Materialien 1973

Auf hoher See oder Wie umgehe ich Kommunikation

Da sitzen sie, den Blick ein bisschen verglast vom Bier oder vom Shit und glotzen in die Runde. Warten auf das große Glück. Es wird erwartet in Gestalt einer ‚guten Frau’, auf deutsch: stehende Titte, strammer Arsch, umflorter Blick. Oder, von der weiblichen Seite aus: netter Kerl, gut aus-
sehend, hoffentlich potent, (Länge des erigierten Schwanzes wird anhand von anderen Körper-
merkmalen wie Nasen oder Daumenlänge (da kann man sich übrigens ungeheuer irren!) abge-
schätzt.

Um 12 Uhr reden sie miteinander auf der Basis von: ich bin ja nur eben mal ein Bier trinken gegan-
gen. Etwas später steigen sie in ein intensiveres Gespräch ein, man hat ein Anliegen, man hat Pro-
bleme, man differenziert, man setzt sich in Pose, hat schon ein bisschen Hemmungen über Bord bekommen und setzt seinen Körper ein, das Minenspiel wird suggestiv, gelegentliche Rülpser ver-
raten Weitläufigkeit durch emanzipatorische Aktionen: man ist auf dem Laufenden, up to date, man hat Selbstwertgefühl und steht auf einem Niveau sexueller Freizügigkeit, das seinesgleichen zu suchen hat. Es handelt sich weniger um gegenseitiges Kennenlernen als um die Schau, die man sich selbst bereitet.

Warten auf das große Glück! Das ist wie mit Godot. Sie sitzen oder stehen da, reden, reden. Die Blicke schweifen in die Runde, ob sich nicht noch was bessres findet als der augenblickliche Ge-
sprächspartner, womöglich muss auch noch die Kneipe gewechselt werden. Wenn es auf 3 Uhr zugeht – oder eben auf die Polizeistunde – wird das ganze ein bisschen hektisch, man muss jetzt ganz schnell einen Partner oder eine Partnerin finden für die Nacht, man baut Ansprüche ab, man drückt ein Auge zu: in der Nacht sind alle Kühe schwarz – oder alle Stiere! Man macht den letzten Versuch. Die, die sich schon länger fixiert hatten, gehen endlich ran. Irgendwie findet man einen Anlass in die Nähe der Braut zu kommen, auf dem Weg zum Lokus oder man hat schnell einen Kumpel am anderen Ende des Lokals begrüßen müssen. Na ja, es klappt oder es klappt nicht. Wenn nicht, geht man nach Hause und meint, man hat ja sowieso keine ernsteren Absichten ge-
habt und einen runterholen tuts auch, wenn man nicht überhaupt schon zu müde ist. Wenn ja, wacht man am nächsten Morgen auf und wundert sich, wen man da neben sich zu liegen hat und man sieht zu, wenn es das fremde Bett ist, sich so schnell wie möglich da raus zu kriegen, noch ein Küsschen, souverän, tjüs! Oder man denkt, wenn es das eigene Bett ist, wie schaufle ich die oder den jetzt wieder raus? Auch wieder Küsschen, im Atem noch einen Hauch von der nächtlichen Raserei, ein Gurren oder ähnlich Laszives, dann: tjüs, machs gut! Man ist froh, wieder allein zu sein, streckt sich, schnuppert an der Bettdecke nach dem fremden Parfum oder Schweißgeruch. Na ja, das wars mal wieder. O.K. Eine gute Turnübung. Hoffentlich hab ich keinen Tripper.

Was ist das eigentlich? Wir geben vor, nichts anderes als einen Parmer für die Nacht zu suchen. Man hat ja schließlich eine Sexualität, der Körper verlangt seine Rechte; So weit sind die Frauen jetzt auch schon, oder haben es zu sein, wenigstens die, die in dieser Kneipe rumsitzen. Man hat ja schließlich seinen § 218 abgehandelt, man hat womöglich schon seine Scheidung – oder zwei – hinter sich, man ist emanzipiert.

Was heißt das eigentlich?

: dass man zur rechten Zeit sagen kann: tjüs, O.K.,
: dass man den Kommunikationsprozess, der zum Koitus führt – oder führen kann – mit Alkohol oder Shit abkürzt und damit einen wesentlichen Bindungsfaktor ausschließt,
: dass man seine Gefühle oder seine Geilheit nicht auf einen bestimmten Menschen bezieht, son-
dern auf ein Organ,
: dass man Beziehungen, die über den sexuellen Kontakt hinausgehen nicht wünscht,
: dass man diese Beziehungen natürlich wünscht, dass man sich aber nicht traut – aus Angst vor Verletzungen – die Bedingungen dafür zu erfüllen.

Die sexuelle Kommunikation ist die intensivste Beschäftigung mit einem anderen Menschen. Man erfährt den anderen relativ schnell und tief.

Es hat historische und gesellschaftspolitische Gründe, weshalb dieser Bereich am verletzlichsten ist – er ist es jedenfalls, also: weg mit den Problemen. Wer will schon den nackten Arsch öfter als ein-
mal zum Fenster raushalten.

Man ist vorsichtig geworden und – neugierig. Man kann ja auch gar nicht zufrieden sein: das Ange-
bot ist zu groß. Ob es sich nun um ein Auto handelt oder einen Partner. Natürlich will man das Op-
timalste, aber woran kann man es erkennen? Beim Auto jedenfalls am Umriss. Beim Partner? Auch am Umriss. Die körperlichen Signale sind am stärksten, auf die sind wir geeicht und werden täglich neu behämmert: was schön ist, was gut ist, was nützlich ist. Wir brauchen erst gar nicht darüber nachzudenken. Das ist ungeheuer bequem. Es wird einem fast alles abgenommen, auch Entschei-
dungen, (sie werden überflüssig im Hinblick auf die Austauschbarkeit) auch Kommunikation – nur nicht die Sehnsucht nach dem großen Glück. Und deshalb sitzen wir da und halten Ausschau, Nacht für Nacht- wie Leuchttürme.

Inge Heinrichs


Blatt. Stadtzeitung für München 16 vom 8. Februar 1974, 10.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Frauen

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