Materialien 1972

Mieten in Deutschland: Not im Wohlstand

SPIEGEL-Report über Inflation und Sachwert-Flucht auf dem Wohnungsmarkt

… Deutschlands Mietern droht der finanzielle Kollaps. Wie nie zuvor fühlen sie sich von ihren Wohnungsgebern an die Wand gedrängt: In den vergangenen zehn Jahren kletterten die Einzel-
handelspreise um 18 Prozent, die gesamte Lebenshaltung wurde um 30,4 Prozent teurer, der Mietenindex aber schnellte um 73 Prozent hoch.

„Die Mietentwicklung ist ein Skandal“, wettert Werner Kock, Vorsitzender des Verbandes Freier Wohnungsunternehmen, „ein bitteres Thema“, meint resigniert Alfred Röher, Verbandsmanager der öffentlichen Bausparkassen. Auf den Straßen westdeutscher Großstädte formieren sich immer häufiger Mieter zu Protestmärschen gegen die Preiserhöhungen.

Zwei Drittel aller Bundesdeutschen wohnen in anderer Leute Häuser. Ihre Lohnverbesserungen der vergangenen zehn Jahre wurden durch den Mietschub stark geschmälert: Zwischen Kiel und Konstanz stiegen die Monatseinnahmen eines Vier-Personen-Haushalts mit mittlerem Einkom-
men (1971: 1.427 Mark netto) um 78,4 Prozent – die Mietausgaben wuchsen jedoch fast um den gleichen Satz.

Zwar veröffentlicht das Statistische Bundesamt in Wiesbaden Zahlen, die den Anstieg verharmlo-
sen: Es verrührt die Mietsprünge in den Großstädten mit den behäbigen Preiserhöhungen auf dem Lande und kommt zu Durchschnitts-Chiffren, die nichts aussagen.

Aber in den städtischen Ballungsgebieten, wo über die Hälfte aller Westdeutschen ihr Auskommen sucht, bersten die Preise wie nie zuvor: Wer dort um eine Wohnung drängelt, gerät fast immer in die Mietpresse der Hausbesitzer – egal ob die Wohnung noch im vergangenen Jahrhundert oder erst in diesem Jahr gebaut wurde.

Zweihundert Mark für eine Schrank-Etage

Für Mieter, die in einer Großstadt eine frei finanzierte Neubauwohnung* beziehen, hat die Auszeh-
rung schon begonnen:

* In München-Bogenhausen vergab die Baufirma Heilmann & Littmann unlängst Wohnungen zu einem Monatsmietpreis von 7,50 Mark je Quadratmeter.
* In München-Schwabing zahlen zuziehende Mieter rund zehn Mark je Quadratmeter …

Altbauten: Teurer ohne Zwang

Altbaumieter dagegen, durch Wohnkomfort kaum verwöhnt, sehen sich in vielen Fällen unmittel-
bar in den Inflations-Strudel gerissen. In München, Hamburg und West-Berlin gilt zwar teilweise noch ein befristeter Altbaumieten-Stopp, aber jenseits dieser „Grauen Kreise“ brandet die freie Marktwirtschaft …

In München setzte der Eigentümer des Hauses Triftstraße 10 kurzerhand die Miete für eine 158 Quadratmeter große Wohnung von 2,20 auf neun Mark je Quadratmeter herauf.

Wohnen in Deutschland ist so teuer geworden, dass sich viele Rentner und Personen mit niedri-
gem Einkommen diesen Luxus gar nicht mehr leisten können. Der Erfahrungssatz, ein Viertel des Netto-Einkommens sei für den Hausbesitzer abzuzweigen, hat in Großstädten – zumindest bei Neubauten – kaum noch Bezug zur Realität.

Das Durchschnittseinkommen eines Arbeiters oder Angestellten betrug im vergangenen Jahr 968 Mark netto im Monat. Selbst Sozialneubauten (75 Quadratmeter) aber kosten durchweg 300 Mark. Häufige Konsequenz: Die Frau muss mitarbeiten.

Miet-Direktor Schlich: „90 Prozent aller Mietpreissteigerungen, die seit der Einführung des neuen Mietrechts Ende 1971 ausgesprochen wurden, sind überhöht. Die Leute zahlen jährlich schätzungs-
weise zwei bis drei Milliarden Mark zuviel.“

Die Inflation im Mietbau scheint unaufhaltbar, weil

- einerseits zwar Bau- und Bodenpreise in schwindelnde Höhen geklettert sind – die Hauseigentü-
mer mithin höhere Mieten nehmen müssen;
- andererseits aber noch immer Wohnungsmangel herrscht — die Hausbesitzer also höhere Mieten nehmen können.

