Materialien 1973

Offener Brief Münchner Frauen an die Regierung der Bundesrepublik

Betr.: § 218

Mit Empörung verfolgen wir die jüngsten Meinungsäußerungen zu den bevorstehenden Verhand-
lungen zu der Neuregelung des § 218. Mit Sorge verfolgen wir, dass gerade diejenigen jetzt „Schüt-
zer des ungeborenen Lebens“ sein wollen, die jahrzehntelang keine nennenswerten Anstrengungen zur Verbesserung der Situation der Kinder, Mütter und Familien unternommen haben. Wir verwei-
sen insbesondere auf überdurchschnittliche Mütter- und Säuglingssterblichkeit in der Bundesre-
publik, auf kinder- und familienfeindliche Lebens- und vor allem Wohnbedingungen, auf den schon sprichwörtlichen Kindergarten- und Schulnotstand, auf unzureichenden Mutterschutz, auf die Diskriminierung von ledigen Müttern und deren Kindern, auf Niedrigstlöhne und -renten für Frauen und vieles mehr. Hier liegen unter anderem die Ursachen für Tausende von illegalen Schwangerschaftsunterbrechungen.

Diese Ursachen spielten und spielen in der Diskussion um den § 218 fast keine Rolle. Statt dessen reden die Verantwortlichen vom „Schutz des ungeborenen Lebens“.

Aber auch, wenn es in einer Entschließung des außerordentlichen Parteitages der SPD ’71 heißt: „Für jeden Sozialdemokraten ist es selbstverständlich, dass jede Stellungnahme zu diesem Problem auf einer Gewissensentscheidung beruht“, so bedeutet dies eine eklatante Missachtung des Wäh-
lerwillens. Denn mehr Frauen als je zuvor haben ihre Stimme bei der letzten Bundestagswahl für die SPD oder FDP abgegeben. Wir erwarten von einer SPD/FDP-geführten Regierung eine Ent-
scheidung, die dem Wählerwillen, insbesondere aber dem Interesse der betroffenen Frauen, ent-
spricht. Soll die Gewissensentscheidung der Abgeordneten im Bundestag, darunter nur 5,6 Prozent Frauen, sich über das Recht der Frauen hinwegsetzen dürfen?

Die Abschaffung des § 218 ist in erster Linie eine soziale Frage und keine private Gewissensent-
scheidung. Meinungsumfragen ergaben: Die Mehrzahl der Frauen in der Bundesrepublik ist FÜR die Neuregelung des § 218, für die Fristenlösung, für die Möglichkeit einer legalen, kostenlosen Schwangerschaftsunterbrechung bis zum dritten Monat.

Die wenigsten Abgeordneten im Bundestag, nicht die standesbewussten Frauenärzte und schon gar nicht die konservativen kirchlichen Würdenträger, die sich jetzt alle so vehement in die Diskussion werfen, sind von einem 100 Jahre alten, unmenschlichen Paragraphen bedroht. Sie werden nicht gezwungen, Gesundheit und Leben bei Kurpfuschern aufs Spiel zu setzen, sie kommen nicht durch die ungewollte Schwangerschaft in soziale Not und Bedrängnis! Wenn sich auch einige wenige Frauen eine kostspielige Fahrt in Länder mit liberalerer Gesetzgebung leisten können, so wissen wir, dass sich die Mehrheit der betroffenen Frauen eben nicht diesem unmenschlichen Paragra-
phen entziehen kann.

Wir, die Unterzeichner, fordern hiermit die Bundesregierung auf, dem Druck reaktionärer Kreise nicht nachzugeben, den Angriffen der politischen Reaktion wie den Angriffen konservativer kirchli-
cher Kreise standhaft zu begegnen. Es geht um den Schutz des geborenen Lebens, jedes Kind hat ein Recht darauf, ein Wunschkind zu sein. Und es geht um das Recht der Frau auf freie Entschei-
dung darüber, wann und wieviel Kinder sie haben möchte. Das ist nur durch eine Fristenlösung möglich. Dieses Recht durchzusetzen ist ein Anliegen aller fortschrittlichen Kräfte in der Bundes-
republik.

Dr. Barbara Bronnen, Autorin; Kai Fischer, Schauspielerin; Ilona Grübel, Schauspielerin; Mira von Kühlmann, Publizistin; Angelika Mechtel, Schriftstellerin; Dr. Erika Runge, Regisseurin; Hanna Schygulla, Schauspielerin; Monika Sperr, Autorin; sowie bisher 2.000 Münchner Bürger.


konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 23 vom 1. Juni 1973, 2.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Frauen

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