Materialien 1973

Getrennte Frauen

Wir haben festgestellt, dass viele Frauen in unserer patriarchalischen Gesellschaft total isoliert sind und deshalb ihre persönlichen Probleme und Schwierigkeiten als individuelles Schicksal begreifen.

Eine Möglichkeit, diese Isolation zu durchbrechen, kann die C.R.-Gruppe (Concsiousness-raising) sein. C.R. bedeutet soviel wie Bewusstseinsaufwiegelei, Bewusstseinsanstiftung, Bewusstmachung. Das C.R. Modell wurde von der amerikanischen Frauenbewegung übernommen.

Concsiouness-raising wird in kleinen Gruppen von ca. 6 – 8 Frauen durchgeführt. An den ersten Abenden erzählt jede Frau ihre Lebensgeschichte. Dadurch entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens, in der jede Frau mit der anderen fühlt.

Danach werden Themen gewählt (z.B. Partnerbeziehung, Verhältnis zur Mutter, Verhältnis zum eigenen Körper) und jede Frau spricht über Ihre persönlichen Erfahrungen und Gefühle zu diesem Thema. Keine Frau darf wegen ihrer Meinung und ihrer Erfahrungen kritisiert und angegriffen werden. Die Gruppe sollte jedoch Fragen zur Klärung stellen, nachdem die Frau aufgehört hat mit dem Erzählen.

Es wird reihum und ohne Zeitbegrenzung gesprochen. Das hat den Vorteil, dass jede Frau ohne Angst und Druck sprechen kann und die anderen sich ganz auf sie konzentrieren müssen und lernen, zuzuhören. Wichtig ist, dass jede Frau sicher sein kann, dass keine Information aus der Gruppe herausgelangt.

Durch das gemeinsame Gespräch gelangen die Frauen zu der Einsicht, dass viele der beschriebenen Situationen und Erfahrungen nicht auf individueller Unzulänglichkeit beruhen, sondern dass ihre Wurzeln vielmehr in der Gesellschaftsordnung liegen.

Wenn z.B. von der Gruppe das Thema beschlossen wird: „Was hält die Frauen getrennt voneinander?“, erzählt jede Frau von ihren persönlichen Erlebnissen. Eine Frau erklärt z.B., wie ihre Eltern sie ermutigten, mit anderen jungen Mädchen um männliche Aufmerksamkeit zu konkurrieren.

Eine andere spricht von ihrem Zorn, als sie merkte, dass sie von ihren Freundinnen verlacht und durchgehechelt wurde.

Wenn jede Frau erzählt hat, versucht die Gruppe Generalisierungen. In   diesem Fall kann man z.B. schließen, dass von einem frühen Alter an Frauen dazu erzogen werden, anderen Frauen zu misstrauen und mit anderen Frauen zu konkurrieren.

Nach einiger Zeit beginnen die Frauen einer C.R.-Gruppe klarer zu erkennen, wie die Mechanismen ihrer Unterdrückung sind.

Sie können Selbstvertrauen, ein gemeinsames Bewusstsein ihrer Lage und Solidarität entwickeln und werden fähig, gemeinsam zu handeln.

Frauen, die Interesse an C.R.-Gruppen haben, wenden sich an: Christa oder Brigitte Tel 36 12 622.

Blatt. Stadtzeitung für München 7 vom 28. September 1973, 9.