Materialien 1972

Mein Gott, was soll aus Hösel werden?

SPIEGEL-Report über Bürgerinitiativen in der Bundesrepublik

Immer häufiger streiten Bundesbürger ohne Zutun der Parteien für ihre Interessen: in „Initia-
tivgruppen“ und „Aktionsgemeinschaften“. Die politische Apathie der sechziger Jahre scheint passé. Hannovers Stadtchef Neuffer: „Die Zeiten, in denen schlechte politische Leistungen hingenommen wurden, nähern sich ihrem Ende.“

Verwundert fummelten Münchner Fernseh-Zuschauer an ihren Geräten. Während auf der Matt-
scheibe der Kopf des CDU-Vorsitzenden flimmerte, drangen aus dem Lautsprecher die gar nicht glatten Worte eines Unbekannten: „Wir haben eine total vergiftete Stadt und unsere Kinder keinen Platz zum Spielen. Die öffentlichen Verkehrsmittel reichen hinten und vorne nicht aus, Wohnun-
gen fehlen, und die ehemalige Innenstadt gehört nur noch den Banken und Konzernen. Jetzt haben wir die Schnauze voll.“

Was da während einer Bundestags-TV-Übertragung auf Kanal 10 bei korrektem Bild aus den Lautsprechern kam, klang nach Georg Büchner, nicht nach Rainer Barzel. „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, rezitierte die Stimme, und bevor das seltsame Kontrastprogramm („Wir verlassen uns nicht mehr auf Abgeordnete und Bittschriften“) mit Knacken erstarb, tönte es:
„Hier sprach der illegale Sender Radio Bundschuh“ – eine Anspielung auf das Feldzeichen aufständischer Unterdrückter im Deutschland des 16. Jahrhunderts.1

Wochen später erklärte sich eine anonyme Münchner „Bürgerinitiative“ in einer Flugschrift für die TV-Piraterie verantwortlich.

So skurril die im Februar dieses Jahres dazwischengefunkte Kampfansage gegen „die Vormund-
schaft und das Untertanendenken“ („Radio Bundschuh“) auch anmutet – was die bislang nicht ermittelten Äther-Rebellen wollen und wie sie wirken, scheint gleichwohl bezeichnend für eine breite Bewegung an der Basis der Bonner Republik.

Immer mehr Menschen artikulieren ohne Zutun der politischen Parteien, wo sie der Schuh drückt; überall nehmen es Bürger selber in die Hand, für ihre Lebensinteressen zu streiten – sei es für kleine Schulklassen oder für sauberes Wasser, sei es in „Komitees“ oder „Initiativkreisen“, „Ad-
hoc-Gruppen“ oder „Aktionsgemeinschaften“.

Vor keiner anderen Bundestagswahl haben Bürger so deutlich gemacht, dass sie – wie es laut Grundgesetz nicht nur den Parteien zusteht – an der „Willensbildung des Volkes“ mitwirken möchten. In dem weithin spürbaren Unbehagen, wichtige Entscheidungen für das eigene Leben allein den etablierten politischen Institutionen zu überlassen, erkennt die „Deutsche Zeitung“ eine „neue Phase der deutschen Nachkriegszeit“. Und SPD-Wahlhelfer Günter Graß ist sicher: „Die siebziger Jahre stehen im Zeichen der Bürgerinitiativen.“

Vieles spricht dafür. Schon heute betreiben rund tausend Elterngruppen – nach einer im Frühjahr angestellten, kaum kompletten Umfrage des Hamburger Pädagogik-Professors Hans-Heinrich Plickat – die Gründung fortschrittlicher Kindergärten. In schätzungsweise 200 Städten streiten Jugendliche für die Einrichtung von Freizeitstätten. In allen Großstädten und in vielen Mittel-
städten befassen sich Bürgergruppen mit Fragen der Stadtplanung. In 350 Orten gibt es – der unvollständigen Privatzählung eines Pforzheimer Naturschützers zufolge – Aktionen gegen die Umweltzerstörung.

Dazu kommen ungezählte Komitees für die Einrichtung von Drogenberatungsstellen und Schul-
arbeitszirkeln“ für die Eingliederung Vorbestrafter und für die Erhaltung historischer Stadtteile, gegen die Spielplatznot und das Abtreibungsverbot, gegen Obdachlosigkeit und gegen Industrie-
ansiedlung. „Kein Grund“, so FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach, „ist zu selbstverständlich oder zu abwegig“.

So populär ist die Bewegung geworden, dass die Bezeichnungen „Initiative“ und „Aktion“ zum Gegenstand vielfältigen Etikettenschwindels geworden sind: Im Wahlkampf warben etwa für die CDU eine anonyme, von einem CDU-Mann verantwortete „Initiative mündiger Bürger“ mit einer „Aktion Kanzlertest“ eine gleichfalls anonyme „Bürger-Aktion 72“, eine „Bürgerinitiative für klare Entscheidungen“, eine „Wählerinitiative der Realisten“ und die von Axel Springer subventionierte „Aktion der Mitte“.

Die echten Bürger-Initiativen freilich entstehen dort, wo Parteien überhaupt nicht oder zögernd tätig werden. „Die Zeiten, in denen schlechte politische Leistungen einfach hingenommen wur-
den“, sagt Hannovers sozialdemokratischer Oberstadtdirektor Martin Neuffer, „nähern sich offen-
sichtlich ihrem Ende.“

„Seid nicht doofer als die Bürger von Hannover.“

Kaum eine Stadt, kaum eine größere Gemeinde, in der nicht ein „neues, teils aggressives Interesse an der Kommunalpolitik“ (Deutscher Städtetag) zu spüren wäre. In Hamburg etwa löste der Ent-
wurf eines Flächennutzungsplans für die Hansestadt in diesem Jahr eine Lawine von Vorschlägen aus der Bevölkerung aus: Nicht weniger als 32.000 „Beplante“ (Planer-Jargon) brachten Anregun-
gen und Bedenken vor – Kernpunkte: mehr Schnellbahnen und mehr Freizeitflächen“ weniger Verkehrsstraßen und weniger Industriegebiete.