Fehlbestand: Nach wie vor eine Million

Obwohl seit 1948 über zehn Millionen Wohnungen gebaut wurden, ermittelten Statistiker vor vier Jahren überraschend, dass noch immer 800.000 Wohnungen fehlten.

Und obwohl seit dieser Erhebung jährlich etwa 500.000 Wohnungen von privaten und öffentli-
chen Bauherren hochgezogen wurden, schätzt Bundeswohnungsbauminister Lauritz Lauritzen den Fehlbestand heute immer noch auf eine Million.

In Düsseldorf mangelte es an 21.000 Wohnungen. In Hamburg sind bei den Bezirksämtern rund 10.000 „Dringlichkeitsfälle“ registriert. Knapp 12.900 Familien warten in München auf eine Sozi-
alwohnung; mit dem Vermerk „akute Not“ sind in der Olympia-Stadt 2.900 Fälle aktenkundig. Johann Kautnick vom Münchner Wohnungsamt: „Was wir wegbringen, wächst wieder nach.“

Nicht zum Fehlbestand von einer Million zählen jene vorhandenen Behausungen, die der Bezeich-
nung „Wohnung“ Hohn sprechen: Mehr als eine halbe Million Bundesdeutsche leben in Baracken und Nissenhütten. In den Sanierungsgebieten der Großstädte, so ergab die Wohnungszählung 1968, wohnen mehrere Millionen Menschen in mehr als einer Million abbruchreifer Unterkünfte.

Lauritzens Ziel, langfristig „ein angemessenes Wohnungs-Überangebot von ein bis zwei Prozent zu erreichen“, erscheint mehr denn je utopisch.

Denn zum Millionen-Defizit, dem „harten Kern des Wohnungsbedarfs“ (Jahresbericht 1971 des Bonner Wohnungsbauministeriums) wächst Jahr für Jahr ein Neubedarf von fast 350.000 Behausungen hinzu: Immer früher flüchten junge Bundesbürger aus ihren Familien in die Selb-
ständigkeit der eigenen vier Wände: immer länger aber leben auch Pensionäre in zu großen Wohnungen.

Etwa 500.000 Zweitwohnungen für Wohlhabende nehmen überdies den Bedürftigen die Räume; die Nachfrage nach „angemessener Unterbringung“ (Wohnungsbauministerium) für 3,4 Millionen Ausländer hält die Fehlbestandswunde gleichfalls offen.

„Keine Veränderung – egal wer die Regierung stellt“

Der Mieter-Wunsch nach geräumigeren Wohnungen und die Sanierungszwänge der Städte schließlich vergrößern den Neubedarf. In Hamburg werden jährlich 2.000 Wohnungen abgerissen. Für das gesamte Bundesgebiet rechnen die Wohnungsexperten mit einem durch Abbruch beding-
ten Ersatzbedarf von jährlich 150.000 Behausungen.

Angesichts dieser Mangelsituation sind Lauritzens Ziele, bis in die achtziger Jahre „eine jährliche Wohnungsbauleistung in einer Größenordnung von rund 500.000“ (Jahresbericht 1971) vorzu-
legen, eher zu kurz gesteckt. Die Nachfrage wird dem geplanten Angebot auch weiterhin davon-
laufen.

Noch bedrohlicher für die Pläne der Wohnungspolitiker ist jedoch die weitere Kostenentwicklung: „Unsere Kunden glauben“, weiß Werner Lehmann, Geschäftsführer des Verbandes der Privaten Bausparkassen, „dass sich das auch weiterhin nicht ändert – egal welche Partei die Regierung stellt.“

Was die Bauherren in den vergangenen Monaten für Grundstücke, Bauleistungen und Kapital-
dienst zahlen mussten, erhob die Miet-Misere in den Rang eines öffentlichen Notstands.

„Zahlen, die die Grenze des Vertretbaren überschreiten“

… Die Preise an den Baustellen der Bundesrepublik wachsen schneller als die Gerüste: Im vergan-
genen Jahr kletterte der amtliche Baupreisindex um elf Prozent – mehr als doppelt so rasch wie der auch nicht gerade immobile Index der Lebenshaltungskosten.

