Materialien 1973

„Wir dachten alles neu“

Die Feministin Erika Wisselinck hat die Frauenbewegung und -politik in Deutschland entschei-dend mitgestaltet – Jetzt ist ihre Biografie erschienen, die sich als ein Dokument von 50 Jahren frauenbewegter Geschichte erweist.

Erika Wisselinck (1926 – 2001) war Journalistin, Autorin, Politikerin und vor allem Feministin. In all ihren Funktionen hat sie die Bewegung der Frauen beeinflusst und mitgetragen. Als Mädchen musste sie die Nazizeit genauso miterleben wie das konservative Frauenbild der Nachkriegsjahre. Lange vor dem Aufkeimen der Frauenbewegung thematisierte sie in ihren Zeitungsartikeln und Hörfunk-Sendungen die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts. Und auch als SPD-Politikerin zeigte sie frauenpolitisches Engagement. Als sich die ehemalige Einzelkämpferin fast 50-jährig der feministischen Bewegung anschloss, verstärkte sich ihr Einsatz für eine gerechtere Welt noch mehr. Sie übersetzte einige der maßgeblichen Grundlagenwerke feministischer Autorinnen wie Mary Daly und Robin Morgan ins Deutsche, publizierte vier bahnbrechende Bücher und gründete feministische Projekte. Bis zu ihrem Tod blieb sie in Bewegung.

Kürzlich ist ihre Biografie erschienen, ein Vorhaben, das sie selbst nicht mehr umsetzen konnte. Die Autorin Gabriele Meixner, die Erika Wisselinck persönlich gekannt hat, sollte zu deren 75. Geburtstag eine Denkschrift verfassen. Dazu ist es nicht mehr gekommen, nachdem sie im Jänner 2001 gestorben ist. 2005 wurde Gabriele Meixner von den Nachlassverwalterinnen beauftragt, diese Biografie zu schreiben. Nach jahrelangem Sichten von Bergen an Unterlagen und einer Men-
ge an Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Freundinnen ist das Buch fertig, das vielmehr ist als bloß eine Biografie. Es liegt nun ein einfühlsam und spannend gestaltetes historisches Dokument vor, das auch den jüngeren Frauen ein Stück frauenpolitischer und feministischer Geschichte zur Kenntnis bringen kann. Gabriele Meixner schreibt in ihrem Vorwort: „Als ich von ihrem Tod er-
fuhr, war es, als sei eine beginnende behutsame Freundschaft abrupt abgebrochen. Und so sehe ich mein Nachdenken über sie als Versuch, das begonnene Gespräch mit ihr auf anderem Weg fortzu-
setzen“.

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Geboren am 26. Oktober 1926 in Görlitz, wächst Erika Wisselinck in gutbürgerlichen geordneten Verhältnissen auf. Zur Mutter Eva, die, obgleich ausgebildete Lehrerin und Bibliothekarin, ihre Berufe nie ausgeübt hat, wird sie zeitlebens ein schwieriges Verhältnis haben. Noch im hohen Alter beklagt sie die mangelnde Wärme ihrer Mutter. Anders ist ihre Beziehung zum Vater. Der Berufs-
offizier steht Erika offen und liebevoll gegenüber, genauso der um neun Jahr jüngere Bruder Neid-
hard, der von der Mutter bevorzugt wird. Die ersten Lebensjahre verbringt die Familie aufgrund des Berufs des Vaters an vielen verschiedenen Wohnorten.

Während der Nazizeit wird Erika gezwungen, dem BDM beizutreten. Sie beklagt die dümmlichen Lieder, die sie singen muss und leidet vor allem unter der geistigen Ödnis dieser Zeit. Ihr damals schon ausgeprägter Wissensdurst kann aufgrund der Bücherverbrennungen von 1933 und der eingeschränkten Bildungsvorgaben nicht gestillt werden. 1942 muss sie für ein halbes Jahr zum Ernteeinsatz in die Nähe von Krakau und 1944 zum Reichsarbeitsdienst nach Falkenberg/Elster. Der militärische Drill ist ihr verhasst.