Schon heute zählen die Anhänger der neuen „regelrechten Bürgerrechtsbewegung“ (so die Ham-
burger Publizistin Luc Jochimsen) auch in abgelegenen Gegenden nach Zehntausenden: Vorletzten Monat beispielsweise trugen sich binnen 14 Tagen über 50.000 Bürger in die Unterschriftenlisten einer „Rheintal-Aktion“ ein, die gegen den Bau eines Kernkraftwerks in Breisach bei Freiburg streitet; allein in der Kaiserstuhl-Gemeinde Oberrotweil unterschrieben 1.021 Einwohner (von insgesamt 1.090 Wahlberechtigten).

Derlei Rekorde, so scheint es, werden bald alltäglich sein. Denn die Zahl der Bürger, die bereit sind, den „Aufrüttli-Schwur“ („Frankfurter Rundschau“) abzulegen, steigt stetig, seit Bürger-
initiativen ihre ersten spektakulären Erfolge erkämpft haben – etwa

  • in Westerland auf Sylt, wo 16.000 Insulaner mit Resolutionen und Protestmärschen das 24stöckige Apartmenthaus-Projekt „Atlantis“ untergehen ließen (SPIEGEL 9/1972);
  • in Gelsenkirchen, wo Bürger auf dem Rechtsweg einen Baustopp für eine umweltge-
    fährdende 150-Millionen-Mark-Glashütte der Delog-Detag-Flachglas AG erzwangen (SPIEGEL 31/1971);
  • in Städten wie Frankfurt und München, wo Bürgerinitiativen die Umwandlung von Wohnvierteln in Büro-Bereiche bremsten oder gar verhinderten (SPIEGEL 47/1970).

Seit im Juni 1969 erstmals Zehntausende von Hannoveranern aus Protest gegen Trambahn-Tariferhöhungen auf die Straße und auf die Schienen gingen und seit Hunderttausende überall in Westdeutschland die Rot-Punkt-Aktion imitierten (Schlachtruf: „Seid nicht doofer als die Bürger von Hannover“), ist die Zahl der Aktionsanlässe kaum mehr überschaubar. Die Springflut bundes-
deutscher Bürgerinitiativen überraschte selbst Experten und wurde, so der West-Berliner Konflikt-Forscher Professor Theodor· Ebert, „von den Theoretikern erst im nachhinein erkannt“.

„Der Stadtrat kennt da kein Pardon.“

Denn während Politikwissenschaftler vor wenigen Jahren noch die „Konfliktfähigkeit gesell-
schaftlicher Bedürfnisse nur im Produktionsbereich“ (Ebert) vermutet hatten, brechen Konflikte und die dadurch freigesetzten Initiativen ganz woanders auf. Nicht in den Büros und Betrieben, sondern zu Hause und draußen vor der Tür hat sich angebahnt, was der Heidelberger Politik-
forscher Albrecht Nagel eine „Studentenrevolte des deutschen Aktivbürgers“ nennt: ein Aufstand jenes kleinen Mannes, der einst – was nun? – nur ratlos war und der neuerdings – was tun? – selbst tätig wird.

Mit Aufklebern am eigenen Auto wehren sich Bürgerinitiativler gegen den Anschluss Castrop-Rauxels an Dortmund (Slogan: „I like CAS“) und gegen die Eingemeindung der Stadt Moers nach Duisburg („MO bleibt MO, DU bleibt da“).

Mit einer Zinkbadewanne, aufgestellt zur kostenlosen Benutzung vor dem Kaufhaus Karstadt in Hamburg-Harburg, demonstrierten Initiativ-Bürger gegen hohe Eintrittspreise in öffentlichen Schwimmbädern.

Mit nächtens an fremde Wagen geleimten Zetteln suchen Mitglieder eines West-Berliner „Bürger-
komitees Verkehrspolitik“ die Übermotorisierung zu bekämpfen: „Müssen Sie unbedingt Auto fahren? Jedes zweite Auto ist zuviel.“

In Frankfurt reißt seit Wochen der Rentner Carl-Heinz Döring, 66, für die „Bürgerinitiative Unterliederbach“ mit einem Pickel städtischen Boden auf und zieht tiefe Gräben um 120 ehemals prachtvolle Linden – „damit die Bäume wieder atmen können“.

In Wiesbaden ließen Aktivisten einer „Aktion Textilfrei im Hallenbad“ Flugzettel kursieren – aus Protest gegen die „alten Tanten beiderlei Geschlechts, die den Finger auf Badeordnungen aus Olims Zeiten halten“. Erfolg: Nachdem sich bei einer Abstimmung unter Badegästen 68 Prozent dafür ausgesprochen hatten, darf in Wiesbaden nächstes Jahr hüllenlos geschwommen werden.

Fortschrittsglaube und Maschinenstürmerei, Kirchturmdenken und Gruppeninteressen – die Gründe, die Bürger in Bewegung bringen, sind mannigfach. Rar hingegen scheinen gemeinsame Merkmale der neuen Formen politischer Aktivität: Einheitliche Konzepte oder Strategien fehlen, ebenso starre Statuten und, zumeist, auch Mitgliedsbeiträge.

Durchweg beschränkten sich Bürgerinitiativen auf ein einziges Ziel (Politologen-Terminus: „Ein-Punkt-Bewegungen“). Sie sind zumeist frei von ideologischer Festlegung, lassen Spielraum für Spontaneität und erfassen – wenn auch unterschiedlich stark – alle Bevölkerungsgruppen und -schichten.

Kinder machen mit – so im nordrhein-westfälischen Walsum, wo im Sommer die Gemeinschafts-
grundschule Karlstraße auf Beschluss der Eltern wegen „unzumutbarer Geruchsbelästigung“ durch eine nahe Hundefutterfabrik bestreikt wurde; so in Frankfurt, wo Neun- bis Fünfzehnjährige – Gasmaske vorm Gesicht, Transparente in der Hand („Mehr Filter auf Fabrikschornsteine“) – durch die City zogen, um, nachdem sie im Unterricht das Thema Umwelt behandelt hatten, „den Leuten zu verklickern, wie wichtig das ist“.

Das Alter steht nicht abseits: Die verwitwete Gutsbesitzerin Margarete von Gävernitz, 75, etwa wurde voriges Jahr in einer Novembernacht um zwei Uhr früh von Streifenbeamten dabei ertappt, wie sie Protestplakate mit schwarzem Trauerrand an Münchner Mauern klebte. Die zwölffache Großmutter war erbost über das von Stadtplanern verhängte „Todesurteil gegen die Maxvorstadt“ (Plakattext) die sich vom Wohngebiet zum Büro- und Bankenviertel wandelt.