Bis zu einem Drittel der Baukosten verursachen allein die Grundstücksbesitzer: Preissteigerungen um hundert Prozent innerhalb weniger Jahre gelten auf diesem „völlig verklemmten Markt“ („Frankfurter Allgemeine“) als normal.

In München stiegen die Bodenpreise seit 1950 um 2.036 Prozent. In den 25 nordrhein-westfäli-
schen Städten, in denen mehr als 40 Prozent der Landesbevölkerung lebt, wird Bauland wegen der hohen Preise so gut wie nicht mehr gehandelt: 17.477 Grundstücke wechselten 1971 an Rhein und Ruhr den Besitzer, nur 2.405 aber lagen innerhalb der Stadtmauern.

Die Folgen der Hochkonjunktur schließlich treffen Wohnungsbauer – und damit Mieter – auch bei der Finanzierung: Zieht die Frankfurter Bundesbank die Kreditbremse um ein Prozent an, verteu-
ert sich – nach einer Untersuchung des gewerkschaftseigenen Wohnungstrusts „Neue Heimat“ – beispielsweise die Miete einer 70 Quadratmeter großen Wohnung, die zur Hälfte mit Kapitalmarkt-
mitteln finanziert wird, um 35 Mark im Monat.

Die Druckwelle der Bau-, Boden- und Kapitalkosten verschlug in den letzten beiden Jahren Bau-
herren und Architekten den Atem. Klaus Neuenfeld, Sprecher des Bundes Deutscher Architekten (BDA): „Die meisten Voranschläge kann man auf den Lokus hängen.

Die Sturzflut der Preise warf sogar große Wohnungsbaugesellschaften zu Boden: Die „Neue Hei-
mat“, unter den etwa 2.000 gemeinnützigen westdeutschen Wohnungsunternehmen mit Abstand marktbestimmend“ hat wegen der Inflation, so Finanzchef Harro Iden, „den sozialen Wohnungs-
bau weitgehend eingestellt.

Und so wie die „Neue Heimat“ verhielt sich die gesamte gemeinnützige Branche: Die Zahl der Sozi-
al-Neubauten – Prunkstück christdemokratischer Politik in den fünfziger Jahren – sackte von 1959 bis 1970 von 301.000 auf 134.000 ab. Der Anteil der Sozialbehausungen am gesamten Wohnungs-
bau rutschte in der gleichen Zeit von 51 auf 28 Prozent.

Zwar wurden im vergangenen Jahr wieder annähernd 150.000 und werden in diesem Jahr vor-
aussichtlich rund 200.000 Sozialetagen aufgerichtet, doch bleibt der Anteil der subventionierten Räume am gesamten Wohnungsbau in Westdeutschland bei 30 Prozent stecken. „Früher“, klagt Eberhard Körber vom Münchner Baureferat, „sind diese Gesellschaften bei uns Schlange ge-
standen. Heute müssen unsere Leute schon fast wie Handelsvertreter alles abklappern, um noch jemanden zum sozialen Wohnungsbau zu überreden.“

Auch frei finanzierte, von keinerlei Steuergeldern geförderte Mietwohnungen werden immer weni-
ger gebaut: Der gesamte Kostendruck verursacht, so weiß Harro Iden, „zur Zeit Mieten zwischen acht und 14 Mark.“ Und er fragt: „Wer soll denn das bezahlen?“

Ersetzt wird der Rückgang beim Mietbau durch Eigentumswohnungen: Die Furcht vor ständig steigenden Mieten treibt selbst jene mittleren Einkommensempfänger in den Immobilienbesitz, die sich dafür bis an ihr Lebensende hoch verschulden müssen.

Angestellte, die netto 1.500 Mark verdienen und davon 30 Prozent monatlich an ihren Hausherren abführen, kalkulieren ernsthaft den Kauf einer Eigentumswohnung im Wert von 150.000 Mark – selbst wenn sie kaum Eigenkapital besitzen und deshalb alle anderen Zukunftspläne am besten gleich streichen können. Bauspar-Sprecher Lehmann: „Die Leute halten vor, weil sie wissen: Die Inflation rückt nach.“

Doch die Angst vor weiteren Mietverteuerungen treibt auch die Preise im Immobilienkauf: Eigen-
heime, die vor fünf Jahren auf dem Lande für 60.000 Mark angeboten wurden, kosten heute mehr als das Doppelte. Bei Eigentumswohnungen in den Innenstädten von Düsseldorf und Hamburg wird inzwischen jeder Abstellplatz für einen Sessel mit 5.000 Mark bezahlt.