50er-Jahre: Stationen zum Journalismus

In den Nachkriegsjahren unterrichtet sie Kinder, arbeitet als Sekretärin bei der britischen Besat-
zungsmacht und als technische Angestellte. Ihre bereits guten Englischkenntnisse vertieft sie durch einen Dolmetschlehrgang in Hamburg. Schon damals träumt sie davon, Journalistin zu werden. Als sie Bernd Meinhard Meinardus kennenlernt, der ein Redaktionsbüro in Düsseldorf betreibt, wittert sie eine Chance und heiratet ihn kurz darauf, um von ihrem Sekretärinnenjob wegzukommen. Sie kann erste redaktionelle Erfahrungen sammeln. Nach dem baldigen Scheitern der Ehe kehrt sie nach Hamburg zurück und nimmt den Posten einer Direktionssekretärin bei den Scandinavian Airlines (SAS) an. Obwohl sie gut verdient, ist sie unzufrieden, will sie doch unbe-
dingt Journalistin werden. Kurz entschlossen kündigt sie und belegt die Fächer Volkswirtschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität. Als sie dann einige Artikel für das „Hamburger Sonntagsblatt“ schreiben darf, ist sie zufrieden. Jetzt kann sie ihren Traumberuf realisieren und gleichzeitig ihr Studium finanzieren. Ab 1958 schreibt sie für kurze Zeit für die „Süddeutsche Zeitung“ und ab 1960 arbeitet sie für den Bayerischen Rundfunk.

60er-Jahre: Anfänge der Frauenthematik

Erika Wisselincks Engagement ist enorm. In ihren Sendungen scheut sie nicht davor zurück, heikle Themen zu präsentieren. Sie leistet Aufklärungsarbeit über die Nazi-Gräuel, berichtet über die Contergan-Affäre und im Laufe der Zeit immer mehr über die untergeordnete Stellung der Frau. Bereits Anfang der 60er-Jahre, zu einer Zeit, als die gesellschaftliche Stimmung noch sehr misogyn war, wagt sie sich an feministische Themen.

1962 nimmt sie mit der Studienleitung der Evangelischen Akademie in Tutzing einen zweiten Job an, in dem sie ebenso „ihre Frauenthemen“ in den Fokus stellt. Anfänglich, so berichtet sie, sei alles rund um die Frauenthematik „noch so neu“ gewesen, „eigentlich Theorie“. Und das war wohl der Grund, warum sich die Gemüter nicht erhitzten.

Doch schön langsam kommt es zu Veränderungen. Mit der sogenannten 68er-Revolution, in deren Sog sich die Frauenbewegung etabliert, werden die Frauen hellhöriger. Hörerinnen bedanken sich für Wisselincks Sendungen, liefern positives Feedback. Die UNO ruft 1975 das Internationale Jahr der Frau aus, die Weltfrauenkonferenz in Mexiko geht über die Bühne, die Frauenfrage wird öf-
fentlich und international anerkannt.

Plötzlich ist die Theorie Praxis. Das erkennen auch die männlichen Redakteure und Chefs von Erika Wisselinck, die das gar nicht so lustig finden, dass sich ihre Frauen daheim emanzipieren. Ihr Unbehagen wächst und sie lassen es Erika in Form von Gehässigkeiten spüren. Je sichtbarer der Feminismus wird, umso massiver äußert sich der Anti-Feminismus in den Mainstream-Me-
dien. Wisselinck wird als „männermordende Emanze“ dargestellt.

70er-Jahre: Frauenbewegung und Sexismus

Die Männer rücken wieder mehr zusammen und die Frauen vernetzen sich in Mediengruppen, die wiederum von den Männern boykottiert werden. Erika Wisselinck ist in ihren Artikeln und Sen-
dungen um Aufklärung bemüht, doch es hilft nichts. Der alte Separatismus verstärkt sich. Darauf-
hin schaffen Feministinnen ihre eigenen Räume. Die autonome Frauenbewegung baut flächendek-
kend Projekte auf: Frauenzentren, Verlage, Buchläden, Frauenhäuser, Bildungs- und Gesundheits-
zentren … Doch diese Separierung ohne Beteiligung der Männer wird von Letzteren als gefährlich eingestuft und zieht fortwährend sexistische Angriffe nach sich. Erika fragt sich, warum Männer, die sich als progressiv verstehen und alle Lebensbereiche – außer ihrem eigenen Verhältnis zu Frauen – neu analysieren, derart sexistisch reagieren. Nun sieht sie die Frauenbewegung als „Ab-
grenzung von der linken Bewegung“, als einen Abschied, der sie persönlich schmerzt: als die „Ge-
schichte einer enttäuschten und zerbrochenen Liebe“.