Künstler solidarisieren sich: In München stimmten das Bach-Konsortium und die Philharmoniker vor dem Rathaus einen „Protest-Choral“ gegen unsoziale Sanierungsvorhaben an: „Der Stadtrat kennt da kein Pardon, er reißt die Häuser ab, bringt alte Frau’n ins Grab – Hallelujah.“

Das Landvolk ist dabei: Hunderte von Rettich- und Rübenbauern aus dem Erdinger Moos tuckerten schon letztes Jahr auf Traktoren nach München-Riem, um gegen ihren Landesvater Alfons Goppel und seine Flughafen-Baupläne zu wettern. Sie reimten: „Die Piloten tun uns heit schon leid, durchs Nebelloch fliegens in die Ewigkeit.“ Dann, nachts auf freiem Feld, verbrannten die Bajuwaren johlend einen leeren Sarg mit der Aufschrift „Goppel“.

Arbeiter – mit denen sich radikale Studenten zu Apo-Hochzeiten vergebens zu verbünden suchten – scheuen sich nicht mehr, außerparlamentarisch aktiv zu werden: Aus den Fenstern Hunderter von Wohnungen in Berlins Märkischem Viertel hängten sie im September weiße Laken – Zeichen des Protests gegen neuerliche Miet-Aufschläge.

Von der Kanzel Obdachlosen-Lieder

Längst hat die Welle der Veränderung aber auch die Randzonen der Gesellschaft erreicht: Im September schlossen sich Vertreter der über 160.000 Nissenhütten-, Baracken- und Sozialhaus- Bewohner Nordrhein-Westfalens zu einer „Landesarbeitsgemeinschaft“ zusammen. In Essen bauten Obdachlose, um ihre Raumnot zu demonstrieren, vor Pressephotographen einen Tisch und ein Metallbett auf, umgrenzten die Grundfläche mit Latten und malten auf ein Transparent: „Das sind 5 qm“ Und von der Kanzel der Kölner Antoniter-Kirche herab sang einer zur Gitarre: „Wir sind die Obdachlosen und werden rumgestoßen …“

Welche Bevölkerungsgruppe sich auch immer zu Wort meldet – nicht selten greift sie zu jenen Methoden, die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Westdeutschlands radikale Studenten ihren US-amerikanischen Kommilitonen abgeguckt hatten: Demonstration und Aktion, Sitzstreik und politisches Happening.

In ihrem Gespür für Gags, ihrem Gefühl für Werbewirksames stehen die aufgeweckten, aufgewach-
ten Bürger ihren studentischen Apo-Vorläufern kaum nach: Schweigende Kolonnen tragen, wie in Hamburg-Harvestehude, Trauerkränze um abrissbedrohte Blocks (Kranzschleife: „Den Opfern der Planung – Bürgerinitiative 13“). Emanzipationszirkel verbreiten, wie in Frankfurt, Würfelspiele über die Unterdrückung der Frau (Spielregel-Auszug: „Du wirst als Mädchen geboren – 3mal aussetzen“). Sanierungsgegner zeichnen, wie in Mainz, Comic strips zum Thema Mietwucher (Sprechblase: „Scheißwohnung … und dafür 500 Mark“).

Freilich haben derlei Versuche hin und wieder auch – wie Heinz Grossmann, Herausgeber eines 1971 erschienenen Taschenbuchs über Bürgerinitiativen, urteilt – den „tragikomischen Charakter des Selbstgemachten, Dilettantischen, Vorindustriellen“: etwa, wenn die gegen den Bau von Kern-
kraftwerken und den „schleichenden Atomtod“ streitende Nürnberger Hausfrau Erika Herbst in einer Broschüre ihrer Aktion „Fortschritt für alle“ enthüllt, warum 1912 die „Titanic“ unterge-
gangen ist. Die Gehirnrinde des Kapitäns sei, weiß Frau Herbst, durch die radioaktive Strahlung einer auf der Kommandobrücke transportierten ägyptischen Mumie geschädigt worden, die jahrtausendelang in einer Pyramide neben uranhaltigem Gestein gelegen habe.

„Blinde Fortschrittsgläubigkeit dem Zweifel ausgesetzt.“

Das Engagement der meisten bundesdeutschen Bürgerinitiativen jedoch ist ernst zu nehmen. Gerade in Sachen Umweltschutz stehen den Experten in Behörden und Konzernverwaltungen oft zumindest gleichrangige Fachleute aus der Bevölkerung gegenüber. Eine Karlsruher Umwelt-Initiative etwa, die unlängst mittels Einspruchs beim Regierungspräsidenten eine geplante Erwei-
terung der „Oberrheinischen Mineralölwerke“ stoppte, zählt zu ihrem wissenschaftlichen Stamm fünfzig Atomphysiker und dreißig Chemiker.

Der Typ des lodengewandeten Naturfreundes, der wider die Zukunft anrennt, ist in derlei Umwelt-Gruppen selten: Nicht Rechte geben da den Ton an, sondern eher Fortschrittliche, oft Jungsozia-
listen, die selber das Attribut „konservativ“ weit von sich weisen würden – und gleichwohl gewöhn-
lich nachdrücklicher und erfolgreicher für die Konservierung von Erhaltenswertem in Natur und Stadtbild kämpfen als die politischen Konservativen.

Dabei streiten diese aufgeklärten Umweitschützer mit ökologischen Gutachten und juristischen Schriftsätzen – nicht mit romantischer Realitätsfeme wie manche ihrer grünen Vorläufer. Sie widersetzen sich vor allem falschen Standortentscheidungen bei der Industrieansiedlung und der seit Jahrzehnten praktizierten Missachtung von Umweltschutz-Auflagen. Einer der Erfolge: West-
deutschlands Kernkraftwerk-Kritiker erreichten immerhin, wie das Kölner TÜV-Institut für Reak-
torsicherheit anerkennt, dass „die blinde Fortschrittsgläubigkeit mancher Fachleute wirkungsvoll dem Zweifel ausgesetzt“ wurde.

Wo wissenschaftliche und politische Argumente allerdings nicht weiterhelfen, verletzen Bürger-
initiativen – immer häufiger – Gesetze. Diese Praxis scheint in vielen Initiativ-Gruppen seit 1970 unumstritten, als Jungbürger erstmals aus Protest gegen Bodenspekulation und Mietwucher in Frankfurt leerstehende Häuser besetzten (und damit eine breite, bundesweite Diskussion über die Reform des Bodenrechts in Gang brachten).

