Materialien 1972
Die Janusköpfigkeit des „perspektivischen Inkrementalismus“
— STADTENTWICKLUNG DURCH PROJEKTE ODER LERNEN VON DER
MÜNCHNER OLYMPIADE FÜR DIE WELTAUSSTELLUNG IN HANNOVER?
…
a) Der Wiederaufbau der kriegszerstörten Stadt im „provinziellen“ Duktus
Im Jahr 1955 war das Ziel des Wiederaufbaus notdürftig erreicht. In dieser Zeit ging, vermittelt u.a. durch die Ideologie der „verkehrs- und funktionsgerechten Stadt“, mehr Bausubstanz als im Zweiten Weltkrieg insgesamt verloren (vgl. dazu E. Schleich, 1981).
Planungstheoretisch war dieser Zeitraum durch eine „Strategie der unkoordinierten Einzelentscheidungen“ geprägt, die sich eingebunden fand in einen noch unausgesprochenen „Konsens der Moderne“.
b) Die erste Umbau-, Verdichtungs- und Erweiterungsphase der boomenden Stadt auf traditioneller Infrastruktur
Hervorstechend in dieser Stadtentwicklungsphase – die den Zeitraum zwischen den Jahren von 1955 bis 1970 umfasst – sind die Planung und der Bau von „Massenwohnsiedlungen am Stadtrand“ sowie die beginnende Vorbereitung und förmliche Festlegung von innerstädtischen (Flächen-)Sanierungsgebieten. Ziel damit verbundener Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik war es u.a. und bereits in Erwartung der Olympischen Spiele, nicht mehr konkurrenzfähige Haushalte und Gewerbetreibende aus der City und den Innenstadtrandgebieten abzusiedeln sowie heruntergekommene Bausubstanz abzureißen, um so Platz für sowohl für Zuwanderer als auch für den einsetzenden Tertiärisierungs- und Luxurierungsschub, die bis heute nur leicht gebremst anhalten, zu gewinnen. Ca. 70 Prozent der Bewohner der damaligen „Schlafstädte am Stadtrand“ kamen – angelockt durch modernen Wohnstandard und das Versprechen „Wohnen im Grünen“ – denn auch aus der Münchner Innenstadt bzw. den Innenstadtrandgebieten.
Auf der kommunalen Ebene wurde im Jahr 1963 zur Steuerung des explosionsartigen Wachstums der 1. Münchner Stadtentwicklungsplan verabschiedet und im Jahr 1965 ein neuer Flächennutzungsplan – mit dem Ziel der Ausweitung innerstädtischer Kernnutzung – erlassen. Diese Stadtentwicklungsphase lässt sich planungstheoretisch im Rahmen des Konzepts der „Anpassungs- und Auffangplanung“ (G. Albers) diskutieren. Gemeint sind damit punktuelle und zunehmend auch sektorale Interventionen und Korrekturen in „marktwirtschaftlich regulierten“ Transformationsprozessen. Oder mit anderen Worten: Wo im städtischen Reproduktionsprozess – eingebettet in Strukturen von Angebot und Nachfrage – größere Probleme, Ungleichheiten, Engpässe oder Konflikte aufbrachen, versuchte das politisch-administrative System steuernd einzugreifen.
c) Die zweite Phase des Umbaus, der Nutzungsintensivierung und Nutzungshomogenisierung, der Maßstabsvergröberung und der Erweiterung der Stadt auf modernisierter Infrastruktur
Diese Etappe umfasst den Zeitraum zwischen den Jahren 1970 und 1977 und war in München geprägt durch eine „konjunkturelle Verschnaufpause mit krisenhaften Tendenzen“, durch den Eintritt der Stadt in die internationale Städtekonkurrenz (vgl. u.a. die Vorbereitung und Durchführung der Olympischen Spiele, die Planung und den Bau des Europäischen Patentamtes, die Reorganisation u.a. der Siemens-AG zu einem internationalen High-Tech-Konzern) und durch die Modernisierung der Infrastruktur (hier die Einrichtung des Münchner Verkehrsverbundes (MVV), die planerische Vorbereitung des Interkontinentalflughafens im Münchner Nord-Osten, den weiteren Ausbau von Stadt(ring)autobahnen, von Fußgängerzonen mit Großkaufhäusern sowie neuen Hotelzentren und der Ausbau des Messewesens) für den Massenverkehr, den Massentourismus und den Massenkonsum.
