Flusslandschaft 1973

Frauen

Bundesweites Delegiertentreffen der § 218-Gruppen: „Zum ‚Frauentreffen’ in München kamen
am 10./11. Februar 1973 Hunderte in die Kunsthalle am Englischen Garten. Auch aus Paris rei-
sten zwei Frauen an, Annie Cohen und Alice Schwarzer (die damals noch in Frankreich lebte).
Sie brachten zwei französische Ärzte mit und organisierten die allererste Demonstration der bis dahin unbekannten, schonenden Absaugmethode in Deutschland. Auf dem Programm stand erstmals auch der magische Begriff ‚Consciousness raising’ (CR-Gruppen), auch Klein- oder Quatschgruppe genannt. Das Prinzip der CR-Gruppe lag nahe, das Rezept kam aus den USA.“1
Am 13. Februar kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Gruppen. Die einen fordern die unbedingte Abschaffung des § 218, andere sind kompromissbereit für eine Abschwächung der Parole, um die Mitarbeit katholischer Verbände nicht zu gefährden.

Am 8. März findet eine Kundgebung von fünfzig Frauen anlässlich des Internationalen Frauentags statt.2

Zum Muttertagsrummel am 11./12. Mai verteilen Frauen Flugblätter mit der Überschrift „Danke für die Blumen, Rechte wären uns lieber!“.3

Am 18. Mai demonstrierte die SPD für die „Fristenlösung“ in der Abtreibungsfrage.4

Wibke Bruhns hat sich in konkret für die Abschaffung des § 218 eingesetzt und löst eine Leserbrief-
lawine aus. Sie wird unflätig beschimpft, erfährt aber auch Zuspruch: „Brunhilde Budinsky, 60 Jahre, München – Traurig ist nur, dass Männer entscheiden über etwas, das sie für sich selbst gar nicht erst durchdiskutieren, nämlich die empfängnisverhütende Pille für den Mann! Schon wäre die Familienplanung auf einfachste Weise geregelt und die sogenannte Gewissensfrage der Män-
ner, wenn es sich um die Entscheidung der Frau handelt, gar nicht nötig. Ich finde jedenfalls ein gehasstes Kind ärmer als ein ungeborenes. Auch im religiösen Sinne. Denn was tut die Kirche für unehelich Geborene? Diese reiche Institution. Wer gegen die Fristenlösung ist, soll gefälligst auch etwas für die dann Geborenen tun. Nicht nur Gott anrufen.“5

Am 1. Juni erscheint ein „Offener Brief Münchner Frauen an die Regierung der Bundesrepublik“.6

Kardinal Döpfner ruft am 2. Juni 1973, also zwei Jahre nach Beginn des Kampfes der Frauen gegen den § 218, zu einer Großkundgebung „Aktion für das Leben“ auf dem Odeonsplatz auf. Frauen und Männer, die gegen die anwesenden 15.000 Katholiken protestieren, werden verhaftet.7 Unter den etwa fünfzig Leuten sind auch völlig unbeteiligte. Alle werden im Polizeipräsidium erkennungs-
dienstlich behandelt und sechs bis acht Stunden dort festgehalten. Gegen fünfzehn bis zwanzig Menschen werden Ermittlungsverfahren eingeleitet, Strafbefehle belaufen sich später auf 600 bis 1.000 Mark.

Am 28. Juni protestiert das Frauenforum gegen die Nichtaufnahme in den von Arbeitsminister Pirkl eingerichteten „Bayerischen Landesfrauenausschuss“. Wegen der Demonstration betritt der Minister sein Haus durch den Hintereingang.

Erika Wisselinck begründet noch vor Emma und Courage die Monatszeitung Korrespondenz die frau. Informationen und Meinungen.8

Die Frauenbewegung tritt nicht nur nach außen auf, sie konzentriert sich auch auf die Binnenver-
hältnisse. Voraussetzung für ein selbstbewusstes Auftreten in der Öffentlichkeit ist die Stärkung des eigenen Ich9 und die Kritik des Rollenverhaltens der Geschlechter gerade in den eigenen Reihen.10

Die Adressen der bekanntesten Münchner Frauengruppen lauten:
Frauenforum, Hannelore Mabry, 8 München 70, Christrosenweg 5
Perlachgruppe, Susanne Kahn-Ackermann, 8 München 22, Mariannenstraße 5
Frauengruppe der Projektgruppe Technologie München (PTM), Ingrid Birkhofer, 8 München 19, Wilhelm-Düll-Straße 6
Frauenbefreiungsgruppe (Aktion § 218-Büro), 8 München 5, Müllerstraße 53
Siemens-Frauengruppe, Ibe Guckert, 8 München 80, Josephsburgstraße 16
Frauensekretariat der Arbeiter-Basisgruppen (ABG), Helge Sommerrock, 8 München 5, Jahnstraße 20
Hochschulgruppe, Karin Howard, 8 München 22, Tattenbachstraße 9


1 Die Jahre 1971 bis 1975. So fing es an!, www.emma.de/hefte/ausgaben-2001/maijuni-2001/so-fing-es-an-2001-03/

2 Vgl. Süddeutsche Zeitung 57/1973.

3 Vgl. Süddeutsche Zeitung 110/1973.

4 Vgl. Süddeutsche Zeitung 115/1973.

5 konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 25 vom 14. Juni 1973, 42.

6 Siehe „Offener Brief Münchner Frauen an die Regierung der Bundesrepublik“.

7 Vgl. Süddeutsche Zeitung 127/1973.

8 Siehe den Artikel über Erika Wisselinck „‚Wir dachten alles neu’“ von Dagmar Buchta.

9 Siehe „Getrennte Frauen“.

10 Siehe „Auf hoher See oder Wie umgehe ich Kommunikation“ von Inge Heinrichs.