„Ich bin ja ein grundsätzlicher Gegner der Gesetzesverletzung“, kommentierte der liberale Tübinger Staatsrechtler Professor Theodor Eschenburg die Frankfurter Vorfälle, „andererseits muss ich zugeben: Erst die Hausbesetzung hat dazu geführt, jetzt Neuregelungen vorzubereiten beziehungsweise zu praktizieren, die meiner Meinung nach sinnvoll sind.“

Mit Dynamit gegen Atomenergie?

Wie schon in den Jahren zuvor bei den Straßenbahn-Blockaden stellten sich seither Tausende von Bürgerinitiativlern offen gegen geltende Gesetze. Jung-Bayern, die mit einem „Swim-in“ gegen das Badeverbot an Privat-Ufern demonstrierten, wurden von der Polizei vertrieben; Frauen, die in allen Teilen der Bundesrepublik mit öffentlichen Selbstbeschuldigungen gegen das Abtreibungs-
verbot protestierten („Mein Bauch gehört mir“), bekamen zu Hunderten Post vom Staatsanwalt; Jugendliche, die leere Häuser in Jugendzentren umfunktionieren wollten, lieferten sich Schlachten mit der Polizei, die Ende letzten Jahres in Hannover sogar in Panzerwagen anrollte (mindestens zehn Verletzte, sechzig Festgenommene).

Nur selten freilich waren es – wie bei der hannoverschen Hausbesetzung – anarchistisch inspirierte Gruppen (Parole: „Gegen den Staat … Bekämpft die Parteien und Gewerkschaften,
die Hindernisse auf dem Weg der Selbstbefreiung“), die aus Prinzip Gesetze verletzten; zumeist billigen Bürgerinitiativler Regelverstöße nur als „kurzfristige Maßnahme, um auf ein Problem hinzuweisen“ (so der Berliner Politologe Professor Wolf-Dieter Narr) – sie streiten nicht für anarchistische Gesetzlosigkeit, sondern für bessere Gesetze.

Durch Ausfälle wird diese Regel bestätigt: Bauern bewarfen, ergrimmt über Manöverschäden, amerikanische Soldaten mit Erdklumpen (im mittelfränkischen Ansbach) und versuchten, die Sehschlitze britischer Panzer mit Lehm zu verschmieren (im niedersächsischen Volkwardingen). Südwestdeutsche Winzer planten jüngst gar, wie die Karlsruher Badenwerk AG erfuhr, Dynamit-Anschläge auf Messtürme und Trafo-Stationen – die Protestler suchten eine „Schändung der Heimat“ durch ein geplantes Atomkraftwerk abzuwehren.

Und im Ruhrgebiet glaubte Anfang Oktober die Wattenscheider Aktion „Pro Grün“ dem General-
direktor der Gelsenberg AG, Walter Cipa, empfehlen zu müssen, sich „unverzüglich unter Polizei-
schutz“ zu begeben. Mit „massiven Drohungen“ hatten anonyme Anrufer auf Pläne der Zechenge-
sellschaft reagiert, den 600 Hektar großen Erholungswald Haard zwecks Kiesgewinnung „in eine gigantische Sandgrube zu verwandeln“ („Pro Grün“).

Solche – sich mehrende – Meldungen mögen dazu beigetragen haben, dass dem Brüsseler EWG-Kommissar und Soziologie-Professor Ralf Dahrendorf im Frühjahr bei einer FDP-Tagung über Bürgerinitiativen die „extreme Form der Bürgerinitiative“ in den Sinn kam: „die Revolution“.

Hannovers Stadt-Chef Neuffer sieht in dem Zug zu gewaltsamen Bürgerinitiativen mehr als nur eine Modeerscheinung. Westdeutschlands wohl versiertester Kommunalverwalter mag nicht ausschließen, dass sich der Unmut an den Lebensbedingungen in den Städten eines Tages „zu Streiks, vielleicht sogar zu Revolutionen verdichten“ wird – dann jedenfalls, „wenn die Probleme der Stadtentwicklung nicht unmittelbar mit allem Nachdruck, aller politischen, intellektuellen und finanziellen Kraft angepackt werden, deren wir fähig sind“.

Düsteres prophezeite jüngst sogar der Kanzler. Im sozialdemokratischen Theorie-Blatt „Neue Gesellschaft“ schrieb Willy Brandt letzten Monat, Themen wie Umwelt, Volksgesundheit und Stadterneuerung – bevorzugte Angriffspunkte von Bürgerinitiativen würden „in der unmittelbar vor uns liegenden Zeit“ ein ähnliches Gewicht erlangen „wie die Massenarbeitslosigkeit in den dreißiger Jahren“.

„Hochkonjunktur wurde mit Demokratie verwechselt“

In den fünfziger und auch noch Anfang der sechziger Jahre hätten derlei Visionen nur ungläubiges Erstaunen hervorgerufen. Im Zeitalter des „nachtotalitären Biedermeier“ (Politologe Narr) war der Durchschnittsdeutsche der Wähler, der nur am Wahltag souverän ist, dann aber für vier Jahre in Apathie versinkt und die Politik den sogenannten Gewissensentscheidungen der Abgeordneten überlässt. „Hochkonjunktur“, notierte der Erlanger Politik-Wissenschaftler Kurt Lenk, „wurde mit Demokratie verwechselt.“

Als freilich mit der Rezession von 1966 das Ende des problemlosen Wirtschaftswunders kam und gesellschaftliche Strukturschwächen – von der Bildungsmisere bis zur Umweltvergiftung sichtbar wurden „wie bei Ebbe die Sandbänke“ (Hamburgs Wirtschaftssenator Helmuth Kern). begann sich das politische Verhalten der Westdeutschen zu wandeln: Apo-Zeit.

Die ersten großen Demonstrationswellen, gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg, die Hochschulmisere und den Springer-Konzern, waren bundesweit und zumeist bundespolitischer Natur. Die Große Koalition in Bonn verlangte geradezu nach einem außerparlamentarischen Gegengewicht und prompt wurden nach Bildung der SPD/FDP-Regierung im Herbst 1969 derlei Aktionen selten. Bürgerinitiativen konzentrieren sich seither auf den kommunalen Bereich.