Eine Reaktion auf diese Entwicklungsphase stellt der in den Jahren 1974/75 verabschiedete 2. Münchner Stadtentwicklungsplan, mit dem Ziel einer „dezentralen Konzentration“ städtischer Nutzungen, dar (im Jahr 1975 wurde auch die Europäische Denkmalschutz-Charta veröffentlicht). In dieser Stadtentwicklungsphase wurde in der „Weltstadt ohne Herz“ u.a. mit Teilen der Straßenbahn, Schrebergärten oder Handwerksbetriebe – die in Handwerkerhöfen in Innenstadtrandgebieten konzentriert wurden – viel von dem entfernt, was den Aufstieg zur High-Tech-, High-Cultur-, Freizeit- und Luxus(wohn)-Metropole, zur „postfordistischen Agglomeration“ behindern hätte können (vgl. I. Breckner/K.M. Schmals, 1989; 111 ff.).
Planungstheoretisch lässt sich diese Phase als Entwicklungsetappe der „integrierten Gesamtplanung oder städtischen Globalsteuerung“ entfalten. Verbunden waren damit in programmatischer Hinsicht – und fundiert in dem oben genannten Konzept – auch Vorstellungen von sozialer (Verteilungs-)Gerechtigkeit und sozialer Gleichheit u.a. auf den Ebenen Arbeitsmarktpolitik, Wohnungsversorgung und soziale Infrastruktur. In der Bayerischen Landeshauptstadt entwickelte sich diesbezüglich das „Münchner Modell“, das G. Gross wie folgt beschreibt: „Das ‚Münchner Modell’ von Stadtforschung und Stadtentwicklungsplanung stellt den Versuch dar, sich von dem traditionellen, technokratischen Planungsverständnis zu lösen und ansatzweise eine politische Planungskonzeption zu verwirklichen“ (ders., 1978: 100). Prägende Elemente dieses Modells waren a) die Steuerung des städtischen Gesamtzusammenhangs mit Hilfe eines Simulationsmodells, b) ein Verständnis von Stadtentwicklungsplanung als Gesellschaftspolitik, c) die interdisziplinäre und referatsübergreifende Bearbeitung städtischer Fragen und d) das Prinzip der „offenen Planung“ (ders., a.a.O.: 101). Warum dieses Modell scheitern musste, zeigen in einer differenzierten Analyse R.-R. Grauhan und W. Linder mit ihrer Arbeit „Politik der Verstädterung“ am Beispiel München (dies., 1974: 87 ff.).
d) Die dritte Umbau-, Verdichtungs- und Erweiterungsphase findet sich eingebettet in einen Regionalisierungsprozess.
In diesen Zeitraum fällt der relative Zusammenbruch der „Politik städtischer/gesellschaftlicher Globalsteuerung“. Parallel hierzu entfaltete sich eine „Politik der kleinen Schritte“. Dies aufgrund eines einsetzenden Wertewandels von materiellen zu auch immateriellen Werten sowie einer Hinwendung zu neokonservativen Deutungsmustern, aufgrund sozialstruktureller Individualisierungsschübe, Steuerungsblockaden im politisch-administrativen System, zunehmender Umweltbeeinträchtigung sowie aufgrund der Entwicklung neuer Technologien und Produktionskonzepte auf der einen Seite und unzureichenden Flexibilitäten in unternehmerischer Hinsicht auf der anderen Seite.
Der langfristige Wirtschaftsboom der Agglomeration München wurde jedoch nur in den Jahren zwischen 1983 und 1987 durch eine leichte Abkühlung unterbrochen. In diesen Zeitraum fällt auf der kommunalpolitischen Ebene im Jahr 1983 die Verabschiedung des 3. Stadtentwicklungsplanes (mit den Zielen verbesserter Wohnraumversorgung, Arbeitsplatzsicherung, der Schaffung von Gewerbeflächen und der Einrichtung eines leistungsfähigen ÖPNV-Systems). In diesem Zusammenhang sollte man die Sonderentwicklung Münchens nach dem Zweiten Weltkrieg mitbedenken, denn andere deutsche Städte gerieten bereits in dieser Zeit in krisenhafte Entwicklungen.