Run auf Eigentumswohnungen

So jagt die Angst die Preise, und die Preise schüren neue Ängste. „Wegen der Geldentwertung“, so Bauspar-Manager Röher, „verfallen die Leute einem psychologischen Zwang zum Handeln. Alle suchen einen Ausweg. Alle wissen: So kann das nicht länger weitergehen.“

Die Mieter-Flucht in eigene vier Wände brachte einen Bau-Boom wie nie zuvor: Im ersten Halbjahr blähten sich die Wohnbau-Investitionen, gemessen an der gleichen Vorjahreszeit, um nicht weni-
ger als ein Viertel auf 24 Milliarden Mark. Von Januar bis Ende Juni wurden 152.200 Behausun-
gen bezugsfertig, doch die Bauämter genehmigten in den gleichen sechs Monaten bereits weitere 365.000 Wohnungen.

In ihrem jüngsten Monatsbericht rechnet denn auch die Bundesbank damit, dass die Bauherren bis Ende des Jahres den Nachkriegsrekord von 1964 übertreffen werden. Die Überforderung des Bau-
marktes, so diagnostizieren die Frankfurter Geldwertwahrer, „erweist sich als ein besonders gün-
stiger Nährboden für die Vermehrung des Inflationsbazillus“.

Die Bausparkassen registrieren deshalb seit einigen Jahren einen Kundenzulauf, wie ihn keine andere Kreditbranche verzeichnen kann: 1969 wuchs ihr Neugeschäft mit mietstrapazierten Bausparern gegenüber dem Vorjahr um 51 Prozent, 1970 um weitere 35 Prozent. Von Januar bis August dieses Jahres melden die privaten Bausparkassen schon wieder einen Zuwachs von 22,6 Prozent.

„Je öfter der Strauß am Rednerpult erscheint“, so Röher, „um so mehr wächst in der Bevölkerung das Gefühl: Jetzt wird es Ernst.“

Allein 200.000 Eigentumswohnungen wurden in den vergangenen zweieinhalb Jahren aufeinan-
dergesetzt. Werner Lehmann, Geschäftsführer des Verbandes der Privaten Bausparkassen: „Wir haben es hier wahrhaft mit einem säkularen Trend zu tun.“

Albert Vietor, Chef der „Neuen Heimat“, spricht von „einer Wende in der Geschichte“ seines Wohnungsbauunternehmens: Der Mietbau, bislang Geschäftsprinzip des gemeinnützigen Kon-
zerns, wird bis 1975 auf etwa ein Drittel aller Neubauten reduziert werden, den größeren Teil des Geschäfts wird die „Neue Heimat“ dann mit dem Verkauf von Eigentumswohnungen und der Planung von kommunalen Institutionen bestreiten.

Angeregt durch Bonns Baupolitiker, kreierte Victor einen sogenannten „Wohnbesitzbrief“ – eine „neue Form des Miteigentums an Haus und Boden für Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen“. Die Bewohner sollen mit Kaufmiete und einem etwa zehnjährigen Sparvertrag nach und nach in den Besitz ihrer Räume kommen.

Für Werner Kock, dem Vorsitzenden des Verbands Freier Wohnungsunternehmer, ist dieser (auf dem Markt unverkäufliche) Besitzbrief allerdings nichts anderes als ein Mittel der Refinanzierung für die Heimat-Manager. Kock: „Vietor hat vor den Mietproblemen kapituliert.“

Ähnlich der „Neuen Heimat“ haben die meisten Wohnungsunternehmen und Makler ihre Geschäf-
te mittlerweile auf den Handel mit Eigentum umgestellt. Sie nutzen die wachsende Inflationsmen-
talität in der Bevölkerung für zum Teil exorbitante Gewinne.

Die Bauherren errechnen den Verkaufspreis dabei nicht etwa aufgrund der Kosten, sondern orientieren sich ausschließlich am Markt: „Wir rechnen von oben“, so der Düsseldorfer Wohnungsmakler Jost Reich.

Über den Daumen kalkulieren sie für Eigentumswohnungen, die sie en bloc verkaufen, bis zu 30 Prozent Verdienstspanne – manchmal sogar mehr. Trotz aller Bodenpreis- und Lohnsteigerungen sind mithin jene Verkäufer die stärksten Heizer der Inflation, die mit bedauerndem Achselzucken auf die allgemeine Teuerung verweisen.