Denn auf der Ebene der Rathaus-Politik haben sich viele fatale Fehlentwicklungen der bundes-
deutschen Gesellschaft augenfälliger als anderswo niedergeschlagen – und gerade dort tritt auch die Ohnmacht von Parteien und Politikern besonders drastisch zutage.

Ohne dass kurzfristige Besserungen absehbar wären, leiden Westdeutschlands Städte und Gemeinden seit Jahren unter

  • Mangel an Gemeinschaftseinrichtungen: Die öffentliche Armut in der Bundesrepublik hat im Vorschulwesen den größten Fehlbestand aller westeuropäischen Länder hervorgerufen, im Schulbereich herrschen Lehrermangel und Raumnot, im Nahverkehr und im Gesund-
    heitswesen, in der Jugendhilfe und in der Altenfürsorge kommt es zu eklatanten Engpässen;
  • Zerstörung der Umwelt: Die stinkende und lärmende Kraftfahrzeug-Flut verwüstet immer mehr Stadtkerne und Grünzonen. Kommunen – weitgehend abhängig von Gewerbesteuer-Einnahmen – überbieten einander mit Umweltfeindlichkeit, Zugeständnissen an ansied-
    lungswillige Industrieunternehmen und opfern selbst Naherholungsgebiete ihrer Bürger dem Wachstum der Wirtschaft;
  • Folgen einer veralteten Bodenordnung: In den Zentren erschweren astronomische Grundstückspreise den Bau von Kindergärten und Krankenhäusern, Altenheimen und Ausbildungsstätten. Wohnungsbau ist nur noch an der Peripherie der Ballungsgebiete möglich. Verödung der Innenstädte, Zersiedlung der Landschaft, immer weitere Wege zwischen Schlafstatt und Arbeitsplatz, Zwang zur Motorisierung und Verkehrschaos zur „rush hour“ sind die Konsequenzen;
  • unsozialen Sanierungsvorhaben: Der Wunsch von Grundeignern, den kostbar gewordenen Boden in city-nahen Altbau-Wohngebieten profitableren Nutzungen zuzuführen, bedeutet in Hunderten von Städten für die bisherigen Bewohner dieser Viertel die Vertreibung aus günstigen Wohnlagen, den Verlust der gewohnten sozialen Umwelt und – wegen der höheren Mieten in Neubauten – durchweg auch materielle Schlechterstellung;
  • unzureichenden Wohnverhältnissen: Vor allem in den Trabantenstädten, bei deren Planung Wirtschaftlichkeit wichtigster Wert war, mangelt es an Spiel-Raum für Kinder ebenso wie
    an Kommunikationsstätten für Erwachsene; dort gedeiht neben Jugenddelinquenz und Dro-
    genmissbrauch jene Vereinsamung, über die der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich sagt, sie werde „als Leiden empfunden, wenn auch ungerne zugegeben“.

Gegenüber all diesen Entwicklungen sind die wie „Marionetten“ („Süddeutsche Zeitung“) anmu-
tenden Kommunalpolitiker weitgehend machtlos – den ehrenamtlich tätigen und oft fachlich über-
forderten Feierabend-Politikern bleibt wegen zu knappen finanziellen Spielraums kaum eine andere Wahl, als die von den hauptamtlichen Experten in den Stadtverwaltungen entworfenen Notlösungen zu akzeptieren. Die städtischen Ämter wiederum, „weder mit Recht noch mit Geld ausgestattet“, führen – wie Frankfurts verstorbener Oberbürgermeister Walter Möller klagte – „fast hoffnungslose Rückzugsgefechte gegenüber den Kapitalinteressen“.

Verstrickt in derlei tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge, begnügen sich die meisten Kommunalpolitiker damit, die Mängel, die zu beseitigen sie ihren Wählern versprochen haben, lediglich zu verwalten. Und weil sich zudem bei der Arbeit hinter den Kulissen, in vertraulichen Ausschußsitzungen. „leicht eine Art Klub-Atmosphäre entwickelt“, können sich „Gemeinderäte im Laufe ihrer Amtsperiode stärker von den Wünschen der Menschen entfernen, als man es für möglich halten sollte“ (Ralf Dahrendorf).

Dass diese Kluft zwischen Wählern und Gewählten weiter wächst, scheint die zunehmende Zahl von Bürgerinitiativen zu belegen – nach Ansicht des Bochumer Soziologen Eckart Pankoke ein ernstzunehmendes Anzeichen einer „Legitimationskrise unseres politischen Systems“.

Und wenn der Deutsche Städtetag meldet, immer mehr Bürger fühlten sich „von ihrer Stadt nicht mehr verstanden in ihren Bedürfnissen, nicht repräsentiert in ihren Erwartungen“, so deutet das auch darauf hin, dass die Parteien in vielen Gemeinden nicht mehr als geeignet gelten, den Bürgerwillen von unten nach oben zu kanalisieren.

Tatsächlich zappeln lokale Parteiorganisationen, ob SPD, ob CDU, vor allem dort, wo sie seit langem an der Macht sind, „in schrecklichen Abhängigkeiten … wie eine Fliege im Sirup“ – so West-Berlins früherer Bürgermeister Heinrich Albertz über die symptomatische Lage der Stadt-SPD, in der zwei von drei Parteitagsdelegierten dem öffentlichen Dienst angehören.

Albertz: „Die Verfilzung ist vollständig. Die Berliner SPD ist weithin eine Laufbahn-Partei … Da ist es eben fast ausgeschlossen, die Sache in den Vordergrund zu stellen. Da bleibt alles, fast alles in den Machtkämpfen um persönliche Positionen hängen. Da geht der, der nicht mitspielt, rettungs-
los unter.“

Parteimitglieder, die da nicht mitspielen, aber auch nicht untergehen wollen – vorwiegend Jungsozialisten und Jungdemokraten -, versuchen denn auch seit zwei, drei Jahren,

  • neben der Parteiarbeit in Bürgerinitiativen mitzuwirken und auf diese Weise vernachlässigte Wähler-Wünsche artikulieren zu helfen, um dann
  • innerhalb der Partei – die aktivierte Öffentlichkeit im Rücken – die Bürger-Forderungen wirksam vertreten zu können.

Diese Polit-Methode – bei FDP-Jungdemokraten unter dem Etikett „Strategie der beiden Wege“, bei SPD-Jungsozialisten als „Doppelstrategie“ derzeit herrschendes Konzept – hat zweifellos den Bürgerinitiativen-Boom in der Bundesrepublik entscheidend beeinflusst. „Motor“ der außerpar-
lamentarischen Aktionen in den Städten sei, fand Konflikt-Forscher Ebert heraus, „meistens ein Juso“.