Diese vierte Entwicklungsperiode wird bestimmt durch den weitgehenden Abschluss der großen Sanierungsverfahren. In Haidhausen wurden in puncto Mieterverdrängung, Mietensteigerung, Zweckentfremdung von Wohnraum, Austausch von Bevölkerung und Arbeitskräften, Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen sowie Luxusmodernisierung – trotz Milieuschutz- und Zweckentfremdungsverordnung, Erhaltungssatzung oder Sozialplan- und Beteiligungsverfahren – die schlimmsten Befürchtungen Realität. Abgeschwächter ist dieser Aufwertungsdruck einige Jahre später im Westend und neuerdings in Giesing oder im Glockenbachviertel zu beobachten. Trotz äußerst negativer Erfahrungen mit den Lebensverhältnissen in ganzheitlich geplanten Großsiedlungen (vgl. Rechtsradikalismus, Vandalismus, soziale Brennpunkte, Bauschäden oder das Fehlens von Arbeitsplätzen und soziokultureller Infrastruktur) ist die traditionsgebundene Debatte um Planung und Bau von Großsiedlungen – von der „Panzerwiese“ über die „Neustadt Riem“ bis hin zu „Freiham“ – wieder in vollem Gang.
Charakteristisch für diese Stadtentwicklungsphase sind der weitere Ausbau der Stadtautobahnen sowie die Ergänzung bzw. Verlängerung des U- und S-Bahnsystems a) zur Erhöhung der Erreichbarkeit der Münchner Kernstadt, b) zur Erschließung ausgelagerter Wohn- und Gewerbestandorte sowie c) zur Förderung der Funktionalität moderner Produktions- und Distributionskonzepte. Im Rahmen von „just in time-Strategien“ wurden etwa ausgelagerte Produktionssegmente der Firmen BMW oder Siemens mit den kernstädtischen Headquarterfunktionen koordiniert. Weitere Merkmale dieser Entwicklung sind die Wiederentdeckung der Innenstadt als (Luxus-)Wohnort und – als Kehrseite der Medaille – die fortschreitende Verdrängung alteingesessener Bewohner- und Beschäftigungsgruppen aus der City und den Innenstadtrandgebieten ins Umland oder andere Siedlungsräume.
Wie gesagt: Planungstheoretisch deutet sich in diesem Zeitraum auch für München eine „Politik der kleinen Schritte, des Sich-Durchwurstelns“ an. Sie findet sich jedoch noch deutlich überlagert durch das „Konzept der integrierten Entwicklungsplanung“. Politikinhalte wie Denkmalschutz (wenn auch in der Regel nur Fassadenschutz), Stadtbildpflege, Wohnumfeldverbesserung, sanfte Stadterneuerung und Verkehrsberuhigung stehen Plänen eines Ausbaus (einer Untertunnelung) des Mittleren Rings, einer systematischen Ausweisung von Neubauflächen oder eines gesamthaften Umbaus der Innenstadt zu einer „Super-Mall“ gegenüber.
e) Regionalisierung und „perspektivischer Inkrementalismus“: das „Ende einer integrierten Stadtentwicklungsplanung“?
Die Münchner Stadtentwicklung wird seit mehreren Jahren durch tiefgreifende qualitative und quantitative Veränderungen geprägt. Sie ist einerseits einem Regionalisierungsprozess ausgesetzt (womit die Attraktivität Münchens weiter erhöht wird) und wandelt sich andererseits – und zwar auf leisen Sohlen – zur „Entwicklungspolitik durch Projekte“, zum „perspektivischen Inkrementalismus’„ (vgl. K. Ganser/Th. Sieverts, a.a.O.). Bedingt durch die qualitative bzw. verwertungsorientierte Handhabung dieses Planungskonzepts sinkt die politische, soziale oder ökologische Gestaltungs- und Kontrollkraft im städtischen Raum. Ein Umstand, der die Wohnraumknappheit, die Arbeitslosigkeit oder die Umweltprobleme weiter verschärft und die Lebenshaltungskosten in diesem Raum nochmals erhöht und möglicherweise einen „Verlust an Perspektive und Eigenständigkeit“ (H. Häußermann) verdeutlicht.