Kann aufgrund der fiebernden Nachfrage beispielsweise eine hundert Quadratmeter große Eigen-
tumswohnung für 220.000 Mark abgestoßen werden, so stecken die Gewinne nicht nur im Bau, sondern auch mit hohen Quoten in den Grundstücken, die mehrstöckig ausgenutzt werden.

In Stuttgart waren Eigentumswohnungen guter Qualität 1970 noch für etwa 2.500 Mark je Qua-
dratmeter Wohnfläche zu haben, in der Saison 72 bietet die Stuttgarter Dr. Lübke Haus- und Grundbesitz KG Appartements an, die bei „guter Ausstattung“ 3.210 Mark, bei „Luxus“-Qualität 3.920 Mark je Quadratmeter kosten.

Die Chance für Eigentums-Verkäufer, auf leichte Weise Geld zu verdienen, lässt viele Wohnungs-
makler nicht ruhen. Da sie für ein Objekt nicht zugleich Bauherr und Makler sein dürfen, finan-
zieren und bauen sie mit Hilfe von Strohmännern und kassieren anschließend doppelt: Sie streichen die Veräußerungsgewinne ein und genehmigen sich von ahnungslosen Käufern auch noch die Makler-Provision.

Andere, wie der Düsseldorfer Reich, kaufen Grundstücke mit alten Einfamilienhäusern auf, reißen die Villen ab und errichten auf dem Gelände sodann mehrere Eigentumswohnungen. „Das ist doch sehr sozial, was wir tun“, meint der Hamburger Makler Johannes Assenmacher, „damit überwin-
den wir die elitären Wohnstrukturen vergangener Zeiten“

Einfallsreiche und skrupellose Makler

Soweit sie andererseits noch Wohnungen vermieten, erspüren sie den Mietzins freihändig am Markt: In Hamburg-Rahlstedt bot im Sommer dieses Jahres Hausmakler Hans Biemann eine 120 Quadratmeter große „4-Zimmer-Neubau-Komfortwohnung“ für 800 Mark an: Hausmakler Rein-
hard Höhne suchte dieselbe Wohnung als „4-Zimmer-Luxus-Wohnung“ für 980 Mark an den Mieter zu bringen.

Einfallsreich umgehen viele Makler und Hausbesitzer die partielle Mietpreisbindung bei Altbauten in Hamburg, München und Berlin, indem sie die Wohnungen als Büroräume deklarieren: Mieter müssen sich dann Schilder wie „Filmproduktion“ oder „Handelsvertretung“ an ihren Türen gefal-
len lassen, um – zu kräftig erhöhter Pacht – dort wohnen zu können.

Skrupellos verlangen Vermieter immer häufiger Einsicht in die Gehaltsstreifen der Wohnungsu-
chenden, um deren Belastbarkeit zu erkunden. Oder sie lassen – trotz Raum-Not – ihre Altbauten in reinen Wohngebieten so lange leerstehen und zerfallen, bis sie von den Behörden die Geneh-
migung ertrotzt haben, lukrativere Bürohäuser auf den Grundstücken zu errichten.

In Hamburg-Pöseldorf, dem hanseatischen Schickeria-Viertel an der Außenalster, nutzt der städti-
sche Großgrundbesitzer Eduard Brinkama – Antiquitätenhändler und Innenarchitekt – die Gunst der Stunde und diktiert seinen Wohnungsnehmern sogar eine floatende Pacht: „Die Mieten werden grundsätzlich“, so Brinkama freimütig, „dem Lebenshaltungskostenindex angepasst.“ Stolz be-
zeichnet er diese Pfründe als „Hamburger Formel“.

Gewinn-Boom für die Bauwirtschaft

… Der Gewinnboom im Geschäft mit der Miete und beim Verkauf von Eigentumswohnungen bringt allerdings nicht nur Maklern und Hausbesitzern Vorteile. Er treibt an den Börsen auch die Kurse jener Unternehmen nach oben, die die Wände hochziehen: Wie in kaum einem anderen Wirtschaftszweig stiegen in Westdeutschlands Bauindustrie 1971 die Profite – bei manchen Firmen um 100 Prozent.

Obgleich der Tiefbau erlahmte, wuchs durch das Wohnungsgeschäft der Gewinn der großen Bau-
firmen pro Aktie um zwölf Prozent. Die Beton- und Monierbau AG erhöhte ihre Dividendenzah-
lung von 6 auf 16 Prozent. Die Frankfurter Philipp Holzmann AG steckte im Geschäftsjahr 1971 rund 5,6 Millionen Mark in die Rücklagen und warf dennoch wieder 18 Prozent Dividende aus.

