Filmen mitgespielt, bis ich einen Regieauftrag bekam: ich sollte einen Film über Drogen machen. Er dauerte der Bavaria zu lange und war zu teuer, aber richtig schlimm war eines: dass es in dem Film hieß, Bier gehöre zu den Alkoholika. Da hatte der bayerische Brauereiverband gedroht zu prozessieren, weil Bier nämlich ein Nahrungsmittel sei. >Streichen Sie das weg!< sagte daraufhin die Bavaria, >so einen Prozess können wir uns nicht leisten!<

Dann wurde ich krank. Lebensbedrohlich. Alles war ausgelöscht, was mich früher bewegt hatte. Ich wandelte mich vom politischen Menschen zum Esoteriker. Wie manch anderer in der Zeit. Ich habe keine Zeitungen mehr gelesen, ich habe Schreibmaschine und Fernseher aus dem Fenster der Kommune in die Schönfeldstraße geschmissen und ging barfuss.

Wir sind in den Englischen Garten gegangen mit unseren Trommeln, haben uns an den Fuß des Monopteros gesetzt — oben waren die Junkies — und haben getrommelt, dann nackt im Eisbach gebadet, was sich damals noch keiner traute, und hatten heiße Affairen.

Eines Tages ließen sich alte Freunde aus der Politecke wieder sehen: >Du< wir haben eine Druckmaschine! Wir machen eine Zeitung. Machst du mit?< Also fingen wir am nächsten Tag mit dem >blatt< an. Ich las zwar keine Zeitungen mehr> machte aber eine! Wir haben die Fotos selber gemacht, die Artikel geschrieben, das Layout geklebt. Wo eine Lücke war, habe ich eine Karikatur hinein gemalt. Dann wurde das Ganze gedruckt.

Anno 1973 habe ich die Nummer 10 ganz alleine gemacht, weil die anderen entweder im Urlaub oder zerstritten waren. Ich hab’ sie auch ausgeliefert und kassiert. Aber Ärger gekriegt: ein schnell zusammengetrommeltes Kollektiv, von denen einige gar nichts mit dem >blatt< zu tun hatten, wählte mich ab. Ich ging. Trotzdem hat es das >blatt< noch zehn weitere Jahre gegeben. Es war nach dem Berliner >tip< die zweite deutsche Stadtzeitung mit unzensierter Gegenmeinung.

Nach diesem letzten Rückfall ins Politische vollzog sich jetzt endgültig die Wandlung zum Spirituellen.

Es war die Zeit der Landkommunen. Zu dritt waren wir auf den Mandelhof am Starnberger See gezogen, bald waren wir zu siebt, an schönen Tagen zwanzig bis dreißig. Wir betrieben Ackerbau und praktizierten so etwas wie Gruppentherapie mit Drogengeschädigten oder sonstwie Ausgeflippten.

Wir fragten uns: Welche Werte wollten wir positiv, welche Inhalte? Es war ein ernsthaftes Ringen mit vielen Experimenten: Fasten, lesen, anderen helfen.

Eigentlich bin ich ja Organist, das war meine erste Berufsausbildung, mein erstes Geld hab’ ich verdient beim Einstudieren des Balletts am Stadttheater Hildesheim, als Korrepetitor. Aber ich habe auch Plakate gemacht und Grafiken. Denn die Vorstellung, jetzt nur noch eines zu machen, hätte mich traurig gemacht. Weiterlesen, weiterwachsen, nicht stehenbleiben, nicht sich wo festhängen – darum ging’s.

Der Hof hatte zuerst kein Dach, keinen Keller, keine Treppen, keine Fenster, das habe ich alles gemacht. Ich war der >Herr im Haus<, also der, der die Nägel einschlug, die Leute einlud und schauen konnte, wie er sie wieder los wurde. Der Mandelhof war ein Platz, wo viel passiert ist, viel durchgemacht wurde. Im nachhinein waren sie paradiesisch, diese neun Jahre. Da draußen hab’ ich auch angefangen zu computern mit Texas Instruments, einem der ersten PCs, den ein Freund in seinen LKW eingebaut hatte, in dem er bei uns wohnte.

Das war die Zeit, in der immer mehr umkippten und orange wurden. Sie trugen Baghwans Mandala um den Hals, wussten über alles Bescheid, waren voll auf Egotrip und benahmen sich wie die Säue.

>Du weißt ja nicht, was Liebe ist!< sagten sie mit einer Arroganz und Kälte, dass es einem kalt den Rücken hinunterlief. Das war traurig. Wie das Ende der Mandelhofzeit. Wo diese Handwerker kamen, die einen Platz, einen Anlegeplatz für ihre Yachten suchten und sich ausgerechnet unser Ufer ausgeguckt hatten. Sie kamen mit Gewalt, haben mit einem Bulldozzer den Garten planiert, sind eingebrochen und haben unsere Sachen verbrannt, unglaublich diese Boshaftigkeit, wir fielen von einer Ohnmacht in die andere, sie waren immer noch boshafter, als wir uns vorstellen konnten, dass Menschen sein könnten. Sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, da einzuziehen und haben es geschafft. Juristisch haben wir zwar Recht bekommen, aber das Haus war weg. Wir krochen dann bei Freunden in München unter, bis wir 1983 die Wohnung hier bekamen.