Es ist absehbar, dass Stadt und Region mittelfristig zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum zusammenwachsen werden. In diesem Zeitraum wird die Region München sicher einen Teil ihrer nach dem Zweiten Weltkrieg übernommenen Funktionen an Berlin und Städte der neuen Bundesländer abgeben: Der Großraum München entwickelt sich – heute bereits deutlich erkennbar – um die Kernstadt München zwischen Regensburg, Garmisch-Partenkirchen, Rosenheim und Augsburg zu einem Arbeitsmarkt mit 2,5 Mio. Beschäftigten und zu einem Lebensraum für 5 Mio. Haushalte. Gestützt findet sich dieser Regionalisierungsprozess durch landes-, regional- und kommunalpolitische Entscheidungen. Auch im Kleinraum fand eine deutliche Umschichtung von Wohn- und Arbeitsplätzen statt: „Die LH München und die Planungsregion 14 erreichten bezogen auf die Verteilung a) der Einwohner im Jahr 1950 einen Verhältniswert von 59 Prozent/41 Prozent, im Jahr 1990 von 53 Prozent/47 Prozent. Die Verteilung b) der Beschäftigten zwischen der LH München und der Planungsregion 14 bildete im Jahr 1950 einen Verhältniswert von 80 Prozent/20 Prozent und im Jahr 1990 einen Wert von 68 Prozent/32 Prozent“ (Breckner/Schmals, 1990: 9). Im gleichen Zeitraum nahmen im Landkreis München die Beschäftigen von 19.600 auf 149.300 und die Einwohner von 96.500 auf 261.000 zu. In der City nahmen die Arbeitsplätze zwischen 1970 und 1987 um 8,2 Prozent auf 86.700, in den Innenstadtrandgebieten um 0,8 Prozent (= 1.960) auf 254.100 und in den Außenbezirken auf ca. 540.000 zu. Die Zahl der Einwohner ist im Zeitraum von 1961 bis 1990 in der City von 16.183 auf ca. 7.000 und in den Innenstadtrandgebieten von 543.461 auf ca. 414.000 gesunken und in den Außenbezirken von 534.370 auf 882.000 Personen gestiegen (vgl. Breckner/Schmals, 1990).
Vor diesem Hintergrund bedeutet die Strategie des „perspektivischen Inkrementalismus“ Chance und Gefahr zugleich. Nach K. Ganser und T. Sieverts sind mit ihr die Beachtung gesellschaftlicher Grundwerte und ihre Konkretisierung in Projekten möglich (dies., 1993: 35 f.). „Integrierte Stadtentwicklungsplanung“ im traditionellen Sinn würde dann eher in den Hintergrund der Planungspolitik treten. An Projekten fehlt es heute in der Region München noch nicht, wenngleich der Entwicklungsdruck durch Projekte nachlässt. Zu nennen wären hier neben vielen anderen Projekten Großprojekte wie die „Neustadt Riem“, das Stadtteilprojekt „Panzerwiese“ oder die Überbauung des Geländes „Hauptbahnhof-Laim-Pasing“. Jedoch fehlt es dabei an Wertorientierungen. Die dabei notwendigen und Perspektiven aufzeigenden Grundwerte erschöpften sich bisher zu häufig in der Beachtung individueller oder einzelbetrieblicher Verwertungsgesichtspunkte. Normative und letztendlich politische Konzepte einer sozial- und umweltverträglichen oder nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung konnte ich bisher z.B. nicht aus der Diskussion des im Jahr 1994/95 zu verabschiedenden 4. Münchner Stadtentwicklungsplanes „Perspektive München“ herauslesen (vgl. Landeshauptstadt München, Planungsreferat, 1993). Möglicherweise wird er – da er die „Politik eines perspektivischen Inkrementalismus“ nur stören würde – nicht mehr verabschiedet werden?