Die Bilanzen werden mit Sicherheit in diesem Jahr noch besser. Die „Münchner Börsenbriefe“ empfahlen „eine Anlage in Aktien derjenigen Unternehmen, deren Entwicklung direkt mit dem Wohnungsbau korreliert ist“.

Vor allen Dingen die Versicherungen legen ihr Geld wie nie zuvor in Immobilien an. Ihre tradi-
tionellen Anlagesparten wie Rentenpapiere und Schuldscheine halten sie für inflationsgeschwächt. Wie die Bausparer flüchten sie in die Sachwerte.

Die Furcht vor weiteren Verteuerungen stärkt den Run nach Eigentum von Monat zu Monat. Und der Run auf die Immobilie treibt die Preise in schwindelerregende Höhen.

Allein die Hoffnung auf künftigen Wertzuwachs macht Bausparer, Wohnungsunternehmer und Versicherungen für gegenwärtige Kalkulation blind. Sie schicken die Bauarbeiter auf die Gerüste – egal was es kostet.

Zurück in der Baugrube bleiben die Wohnungspolitiker aus Bund und Ländern. Ministerialdirigent Otto Stadler von der bayrischen Obersten Baubehörde sieht sich bereits „mit hängender Zunge hinter den steigenden Bau- und Bodenpreisen herlaufen“.

Die öffentliche Hand bewilligte bereits 1970 fast 2,2 Milliarden Mark, um die Mieten in West-
deutschland erschwinglich zu halten. 1971 stieg die Summe auf über 2,8 Milliarden Mark – in diesem Jahr stocken die Wohnungsbaupolitiker ihre Subventionsetats noch einmal um über eine halbe Milliarde auf. Wilhelm Häusler, Chef-Syndikus der Haus- und Grundeigentümer, bekennt offen: „Das ist Wahnwitz. Das ist ein Fass ohne Boden.“

Allein für Zuschüsse im sozialen Wohnungsbau (Darlehen und Zinsbeihilfen) brachten Bund und Länder noch vor zwei Jahren monatlich rund 2,40 Mark je Quadratmeter auf: 1971 erhöhten sie den Förderungssatz auf 3,55 Mark. Steigerungsrate: 48 Prozent.

Miet-Subventionen zum Wohle der Grundbesitzer

Dennoch gingen die Sozial-Mieten auf über vier Mark in die Höhe. Trotz aller Subventionen hat sich der Mietsatz in zehn Jahren mehr als verdoppelt. Dabei haben mittlerweile drei Viertel aller Familien Anspruch auf eine staatlich geförderte Wohnung.

Obendrein zahlen Bund und Länder deshalb direkte Mietbeihilfen* an etwa eine Million Haushal-
te. Die Aufwendungen des Staates und die Geldopfer der Mieter wachsen dabei proportional mit den Gewinnen der Grundbesitzer.

Nichts offenbart die Kapitulation des sozialen Wohnungsbaus vor der Kosteninflation besser als der Anstieg dieser Wohngelder: Von 146 Millionen Mark im Jahre 1965 galoppierten sie auf 835 Millionen Mark im vergangenen Jahr – 1972 werden sie auf 1,3 Milliarden Mark springen. „Woh-
nungsbaupolitik“, meint Rolf Kornemann vom Bonner Städtebauinstitut der privaten Bauspar-
kassen, „ist heute weitgehend Sozialpolitik.“

Noch im Vorjahr reichten in Hannover acht Millionen Mark, um bedürftigen Mietern – zu 60 Prozent Rentner – Beihilfen zu zahlen; in diesem Jahr sind zwölf Millionen Mark eingeplant. In Düsseldorf erhielten die Sozialmieter 1966 1,15 Millionen Mark Wohngelder, fünf Jahre später erreichten diese Beihilfen das Zehnfache: 11,89 Millionen Mark.

In München wurden 1967 etwa 10,2 Millionen Mark für Wohngelder ausgegeben; in diesem Jahr werden es rund 18 Millionen Mark sein. In Frankfurt erhöhte sich der Satz innerhalb von fünf Jahren von 6,5 auf rund 17 Millionen Mark.

So teuer werden den Ländern bereits ihre Mietbau-Subventionen, dass ihnen jeder Ausweg recht ist, um die Etats zu entlasten.