Erika Gertis, Kostümbildnerin, ist zu Gast aus Italien.

Erika

Weißt du noch, damals im >Stop In<, wie du da gesagt hast: >Da oben möchte ich wohnen?< Und jetzt wohnst du da.

Aki

Das war in dem Jahr, wo ich praktisch keine Wohnung hatte, wo ich mal hier, mal da schlief. Und da saß ich vor meinem Weißbier, traurig, melancholisch oder auch neidisch, sah die Lichter in dem Haus und dachte: Wie schön, wenn du jetzt unter so einem Licht säßest! Diese Heimelichkeit, die so etwas ausstrahlt. Da kann man sich ganz schön kräftig danach sehnen. So erklärt es sich auch für mich, dass ich jetzt hier bin.

Erika

Zu der Zeit war es auch, als ich aus Italien kam und der Roman mich fragte: >Wo soll ich dich absetzen?< >Schwabing<, sagte ich, >Türkenstraße meinetwegen<. Es war früh am Morgen und ich setzte mich an den Brunnen der Amalienpassage, wollte warten, bis die Bäcker aufmachten. Dachte an die Zeit, wo ich stundenlang nachts barfuss durch die Stadt gelaufen bin, alle Antennen außen und doch voller Zweifel, wie es weitergehen sollte, bis ich mein Thema gefunden habe, zu einem Entschluss gekommen bin. Und das war dann meist im Karree Amalien-Adalbert-Barer-Schelling mit der Türkenstraße in der Mitte. Und wenn dann die ersten Lichter angingen, fragte ich mich: >Mit wem wirst du zusammen frühstücken?<

Das war es immer, was mich auch jetzt nach zehn Jahren Italien mit der Straße verbindet: Das Persönliche, das Freundliche, das Freundesmässige, die Nähe. Die Atmosphäre von Sich-Heimelig-Fühlen. Hier sein Kraftfeld haben. Die Türkenstraße als ein vertrauensvolles Wesen, das immer genauso alt ist wie ich.

Sitze ich da also am Brunnen früh morgens, kommt der Axel vorbei, fragt: >Weißt du denn nicht, dass der Aki hier wohnt und die Sabine?< Wollt ich erst gar nicht glauben. Dann seh’ ich an der Klingel >Ahrens<, hole Brötchen, klingele, dann steht da am Eingang: Salve. SALVE. Ich war ganz gerührt.

Aki

Also, da hat sich seither einiges verändert. Verwässert. Dieses Caféhausgedudele von der Amalienpassage her, dieses Gedisco und Getue, das ist inzwischen zum Kennzeichen der Gegend geworden.

Dann die schlechten Sachen, die überall ausgeschenkt werden! Nehmen wir mal den Rotwein. Wenn ich durch die Lokale der Türkenstraße gehen würde und überall einen Rotwein trinken, wäre ich auf der Stelle tot. Dann die Wirte, schlimm. Quereinsteiger, Yuppies. Die wollen nur Kohle machen. Müssen sie ja auch wegen der Mieten. Aber die kommen ja eigens hierher, weil sie es hier machen können: billige Weine für schlechtes Geld. Du merkst nicht mehr, dass es ihnen vielleicht Spaß macht, Gäste zu haben, sie liebzuhaben und ihnen etwas Gutes zu tun. Damit sie eben auch wiederkommen.

Erika

Also, immer wenn ich hierher komme, muss ich einfach die Straße einmal ablaufen, riechen, was so da ist. Bekanntes, Unbekanntes. Die Vibration spüren. Es ist nun einmal meine Lieblingsstraße. Und wenn ich wieder in die Stadt ziehen würde, dann nur in eine, wo dieser Kontakt, >Mensch, Mensch, wir< da ist. Wo man jederzeit überall klingeln kann, wenn einem etwas ausgegangen ist.

Da war ich doch einmal mit meinem Hund, Babone hieß er und war erst ein halbes Jahr alt, hier, als gerade ein Straßenfest lief. Alles war abgesperrt und es war eine nette Stimmung, bis auf einmal, zack, war der Hund weg. Ich machte mich auf, ihn zu suchen. Bloß, wo fängst du hier an? Besser: Vertrauen haben, er findet schon zurück. Da bin ich wieder an meinen Tisch und siehe da, da lag er schon. Ist die ganze Nacht nicht verlorengegangen. Das meine ich mit der Atmosphäre, der familiären hier.

Aki

Das ist mehr so ein Humus, ein speziell bayerischer Humus, auf dem viel gedeiht, Aktivitäten, die von außen kommen, Menschen, die vom Norden kommen und München sofort in ihr Herz schließen und sich dann hier in der Gegend niederlassen.