In vielen Fällen waren die Doppelstrategen erfolgreich. Als mustergültiges Beispiel geglückten Zusammenspiels von außerparlamentarischer Initiative und innerparteilicher Opposition gilt unter Jusos eine Genossen-Aktion in Wiesbaden.

In der Stadt, in der einst der Kaiser kurte, versuchten letztes Jahr Spekulanten mit „Gangsterme-
thoden wie in New York und Chicago“ (so die Jusos) die von den städtischen SPD-Regenten seit langem gewünschte Verwandlung eines ruhigen Wohnviertels in eine Büro-„City-Ost“ zu beschleu-
nigen: Wilhelminische Villen fielen über Nacht widerrechtlich der Spitzhacke zum Opfer, Gründer-
zeit-Gärten wurden mit Autowracks in Müllhalden verwandelt und Mieter zum Auszug gezwungen.

Da taten sich, unterstützt von Wiesbadener Jungsozialisten, Hunderte von Betroffenen zu einer „Bürgerinitiative City Ost“ zusammen, hielten im Gemeindehaus der katholischen Kirche „Zur Heiligen Familie“ gut besuchte Protestversammlungen ab, stritten mit Leserbrief-Serien wider die geplante „baumlose Beton- und Asphaltwüste“, rannten gegen die von den Stadtoberen aufge-
richtete „Mauer der Selbstgefälligkeit und Ignoranz“ an und sammelten 2.000 Unterschriften.

Jungsozialisten trugen die Proteste in ihre Partei und ins Parlament. Prompt warf die Stadt, beeindruckt vom Bürgerzorn; ihre City-Pläne um und beschloss eine absolute Veränderungssperre sowie einen spekulantenfeindlichen Bebauungsplan. Wiesbadens „Tagblatt“ notierte einen „Erfolg jener Kräfte, die eine humanere Welt wollen“.

„Ohne die Jusos“, resümiert Hausfrau Silvia Schmatolla, Vorstandsmitglied der Initiative und Bewohnerin des geretteten Viertels, „hätten wir Bürger das nicht geschafft, aber ohne uns Bürger hätten die Jusos auch nichts erreicht.“

In Worms nahmen sich die Jungsozialisten letztes Jahr des städtischen „Problemgebiets Nr. 1“ an: Sie mühten sich um eine Verbesserung der Verhältnisse im Nordend, einer von der herrschenden SPD jahrelang vernachlässigten Gegend zwischen US-Kasernen und dünstenden Fabriken, mit unbefestigten Straßen und überbelegten Obdachlosenunterkünften.

„Große Revolution am Sankt-Nimmerleins-Tag“

Gemeinsam mit dem dort heimischen Arbeitersportverein „ASV Nibelungen“ (400 Mitglieder) luden die SPD-Junioren zu einer „Bürgerversammlung Nordend“ und zur Wahl eines Bürger-
ausschusses, der fortan Flugblätter herausgab („Das Nordend darf nicht das Stiefkind der Stadt Worms bleiben“), einen Schularbeitszirkel gründete, Luftverschmutzungsmessungen vornahm und die benachbarte Kübel AG („3 K-Möbel“) attackierte, deren Holzstaub-Emissionen im Nordend an schwülen Tagen, wie Reporter der „Wormser Zeitung“ bestätigt fanden, „das Atmen erschweren“.

Nachdem die Lokalpresse die Umwelt-Klagen der Jungsozialisten und der Nordendler aufgegriffen hatte, kündigten die Möbelwerke an, „mehrere Millionen aufzuwenden, um die Verhältnisse we-
sentlich zu bessern“. Auch Bürgerausschuss-Forderungen, mit denen sich die Jusos in der SPD durchsetzen konnten, wurden verwirklicht. Die Stadt versprach sieben Asphaltstraßen, eine Tele-
phonzelle, zwei Bus-Wartehäuschen, mehr Abfallbehälter, einen neuen Spiel- und einen neuen Sportplatz.

„Zumindest Teile der betroffenen Bevölkerung selbst“, notierten die Wormser Jusos, „sind aus Resignation und Apathie erwacht, und die Anfangserfolge bewiesen allen Beteiligten, dass man etwas tun kann, dass die Sozialstruktur einer Stadt wie Worms nicht gottgegeben und unabän-
derlich ist.“

Aber die meisten Jungsozialisten wollen mehr. In vielen Städten versuchen sie ihre Initiativen da-
für zu nutzen, den „anpolitisierten“ (Linksjargon) Bürgern klarzumachen, wo nach ihrer Meinung die wahre Ursache des Übels liegt: Dass „den Städten das Geld für die notwendigen Bedürfnisse der Bürger fehlt“ – „nämlich für Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten …“ – sei nicht die Folge des Versagens einzelner Ratsherren, sondern „eine Folge des Kapitalismus“ (so die Wormser Jusos in einem Nordend-Flugblatt); eine wirklich „fortschrittliche Kommunalpolitik“ wäre demnach „nur möglich, wenn antikapitalistische Strukturreformen verwirklicht werden“ (so der Juso-Bundes-
vorstand in einer vorletzte Woche erschienenen Jungbürger-Zeitung zur Bundestagswahl).

Ob solche Mobilisierung den Jusos jedoch gelingt, ist auch unter Linken umstritten. Ein Großteil der Aktionsgemeinschaften ist für derlei Agitation ohnehin kaum empfänglich: jene Gruppen, die entweder bedrohte Privilegien verteidigen oder aber einfach in Selbsthilfe einzelne Mißstände beseitigen wollen – ohne „nach der großen Revolution in der Zukunft oder am Sankt-Nimmer-
leins-Tag zu schielen“ („Süddeutsche Zeitung“).