Der Hamburger Senat beispielsweise finanziert den von ihm geförderten Wohnungsbau vom Januar kommenden Jahres an nur noch über den Kapitalmarkt und setzt seine Haushaltsmittel allein für die Zinssubventionen ein. Trotz Erhöhung des Hamburger Wohnbauetats und trotz Anstieg der Zuschüsse vom Bund reichen die Senats-Mittel nicht mehr aus, die notwendigen Bauvorhaben zu unterstützen.

Hamburgs Bausenator Caesar Meister weiß, dass „das natürlich nur für eine begrenzte Zeit gut geht“, weil irgendwann einmal die aufgelaufene Verschuldung auf die Etats zurückschlägt. Meister: „Geplant ist bis 1977. Danach müssen wir mal sehen.“

Die Landesregierung Bayern hat ihren Förderungsetat gesplittet: Nur noch knapp 29 Prozent ihrer Bauzuschüsse vergibt sie als Darlehen, den Großteil (141,3 Millionen Mark) verwendet sie weitge-
hend für Zinszuschüsse an die Bauherren.

Nach den Plänen der Bajuwaren müssen die gemeinnützigen Bauherren sämtliche Zuschüsse in-
nerhalb von zwölf Jahren wieder zurückgezahlt haben. Die bayrische Sozialmiete von heute 4,20 Mark je Quadratmeter wird aber dadurch, so der Münchner Stadtbaurat Uli Zech in einer Studie, in der gleichen Zeit auf 10,30 Mark klettern: „Das sollen noch Sozialmieten sein – schrieb die „Süddeutsche Zeitung“.

Die Münchner Wohnungsbaupolitiker spekulieren allerdings, dass die Löhne bis 1985 im gleichen Maße wachsen könnten, die Sozialmieter mithin genug Inflationsgeld hätten, die künftige Hoch-
pacht zu zahlen. Möglicherweise geht ihre Rechnung sogar auf – wenn nicht, müssen die Mietbei-
hilfen erneut aufgestockt werden.

Die sozialpolitischen Konsequenzen eines Wohnungsmarktes – auf dem immer mehr vollbeschäf-
tigte Arbeitnehmer zu Fürsorge-Empfängern deklassiert werden – sind nur für die erfreulich, die den Mangel verteilen: Nutznießer der ständig steigenden Mietbeihilfen sind vor allem die Grund-
stücksbesitzer. Ihnen fällt eine jährlich wachsende Differentialrente in den Schoß.

Wer auf vor Jahren günstig erworbenem Boden sitzt und ihn schließlich zu einem Mehrfachen des Anschaffungspreises verkauft, wird vom Staat auf die wundersamste Weise belohnt: Er muss den Veräußerungsgewinn nicht versteuern. Experten des Deutschen Städtetages schätzten, dass allein von 1960 bis 1969 die Grundeigentümer durch Umwandlung von Ackerland in Bauboden 50 Milliarden Mark Wertsteigerung verzeichnen konnten.

Bebaut der Grundeigentümer das einst billig eingekaufte Land mit Mietwohnungen, ist der Effekt der gleiche wie beim Verkauf. Der Mietherr legt bei Berechnung des Wohnzinses die zur Zeit geltenden hohen Grundstückspreise zugrunde, die er selbst nie bezahlt hat, und kassiert einen fetten Extrazins.

Den Vermögenszuwachs garantieren jene Mieter, die wegen überhöhter Wohnkosten auf eigenen Wohlstand verzichten müssen: Die Subventionen für sozialschwache Wohnungsbenutzer dienen somit dem Ziel, den gewinnträchtigen Marktmechanismus für die Eigentümer in Gang zu halten.

„Die Miete ist ein politischer Preis“

Wenn Länder und Gemeinden jedoch nur annähernd den Bedarf an Krankenhäusern, Schulen und Nahverkehrsmitteln befriedigen wollen, der heute von allen Parteien als unaufschiebbar anerkannt wird und dessen Kosten bereits jetzt einige Städte an den Rand des Ruins treiben, bleibt kaum Geld für weitere Mittel im Wohnungsbau – das Subventionssystem im Mietbau stößt schon jetzt an seine Grenzen.

Das Land Niedersachsen förderte in diesem Jahr bislang aus eigenen Mitteln keine Wohnungen mehr; erst unerwartete Steuereinnahmen brachten für den Wohnungsbau dann doch noch 50 Millionen Mark. In München wurde 1969 beschlossen, jährlich 5.000 Sozialwohnungen zu bauen; Ist-Ergebnis zur Zeit: 3.000.