Erika Wisselinck verschlägt es eine Zeit lang in die Politik. 1972 wird sie als SPD-Kandidatin für das Landratsamt im Kreis München-Land aufgestellt, wodurch die SPD erstmals eine Frau ins Rennen schickt. Sie erringt immerhin 42, 2 Prozent der Stimmen und wird daraufhin „Mrs. 42 %“ genannt. Obwohl das sensationelle Ergebnis für das Amt der Landrätin nicht ausreicht, ist sie noch zwölf Jahre lang als Kreisrätin tätig. Und wieder setzt sie sich für Frauen ein: Frauengesundheit, Frauensprache in Ämtern, Rhetorikkurse für Frauen etc. – doch irgendwann ist ihr klar, dass sie mit der Parteipolitik nicht weiter kommt. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits mit der autonomen Frauenbewegung Kontakt aufgenommen.

1973 gründet sie die Monatszeitung „Korrespondenz die frau“, die noch vor EMMA und Courage“ zwölf mal jährlich fundiert feministisch Bericht erstattet. Das Besondere daran ist, dass andere Zeitungen die Artikel kostenlos übernehmen dürfen, denn – so das Ziel von Wisselinck – auf diese Weise kann die feministische Thematik breit gestreut werden. Ende der 70er-Jahre werden ihr aufgrund der als bedrohlich empfundenen Inhalte innerhalb der Redaktion Probleme gemacht und Wisselinck sieht sich nach sieben Jahren Arbeit gezwungen, zu kündigen. Bald darauf wird sie aus der Evangelischen Akademie in Tutzing geschmissen. Auch hier gelten ihre Themen als „zu heiß“.

1976 lädt Alice Schwarzer dreißig Publizistinnen zur Gründung von EMMA, in der Folge schreibt Erika Wisselinck als freie Redakteurin für das Blatt, ab 1978 fix auf Honorarbasis, jedoch unter zwei verschiedenen Pseudonymen. Doch bald leidet sie unter den arbeitsrechtlichen Missständen in der Redaktion und unter dem autoritären Führungsstil von Alice Schwarzer. Nachdem kein klärendes Gespräch mit derselben möglich ist, hört sie nach drei Monaten wieder auf. Schwarzer bezeichnet Wisselinck daraufhin als „alternde Journalistin“, die nur deshalb bei EMMA begonnen habe, weil sie keine anderen Möglichkeiten gehabt. Wisselinck kontert: Schwarzer sei ein „Macho im Rock“.

80er-Jahre: Ganz der Frauenbewegung verschrieben

Ab 1980 stellt Erika Wisselinck ihre Existenz total auf die feministische Theorie. Sie zieht sich aus allen Medien zurück, beginnt mit Übersetzungsarbeiten von feministischen Werken amerikani-
scher Autorinnen wie Mary Daly, Robin Morgan, Janice Raymond u.a. und schreibt ihre eigenen Bücher: „Frauen denken anders“, „Hexen“, „Jetzt wären wir dran“ und „Anna im Goldenen Tor“. Dies alles tut sie zu überwiegenden Teilen in ihrem Haus auf Porto Santo, das sie 1979 gekauft hat.

Sie beginnt mit Mary Dalys monumentaler Patriarchatskritik „Gyn/Ökologie“, das 1978 in den USA erschienen, zum Hauptwerk der feministischen Philosophie, grundlegend für viele weiterführende Debatten und auch für Wisselincks Sichtweise richtungweisend wird. Daly benennt nicht nur die alle Strukturen umfassenden Gräuel des Patriarchats vom Füßeeinbinden bis zur Genitalverstüm-
melung, sie hat auch eine eigene Sprache entwickelt, die Erika fasziniert.

In ihrem ersten Buch „Frauen denken anders“ tritt Wisselinck zwar für den Differenzansatz (im Unterschied zum Gleichheitsansatz) feministischer Theoriebildung ein, betont aber, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht auf Biologie begründet seien, sondern dem ande-
ren Erfahrungshintergrund. Frauen hätten eine Ethik der Zuwendung, sie wählten immer eine Lösung, die am wenigsten Schmerz zufügt und handelten nach dem Prinzip der Gewaltlosigkeit.

In diesem Zusammenhang erklärt sie auch gerne, was der zumeist falsch verstandene Begriff Femi-
nismus eigentlich bedeutet: „Unser Wunsch ist immer gewesen: eine gerechtere Welt. Es ging ja nicht engstirnig nur um die Sache der Frauen. Es geht um eine gerechtere Verteilung unter den Menschen, es geht um einen anderen Umgang mit der Natur in allererster Linie, … es geht um eine Veränderung der ganzen Einstellung zu den Lebensgrundlagen des Menschen auf diesem Planeten. So groß gegriffen ist der Ansatz der Frauenbewegung“.