Vorhin habe ich drei typische Türkenstraßler nebeneinander im Café gesehen: der eine, Autor von Drehbüchern und Krimis, der sich gerade so mühsam über Wasser hält und immer noch alles ausdiskutieren muss; der Zweite, Sänger und Alkoholpoet, und der Dritte: ein entrückter Mystiker und Ekstatiker, der sich zu >Stop-In<-Zeiten schon immer als Apoll bekränzt hat.

Das zeigt viel von der Türkenstraße: man weiß voneinander, sitzt nebeneinander, leidet gemeinsam, ist sich seelisch nah. Auch die, die sich nicht leiden können, es gibt viele alte Feindschaften hier, selbst die brauchen sich. Wenn der heute nicht da drüben sitzt, ist die Welt nicht in Ordnung.

Erika

Vorhin habe ich den Robin Page getroffen mit seinem blauen Bart und da fiel mir die Szene ein, wo es darum ging, wie weit die Stühle vom Café etcetera auf dem Trottoir stehen durften. Da hat er dann einen Balkon aufs Trottoir gemalt, so weit durften die Stühle stehen, weiter nicht. Natürlich entstand dann ein Engpass. Wie der Engpass vorm Adria. Aber die bringen’s dann auch, die Engpässe. (lacht)

Aki

Was der Straße schadet, ist die ständige Fluktuation, die geht an die Essenz, die macht viel kaputt, weil sie die Preise nach oben treibt und Abschreibungsideen entstehen lässt. Dann wechseln ständig die Geschäfte, die Form kocht weiter, auch wenn der Inhalt nicht mehr da ist.

Sabine

Was ich vermisse, ist ein Schutz für die Türkenstraße. Sie ist zu einem Durchgang verkommen. Ich habe oft den Eindruck, sie ist überlastet. Trotzdem ist es hier noch ländlicher als anderswo. Wenn ich in die Stadt gehe, gehe ich in die Stadt. Hier lebe ich in der Vorstadt.

Aki

Wer eine wichtige Figur hier ist, ist der Mathias. Er ist ein Katalysator. Er genießt von allen Schutz, er kriegt alles, er muss nicht einmal betteln.

Sabine

Da gibt es durchaus Geschäftsleute, die ihm Geld geben, dass er nicht vor ihrem Geschäft sitzt. Dadurch, dass er sich so öffentlich macht, ist er auch ein bisschen Inventar geworden. Immer dieselben Fragen, die hier gestellt werden: >Weißt du, wo der Mathias ist? Hast du ihn wo sitzen sehen oder ist er in der Klinik? Oder wieder in Haar?< Wenn er nicht da ist, geht er einem ab, wenn er da ist, geht er einem auf den Geist. Die meisten mögen ihn jedenfalls.

Aki

Ein anderer wichtiger Begriff für die Türkenstraße war >Lokalverbot<. Es gab immer einen von uns, der irgendwo Lokalverbot hatte. Im Simpl waren ja sowieso nur Leute erwünscht, die in der Zeitung standen. Diese Art von Nestlewärme eher als Nestwärme strahlte die berühmte Toni Netzle aus. Lokalverbot bekam, wer sich ungeschickt benahm: wer mit Haschisch dealte und dabei gesehen wurde oder wer so besoffen war, dass er nicht mehr cool war.

Wenn man dann hier so herumzog zu mehreren, da kamen ein Haufen Lokalverbote zusammen und dann blieb meist nur das >Charivari<, das wir >Hölle< nannten. Weil, wenn wir hingingen, alle schon zuviel getrunken hatten, die Kellnerinnen oft grob und böse waren und genervt vom harten Kern der Alkoholiker, der sich da aufhielt und wo sie immer wieder welche rausschmeißen mussten.

Sabine

Ich fand das >Stop In< richtig aufregend. Das war so ein Brodelkessel mit Tischen noch zum Abwischen wie bei >McDonald’s< heute, irgendwie amerikanisch und abgeteilt.

Aki

Dann gab’s diesen ständigen Pizzaverkehr: die Leute standen Schlange bis zur Straße hinaus, holten sich erst eine Pizza und checkten dann, was los war. Wer da war. Fanden sie einen Bekannten, setzten sie sich an den Tisch. Hinten waren die Stammgäste, also wir, von zwölf bis zwei, da war praktisch kein Durchkommen.

Sabine

Ich kam mit 18 hierher und habe meinen Bruder besucht. Ich sollte eigentlich wieder zurück nach Mannheim, Krankenschwester werden. Aber ich sagte: >Ich bleibe hier. Ich möchte erwachsen werden<.

Den Aki habe ich in Italien kennengelernt, dann 1978 in München wiedergesehen. Wir suchten eine Wohnung, eine Freundin und ich. >Geh’ doch zum Aki<, hieß es, >vielleicht weiß der was. Er wohnt über dem Türkendolch. Bei Sophie<.

Da bin ich dann hoch und sah ihn in der Küche. Da saß er ganz durchgeistigt und die Sonne fiel auf seine Locken und von außen schienen die Bäume rein — ein schönes Bild. Seit 1979 sind wir zusammen …

Aki und Sabine Ahrens


Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 438 ff.

Überraschung

Jahr: 1972
Bereich: Medien

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