3. Die Funktion der Olympischen Spiele für die wachstumsorienterte Münchner Stadtentwicklungsplanung – Ein frühes Beispiel nicht nur einer „festivalisierten Stadtpolitik“, sondern auch des „perspektivischen Inkrementalismus“
a) Planung eines Festivals und die resultierenden Folgen
Die viele Jahre anhaltende Boomphase der Stadtentwicklung Münchens resümierend, sticht die Olympiade im Jahr 1972 im besonderen Maße hervor. Jedoch sollte man das Ereignis als solches nicht überschätzen. Von Interesse für eine Sozialverträglichkeitsprüfung von Stadtpolitik und ihrer Projekte ist vielmehr der gesamte Entwicklungsprozess eines Festivals inklusive seiner Folgen. Man kann das Ziel, das mit dem Planungsprozess der Olympischen Spiele verbunden war, umschreiben mit „Platz frei für das neue, gespaltene und polarisierte München“. Der damit verknüpfte Planungsprozess und die resultierenden sozialräumlichen Folgen gelten in den Augen vieler Fachleute, Modernisierungsgewinnern und Modernisierungsduldern gleichermaßen als geglückte Intervention in den Entwicklungsprozess dieser Stadt. Ob das die Modernisierungsopfer auch so sehen, ist zu bezweifeln. Insgesamt verfing sich die offizielle Münchener Stadtplanungspolitik in den 70er und 80er Jahren – aus Gründen wie z.B. der Nichtdurchsetzung gesetzlicher Vorschriften, der Umverteilung gesellschaftlicher Vermögenswerte von unten nach oben und eines Desinteresses an innovativen und sozialengagierten Maßnahmen – in einer „Modernisierungsfalle“ (vgl. K. Wahl, 1989): die immensen Mittel wurden nicht eingesetzt für soziale Gerechtigkeit. Erscheinungsformen parteipolitischer und politisch-administrativer Egoismen und Konflikte, fachlicher Unfähigkeiten und nicht vorhandener Handlungsbereitschaft sind eine Umweltkatastrophe im Großraum München, ein Verkehrskollaps, eine bisher unbekannte regionale Wohnungsnot, eine zur Unprofessionalität transformierte Planungsverwaltung, eine konzeptlos lavierende und kooperationsunwillige Referatsleitung oder eine sich in der Region München sprunghaft beschleunigende Beschäftigungskrise (in den nächsten zwei bis drei Jahren könnten ca. 100.000 Arbeitsplätze verschwinden: auch München wird nun zur „verlängerten Werkbank“ internationaler Konzerne).
b) Festivalisierung der Stadtentwicklung
Was „perspektivischer Inkrementalismus“ meint, wurde ansatzweise rekonstruiert. „Festivalisierung“ meint einen relativ neuen Typus von Stadtpolitik, den Typus einer „projektorientierten Stadtentwicklungspolitik. W. Siebel entfaltete ihn am Beispiel der Weltausstellung in Hannover. Festivalisierung ist einerseits „der ‚Versuch, die Mehrheitsunfähigkeit einer problemadäquaten Politik zu kompensieren’. Das Großprojekt soll Politiken sichtbar machen und heterogene Interessen zu Mehrheiten zusammenbinden, wo sich aus der Struktur der Gesellschaft und ihrer Probleme heraus keine mehrheitsfähige Politik mehr langfristig ergibt“ (ders., 1991: 48) und kann andererseits die „gezielte Organisation des Wegsehens von den sozialen und ökologischen Problemen einer Stadt“ bedeuten resp. ermöglichen (ders., a.a.O.: 49). Mit dem Instrumentarium einer multifunktional einsetzbaren „Politik der Festivalisierung soll gegenüber der Stadtöffentlichkeit verdeutlicht werden, und damit verzahnt sie sich vorzüglich mit der Strategie des „perspektivischen Inkrementalismus“, dass Politiker a) nach wie vor handlungsfähig sind, dass sie b) auf irgend eine Form die Mehrheit der Wähler – die Gewinner, Dulder und Verlierer der Stadtpolitik gleichermaßen – hinter sich bekommen. Mit ihr sind nicht zuletzt c) soziale, kulturelle oder ökologische Probleme bzw. Folgen einer unsachgemäßen Stadtpolitik verschleierbar, sodass die verantwortlichen Politiker nur schwer zur Verantwortung zu ziehen sind.
