Materialien 1973

„Wer wirft den nächsten Stein?“

Hauptdarstellerin Hanna Schygulla
über die Familienserie „Acht Stunden sind kein Tag“

Widersprüche reizen zum Denken. Das beste an der Erstmaligkeit im deutschen Fernsehen, einer Familienserie über Arbeiter, ist die heftige Diskussion, die sie in Gang bringt durch die Widersprü-
che, die in ihr ausgestellt sind.

Man kann viel davon reden, was diese Serie alles geworden ist und was nicht. Die Kritiker haben das zur Genüge getan. Ich möchte nur davon reden, was sie hat werden müssen, und das fängt bei den Voraussetzungen an, Ein massenerprobtes, reaktionäres Unterhaltungsgenre soll umfunktio-
niert werden auf progressiv. Der Regisseur, der weit davon entfernt ist, Arbeiter zu sein, macht mit Schauspielern, die weit davon entfernt sind, Arbeiter zu sein, Filme über Arbeiter, die deren Welt zeigen, nicht so wie sie ist, sondern wie sie sein könnte und soll.

Der Ansatz geht um viele Ecken, die Brechungen können nicht ausbleiben. Wenn so viele mitwir-
ken, die von der Welt, die sie repräsentieren sollen, zu weit weg sind, wird diese Welt als nachem-
pfunden auftauchen. Wenn so viele mitwirken, die zu den Problemen, die sie befassen, zuviel Ab-
stand haben, werden diese theoretisch. Wenn so viele mitwirken, die geübt sind in Kunst, werden die Figuren verfremdet.

Heraus kommt der Arbeiter als halbe Kunstfigur in einer nicht ganz realen Welt mit exemplari-
schen Verhaltensweisen. Die Ebene der Serie ergibt sich als Zwischenebene zwischen Realität und Utopie. Daraus ergeben sich noch viele andere Zwischenlagen: zwischen Milieu und Künstlichkeit, zwischen Idylle und Sozialkritik, zwischen Unterhaltung und Aufklärung, zwischen Theorie und Irrealität, zwischen Optimismus und Illusion, zwischen Phantasie und Verschleierung, zwischen Klamotte und Reklame. Und also gibt es dreierlei in einem Topf: eine gute Portion Tatsachen, eine gute Portion Mögliches und eine gute Portion Unmögliches. Man weiß nie, woran man ist, „und man stellt sich Fragen, die die eigene Wirklichkeit betreffen. Das, was darin real ist, das, was viel-
leicht möglich wäre, und das, was Illusion ist.

Ich zum Beispiel möchte fragen, ob wir uns da nicht etwas vormachen mit den vielen kleinen Schritten, die wir vorwärts tun und es ein wenig besser machen. Wenn der sogenannte Fortschritt technologisch die Natur zerstört, in uns und um uns herum, und der gesellschaftliche Fortschritt uns die Freiheit schenkt, ein bisschen individuell zu ticken. Aber die große Maschinerie des Kapi-
tals dreht uns genauso weiter und holt sich die Kraft aus den Köpfen und Knochen zur Anhäufung des Mehrwerts für wenige.

Acht Stunden sind kein Tag, aber fast ein Tag, und für die schweigende Mehrheit heißt das, acht Stunden Befehlsempfänger sein, die restlichen Stunden Konsumempfänger sein und dazwischen der Urlaub zum Aufpumpen. Der WDR hat den ersten Schritt in eine neue Richtung getan. Der Fassbinder hat den ersten Stein geworfen, einen Stein des Anstoßes natürlich. Die Kreise breiten sich aus als nützliche Fragen. Ein Arbeiter auf dem Bildschirm macht noch keine Revolution, stand in einer der vielen Kritiken. Wer wirft die nächsten Steine, damit es zur Lawine kommt?

Ein schöner Erfolg wäre das Experiment „Acht Stunden sind kein Tag“, wenn es diejenigen, die wirklich etwas davon verstehen müssten, dazu auffordern sollte, es besser zu machen, nämlich die Arbeiter selbst zur Dokumentation ihrer Lage, und die Studierenden zur Analyse und beide zu-
sammen zu der Arbeit an der Frage, wie transportiere ich neue Inhalte auf alten Wegen, wie mache ich eine progressive Familienunterhaltung, ohne „links von Inge Meysel“ zu landen.

Erika Runge hat etwas von der Redlichkeit vorgeführt, die nottut, als ihre Laien vorfabrizierte Situationen anhand ihrer Erfahrungen durchspielten. „Wünschenswert ist die Anfertigung von Dokumenten“, sagte Brecht schon 1926. Die eigene Erfahrung schreibt mit Sicherheit die präzi-
sesten Geschichten, die es zu erzählen gibt. Erfundene Geschichten haben einen Schleier; besten-
falls sind es die enthüllten, schlechtestenfalls die verhüllten eigenen.


konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 13 vom 22. März 1973, 19.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Kunst/Kultur

Referenzen