„Oft ausschließlich aus oberen Schichten“

Ganz und gar nicht linke Bürger-Initiative schlug sich etwa in einem Plakat nieder, mit dem Einwohner von Roggendorf-Thenhoven bei Köln gegen die geplante Ansiedlung kinderreicher Familien protestierten: „Industriegase – Autobahnverkehr – Zigeuner … und jetzt noch Asoziale!“

Im niederbayrischen Fürsteneck machten Dörfler Stimmung gegen die Eröffnung eines Heimes für behinderte Kinder, bis die dafür vorgesehene „Aumühle“ in Flammen stand. Im nordrhein-westfä-
lischen Hochdahl zog eine Bürgerinitiative gegen die von der Arbeiterwohlfahrt geplante Einrich-
tung einer Wohngemeinschaft für milieugeschädigte Jugendliche so heftig zu Felde, dass Bürger-
meister Tünnemann aufklären musste: „Da kommen doch keine Frankensteins hin.“

Kaum Hoffnungen können linke System-Überwinder auch an Bürgerinitiativen knüpfen wie die in der exklusiven Waldgemeinde Hösel bei Düsseldorf, einem Ort mit schätzungsweise 400 Vermö-
gensmillionären. Als dort ein Bebauungsplan „H 24“ den Zuzug von hundert weniger bemittelten Familien vorsah, schlossen sich die Alt-Einwohner zu einer „Interessengemeinschaft Waldgemein-
de e.V.“ zusammen, bestellten einen Public-Relations-Berater als Geschäftsführer und ließen seuf-
zen: „Mein Gott, was soll aus Hösel werden?“

Linke Parolen prallten aber auch im roten Südhessen an Eltern ab, die in der Bürgerinitiative „Verändert die Schule – jetzt“ seit 1970 erfolgreich für die Senkung der Klassenfrequenzen in Frankfurt eintreten: Weitergehende Forderungen wie „Chancengleichheit für Arbeiterkinder“ oder „Sondersteuer aus Unternehmergewinnen“ stießen bei vielen Mitgliedern auf Ablehnung. „Hier“, merkte Mitinitiator Michael Hartlaub. „zeigten sich deutlich die Grenzen politischer Arbeit.“

Hier zeigte sich aber auch, dass Bürgerinitiativen – wenngleich der Anteil der Arbeitnehmer seit einiger Zeit langsam zu steigen scheint – sich „oft ausschließlich aus oberen Sozialschichten rekru-
tieren“, wie der Soziologe Helmut Bilstein von der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik in einer Untersuchung der „Chancen politischer Einflussnahme“ festhielt.

Denn vor allem Angehörige der Oberschichten sind durch jene drei Eigenheiten bevorzugt, die nach der Erfahrung von Politikwissenschaftlern – neben bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und dem Grad der Organisiertheit – die politische Teilnahme des einzelnen bestimmen:

  • der Bildungsgrad, der „Beteiligungschancen erst ermöglicht“,
  • die Berufsposition, „in der Handlungsfähigkeit trainiert wird und Sozialkontakte hergestellt werden“,
  • das Elternhaus („familiäre Sozialisation“), das „lediglich bei Angehörigen oberer Sozialschichten eine weitreichende Perspektive schafft“ (Bilstein).

Daraus freilich erwächst nach Ansicht Bilsteins die Gefahr, dass Bürgerinitiativen „Themen aufgreifen, die lediglich im traditionell bürgerlichen Interessenbereich liegen und deren Erfolge nur dem besitzständlerischen Gruppeninteresse der ohnehin Privilegierten zugute kommen“.

Tatsächlich spielen etwa in den rund 250 West-Berliner „Eltern-Kinder-Gruppen“, die durch Bürger-Initiative entstanden sind und von denen die Hälfte vom Senat finanziell unterstützt wird (Zuschuss 1972: 1,9 Millionen Mark). fast viermal soviel Kinder aus Akademiker- wie aus Arbei-
terfamilien; für Arbeiterkinder im Vorschulalter, deren Eltern in diesen Kinderläden nicht mit-
arbeiten können oder mögen, hingegen fehlt es nach wie vor an Tausenden von Kindergarten-
plätzen.

„Ringen zwischen Zwerg und Riese“

Der Frankfurter Soziologe Claus Offe attackiert denn auch jene Bürgerinitiativler, die sich „poli-
tisch belanglose Formen kollektiver Selbsthilfe“ leisten und nicht zugleich dafür eintreten, dass der Staat in die Lage versetzt wird, soziale Einrichtungen auch für Menschen zu schaffen, denen es an der finanziellen oder intellektuellen Kraft zu solchem gesellschaftlichem Do-it-yourself fehlt. Statt politischer Organisation, rügt Offe, entstehe mit vielen Bürgerinitiativen „ein genossenschaftlicher Dienstleistungsbetrieb für die, die sich’s leisten können“.

Doch selbst die Chancen ausgeprägt politischer Bürgerinitiativen scheinen äußerst begrenzt – vor allem dort, wo sie (beim Umweltschutz, bei der Stadtplanung) auf Millionen-Interessen prallen. Der Konflikt ist dann, wie das SPD-Organ „Vorwärts“ formulierte, „dem Ringen zwischen Zwerg und Riese nicht unähnlich“.

Denn auf der Gegenseite stehen oft nicht nur Wirtschaftsgiganten, die für ihre Öffentlichkeitsarbeit Millionenbeträge ausgeben können, sondern auch die politischen Vertreter der jeweiligen Region oder der jeweiligen Kommune – kaum verwunderlich in einer Gesellschaft, in der, so Münchens Ex-OB Hans-Jochen Vogel, „nicht die Wirtschaft der Stadt dient, sondern umgekehrt die Stadt zum Vollzugsorgan wirtschaftlicher Entscheidungen geworden ist“.

Benachteiligt gegenüber der Einheitsfront von Wirtschaft und Politik sind Bürgerinitiativen in der Regel auch deshalb, weil sie gewöhnlich erst dann protestieren können, wenn in den Kommunen wichtige Vorentscheidungen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – schon gefallen sind. „Große Investoren oder auch die Grundstückseigentümer“, stellte die Bundesregierung in ihrem letztes Jahr vorgelegten „Städtebaubericht“ fest, „werden in der Planungspraxis früher und intensiver eingeschaltet als die übrige Bevölkerung.“

Und zusätzlich gehandikapt scheinen Bürgerinitiativen, weil sie bislang zumeist nur lokal organi-
siert sind – obschon infolge des schleichenden Funktionsverlustes der Kommunen „auf der Ebene der Gemeinden kaum noch Entscheidungen getroffen werden, die für das Leben der Gemeinde-
bürger wesentlich sind“ (so die Sozialforscher Klaus Körber und Walter Siebel in einer Studie über „Planung und Öffentlichkeit“).