c) Die Olympiade – (Pyrrhus-)Erfolge für München
Die Stadt München erhielt im Jahre 1966 die Olympischen Spiele zugesprochen, also 6 Jahre vor dem Austragungszeitpunkt. Die Olympischen Spiele verstärkten – so auch R. Geipel, I. Helbrecht und J. Pohl (1993: 278 ff.) und R. Geipel (1987: 16 ff.) – a) nicht nur den Münchener Wachstumsprozess und sorgten b) für die Verstärkung einer stadtübergreifenden Raumordnungspolitik, sondern sind c) auch mitverantwortlich für eine zunehmende Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung der Planung (vgl. die Einrichtung eines „Investitions- und Olympiaamtes“ sowie einer „Grundsatzabteilung“ im Planungsreferat). Dabei zogen d) Stadt, Land und Bund an einem Strick. „Erfolge für München“ waren:
die Realisierung hoher Fremdmittel zur Bearbeitung städtischer Interessen (von 1,4 Mrd. DM Gesamtkosten für die Münchner Spiele mußte die Stadt 143 Mio. DM aufbringen);
die Einrichtung eines öffentlichen Stadt-Umland-Verkehrsmittels, womit gleichzeitig die Attraktivität der Stadt erhöht wurde;
die Olympiaanlagen konnten im Zuge der Luxurierung der Münchner Lebensverhältnisse „vermarktet“ werden: das Olympiastadion über den „Millionärsclub“ Bayern München oder das „Olympische Dorf’ im Rahmen der „Umwandlung in Eigentumswohnungen“;
durch die teilräumliche Intervention im Münchner Norden konnte dieses Stadtsegment nicht nur fundamental verändert, auf die „Gentrifizierungsschiene“ gesetzt werden, sondern für München auch ein janusköpfiger Wachstumskorridor freigelegt werden, in dessen Kontext die Durchsetzung einer Zweidrittelgesellschaft zumindest erleichtert wurde. Im Münchner Norden entstand auf einer großen Brache eine Sport- und Freizeitanlage. Im engeren Umfeld entstanden – marktvermittelt – eine Denkfabrik der Fa. BMW und vielfältige Niederlassung von Forschungseinrichtungen, Banken und Fertigungsstätten der High-Tech-Industrie, die den traditionellen Arbeiterbezirk stark umstrukturierten. Im größeren Umfeld erweiterte sich die Technische Universität mit weiträumigen Institutsanlagen und es entstand der Großflughafen München vernetzt mit Kongress-, Hotel- und Einkaufszentren. Ein Stadtsektor, der bisher durch die Konzentration von Negativnutzungen wie Kasernen, Müll- und Schuttbergen, Kläranlagen, Autobahnkreuzen, Rangierbahnhof oder Obdachlosensiedlungen charakterisierbar war, wurde umgenutzt und aufgewertet. Großräumlich und kernstädtisch veränderte München nicht nur seine Verkehrs- und Raumstruktur, sein Hotel- und Gaststättenangebot, seine Ausbildungs- und Forschungslandschaft, sondern auch seine Kultur- und Freizeitszenerie. Das „Modell München“ wurde so zum Prototyp einer sozial unverträglichen Stadtentwicklungsplanung …
Das planerische „Wachstumsmodell München“ gilt heute in theoretischer, instrumenteller und moralischer Hinsicht als gescheitert. Dies nicht nur vor dem Hintergrund der „integrierten Entwicklungsplanung“, sondern auch im Rahmen von „Festivalisierung“ und „perspektivischem Inkrementalismus“. In beiden Fällen wurde nicht ausreichend auf Entwicklung und Einhaltung gesellschaftlicher, gruppenspezifischer oder individueller Grundwerte geachtet. München gilt heute als „Stadt sozialer Unverträglichkeit“ und die „Olympischen Spiele“ können als eine sozialräumliche Intervention dargestellt werden, in deren Rahmen von unten nach oben umverteilt wurde bzw. Formen sozialer Ungleichheit auf der lokalen Ebene vertieft wurden …
Klaus M. Schmals
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