Der Kölner Wohnungswissenschaftler Dieter Duwendag zog Bilanz: „Die amtliche Wohnungsbau-
politik jagt einem Phantom nach.“

Wie aber anders der Teufelskreis von inflationären Baukosten, Mieten, Haushaltsnöten von Bund und Ländern sowie weiterwachsendem Wohnungsbedarf zu sprengen sei, wissen weder die Woh-
nungsunternehmer noch die Politiker.

Angesichts der überkommenen Tabus im Bodenrecht nimmt es nicht wunder, wenn die Bundestagsparteien sich vorwiegend mit Randproblemen beschäftigten – und nicht einmal die zu lösen vermögen.

Erwogen wird beispielsweise, jene Mietverzerrungen zu glätten, die in den 22 Jahren des sozialen Wohnungsbaus entstanden sind: Wer etwa zu Baupreisen von 1960 eine Sozialwohnung zu 1,55 Mark Monatsmiete je Quadratmeter bezog, zahlt inzwischen einen Mietsatz von etwa 2,60: wem in diesem Jahr dagegen eine soziale Neubauwohnung zugewiesen wird, entrichtet teilweise fast fünf Mark je Quadratmeter.

Darüber hinaus sind etwa ein Drittel aller Sozialwohnungen von Familien – so von Verkaufsdi-
rektoren oder Ärzten – bewohnt, die längst ihre Berechtigung auf derartige Behausungen verloren haben. Einst mit mageren Gehältern eingezogen, wurde ihr wachsender Wohlstand nie überprüft.

Doch sowohl bei den Sozialdemokraten wie auch bei den Christdemokraten herrscht Angst, kurz vor den Wahlen selbst solche sozialen Verzerrungen offen zu erörtern. „Die Miete“, entschuldigt sich Bausenator Meister, „ist eben ein politischer Preis.“

Die Reform hat kaum eine Chance

Allein die in Bonn kursierenden Pläne für eine Bodenrechtsreform könnten langfristig die Jahr für Jahr wachsende Kostendrift im Wohnungsbau eindämmen: Die SPD veröffentlichte jüngst unter der Federführung von Hans-Jochen Vogel aus München und Hans Koschnick aus Bremen ein Kon-
zept, das erstmals eine sogenannte Bodenwertzuwachs-Steuer vorsieht, um die Spekulationen auf dem Grundstücksmarkt abzublocken und damit den Preisanstieg zu dämpfen.

Aber schon protestierte der Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentü-
mer, das SPD-Papier sei „nur Vorwand, für die Vernichtung privaten Einzeleigentums“, sei „zum Teil systemwidrig“ und führe „zu einem lawinenartigen Anwachsen von Korruption und Begün-
stigung. Und auch FDP und CDU sperren sich gegen wesentliche Boden-Veränderungen – die Reform hat somit kaum eine Chance.

Letztes Heil sucht Wohnungsbauminister Lauritzen in einer Rationalisierung des mittelalterlich strukturierten Baugewerbes. Er glaubt, „zehn bis 15 Prozent, ja ein Viertel sparen“ zu können, wenn die rund 60.000 westdeutschen Bauunternehmen ihre Arbeit untereinander besser koor-
dinieren und die Wohnungsunternehmen häufiger als bisher Fertigbauteile verwenden.

Ob aber der „ungefähr rückständigste Wirtschaftszweig, den wir überhaupt haben“ (so der Düssel-
dorfer Architekt Olaf Jacobsen), so schnell bereit ist, seine bereits über zwei Kriege hinweg geret-
teten Zunftvorstellungen aufzugeben, bleibt mehr als zweifelhaft. Und „Neue Heimat“-Manager Harro Iden weiß: „Durch Rationalisierung kriegt man die Preise auch nicht mehr runter.“

Deutschlands Mietern bleibt deshalb die düstere Befürchtung, dass die Preise für Neubauwoh-
nungen weiterhin rascher steigen werden als die Gehälter: Sie werden trotz steigender Löhne mehr und mehr für die Miete arbeiten müssen.

„Das größte Gegenwartsproblem“, so Nobelpreisträger Heinrich Böll, „sind nicht Ostpolitik und Mitbestimmung, sondern Mieten und Wohnungen.“


Der Spiegel 45 vom 30. Oktober 1972, 72 ff.

Überraschung

Jahr: 1972
Bereich: Stadtviertel

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