„Zuviel Ängste im Grundgesetz“

Desillusioniert durch solche Erfahrungen, lehnen die Ultralinken unter den westdeutschen Apo-Aktivisten die – zunächst als Instrument in dem von ihnen beschworenen Klassenkampf überschätzten – Bürgerinitiativen mittlerweile radikal ab. Sie verurteilen die „reformistischen“ Aktionen im Wohnbereich als systemstabilisierendes „Frühwarnsystem“, das es den Kapitalisten erleichtere, potentiellen großen Krisen durch kleine Zugeständnisse vorzubeugen, und konzen-
trieren sich auf die Agitation in den Betrieben.

Ebenso wie den ganz Linken erscheinen Bürgerinitiativen auch den ganz Rechten eher verdam-
mens- denn begrüßenswert: Bayerns CSU sagte Bürgern, die im April für Willy Brandt auf die Straße gingen, ein „Bratkartoffelverhältnis zur Demokratie“ nach. Und in der Münchner Staats-
kanzlei diktierte Ministerialdirektor Rainer Keßler im selben Monat einen Brief an das Landes-
innenministerium: „Mit Sorge beobachtet der Herr Ministerpräsident, dass sich insbesondere im kommunalen Bereich allenthalben im Land Bürgerinitiativen bilden.“

Sozial- und Freidemokraten hingegen werten das, was Alfons Goppel Sorgen macht, durchweg als „eine der erfreulichsten politischen Entwicklungen der letzten Jahre“ (so der Kieler SPD-Abgeord-
nete Dr. Klaus Klingner). FDP-Generalsekretär Flach möchte die Bewegung an der Basis einer Re-
form des Parlamentarismus nutzbar machen. Das derzeitige „Defizit an politischer Mitbestimmung und sozialer Mitverantwortung“ müsse, fordert er, durch eine „stufenweise Verstärkung der Ele-
mente direkter Demokratie“ (Flach) ausgeglichen werden. „Zu stark“, meint auch Ralf Dahrendorf, „seien in das Grundgesetz die Ängste derer eingebaut, die die Weimarer Republik erlebt haben.“

Direkte Demokratie – das klingt nach Rätesystem. Und in der Tat hatten Münchens Jungsozia-
listen noch 1970 „Stadtteilräte“ mit Veto-Rechten gefordert. Doch auch unter Genossen setzte sich die Einsicht durch, dass bei so weitgehender „Atomisierung der Stadtentwicklung“ (Münchens Vogel) beispielsweise in kaum einem Viertel Wohnungen für ehemals Obdachlose mehr gebaut werden könnten. Beim „überwiegenden Teil“ der Initiativ-Bürger sei Räte-Demokratie, stellte Soziologe Bilstein unlängst fest, denn auch nicht gefragt.

„Die Mängel wirken aufwieglerisch.“

An Vorschlägen von Linken und Liberalen für eine maßvolle Reform der demokratischen Entscheidungsprozesse freilich mangelt es nicht. Zur Diskussion stehen beispielsweise:

  • die „allgemeine Einführung des Bürgerentscheids auf der Gemeindeebene“ (Münchens Hans-Jochen Vogel);
  • die finanzielle Unterstützung von Bürgerinitiativen und ihre Mitwirkung an Entscheidungen des Rates (Kommunalwahl-Programm der SPD Hannover);
  • die Beseitigung der „grauen Zonen“ vor allem in der Kommunalpolitik. wo „die Entschei-
    dungen oft in einen undurchdringlichen Nebel gehüllt sind“, durch weitgehende Öffent-
    lichkeit von Sitzungen (Flach);
  • die „Demokratisierung von Planungsprozessen“ in der Stadtpolitik; beispielsweise durch die Einsetzung von „Anwaltsplanern“, die nach US-Vorbild die „Interessen derjenigen, die auf Grund sozialer Unterprivilegierung sich anders kein Gehör verschaffen können, anwalts-
    mässig vertreten“ (Bundeswohnungsbauministerium).

Doch ob sich auf diese Weise die neu erwachten politischen Energien in die bestehenden Bahnen kanalisieren lassen, scheint fraglich. Denn während beispielsweise der Sitz in kommunalen Bei-
räten und Bürgerforen vor zwei Jahren für viele Initiativen noch als erstrebenswert galt, wird solche Mitarbeit neuerdings immer häufiger abgelehnt. „Sobald“, warnt Claus Offe, „sich Bürger-
initiativen auf die Formen der Auseinandersetzung beschränken, denen Bürokratien allein ge-
wachsen sind, zerstören sie die Bedingungen ihres eigenen Erfolgs.“ Kaplan Rolf Dantscher von
der Münchner „Aktion Maxvorstadt“ fürchtet: „Man bemüht sich, uns in die Arme zu nehmen und totzulieben.“

Ein Ende der Bewegung an der Basis freilich würde, so scheint es, vor allem die Reformwilligen in den großen Parteien schwächen. Denn eher als die auf stetes Wähler-Wohlwollen angewiesenen Parteipolitiker können Bürgerinitiativen es wagen, für neue, noch unpopuläre Notwendigkeiten zu werben: für die Überwindung des Wachstumsfetischismus ebenso wie für Steuererhöhungen zugunsten besserer sozialer Leistungen.

„Ein sich verdichtendes Geflecht von Bürgerinitiativen“, glaubt Professor Ebert, „könnte im nächsten Jahrzehnt die machtpolitische Voraussetzung für weiterreichende Reformen schaffen.“

So leicht sind die Bürgerinitiativen ohnehin nicht totzukriegen. Politologen und Soziologen je-
denfalls sind sicher, dass die Strukturmängel der bundesdeutschen Gesellschaft, so Offe, vorerst „beständig aufs neue“ Proteste produzieren werden.

Offe: „Die Erfahrung, dass der Straßenbau der Auto-Lawine immer in gleichem Abstand folgt, dass der Etat der Wohnungsbaugesellschaften regelmäßig bei den Kindergärten und Erholungseinrich-
tungen erschöpft ist, wirkt lehrreich und aufwieglerisch zugleich.“


Der Spiegel 48 vom 21. November 1972, 54 ff.

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1 Der bäuerliche Bundschuh – Gegensatz zum Stiefel der Adligen – war Name und Symbol mittelalterlicher Bauernaufstände insbesondere im Südwesten Deutschlands.

Überraschung

Jahr: 1972
Bereich: Stadtviertel

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