Diese Erklärung ist notwendig, um das Mitwirken der feministischen Frauen in der Ökologie- und Friedensbewegung darzustellen, die sich in den 80er-Jahren formiert. Erika Wisselinck, die sich bereits 1958 mit der Wegwerfgesellschaft und der Vergeudung von Rohstoffen beschäftigt hat, ist auch bei den Protestaktionen gegen den Bau der atomaren Wiederaufbereitungsanlage in Wackers-
dorf dabei, sie berichtet über „Women for Peace“ und engagiert sich gegen die Forderung, Frauen für den Wehrdienst zu verpflichten. Während sich Alice Schwarzer positiv für „Frauen ans Gewehr“ ausspricht, zeigt sich Wisselinck entrüstet: „Es ist die äußerste Perfidie des Patriarchats, Frauen in ihre unmenschliche Tötungsmaschinerie, das Militär, einzuspannen“.

1984 übersetzt sie Mary Dalys „Reine Lust“ ins Deutsche, in dem es um die phallische Zerstörung und Entartung von Wünschen nach menschlichem Miteinander geht. In der Zwischenzeit sind die beiden Feministinnen befreundet und gehen auch miteinander auf Lesereisen. 1986 publiziert sie ihr Buch „Hexen“, wofür sie viel Anerkennung, aber auch sehr viel Häme erntet. Letzteres zeige, so ist sie überzeugt, wie verdrängt die Geschichte der Hexenverfolgung und -ermordung noch immer werde. Zwei Jahre später gibt sie ihren Sammelband „Jetzt wären wir dran“ mit Aufsätzen aus 30 Jahren heraus und 1990 ihren ersten und einzigen Roman „Anna im Goldenen Tor“. Die Zeit zwi-schen ihren Schreibarbeiten füllt sie unermüdlich als Vermittlerin feministischen Denkens, bei-spielsweise mit dem von ihr gegründeten Projekt „Frauenstudien München“, und bei ihren unzäh-ligen Vorträgen.

90er-Jahre: Rückzug auf Porto Santo

Obwohl sich Erika Wisselinck so wie selten eine Frau ihr Leben lang publizistisch für eine gerech-
tere Welt eingesetzt hat, wurde sie nur einmal ausgezeichnet: 1989 erhält sie den Münchner Frau-
enförderpreis als Anerkennung ihrer Leistungen als Schriftstellerin und Feministin. Im Juni 1993 übersiedelt sie ganz auf ihre Insel Porto Santo, wo sie sich an ihre dritte Daly-Übersetzung macht, die Autobiografie, die unter dem Titel „Auswärts reisen“ erscheint. Sie lebt die letzten Jahre ihres Lebens relativ zurückgezogen, bis auf die Besuche ihrer Freundinnen und die Pflege ihrer 95-jähri-
gen Mutter, zu der sie oft nach Deutschland fliegen muss.

Nach einem Sturz erholt sie sich nicht mehr richtig. Nach vielen Fehldiagnosen und Behandlungen erhält sie erst im Jahr 2000 den Befund: eine entzündliche Skeletterkrankung. Erika Wisselinck stirbt am 4. Jänner 2001 in Funchal/Madeira und ist auf Porto Santo beerdigt.

Dagmar Buchta/ die Standard.at, 11. April 2010, 20.31.

Gabriele Meixner: „Wir dachten alles neu. Die Feministin Erika Wisselinck und ihre Zeit“ Christel Göttert Verlag 2010, ISBN: 978-3-939623-22-9, Euro 19,80

Werke von Erika Wisselinck:
- Frauen denken anders. Zur feministischen Diskussion, Christel Göttert Verlag 1984.
- Hexen. Warum wir so wenig von ihrer Geschichte erfahren und was davon auch noch falsch ist, Frauenoffensive 1986.
- Jetzt wären wir dran. Frauen und Politik. Aufsätze aus 30 Jahren, Frauenoffensive 1988.
- Anna im Goldenen Tor. Gegenlegende über die Mutter der Maria, Christel Göttert Verlag 1990.


http://diestandard.at/1269449358689/Portraet-Wir-dachten-alles-neu (28.05.10)

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Frauen

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