Materialien 1973

Unsere Situation ist ernst und heiter, doch ganz und gar nicht hoffnungslos

Familienserie „Acht Stunden sind kein Tag“ bringt die Veränderung in Gang

„Acht Stunden sind kein Tag, aber fast ein Tag, und für die schweigende Mehrheit heißt das, acht Stunden Befehlsempfänger sein, die restlichen Stunden Konsumempfänger sein und dazwischen den Urlaub zum Aufpumpen.“ Das sagt Hanna Schygulla, die nicht nur in Fassbinders Familien-
serie, sondern auch sonst selber denkt. Wahrscheinlich ist sie deshalb so gut in dieser Serie, in der sie Werkzeugmacher Jochens Freundin und Frau darstellt, sympathisch, klug, nie überkandidelt.

Hanna Schygulla hat ein gerüttelt Maß Schuld daran, dass Unternehmer und Fernsehkritiker vieler Richtungen das Unternehmen „Acht Stunden sind kein Tag“ so gespenstisch finden; dass sie also Angst haben. Angst vor den Reaktionen der Zuschauer, vor allem der Arbeiter unter ihnen. Denn was Hanna als Marion im Fernsehen denkt, können wir mitdenken. Und was sie und ihre Freunde im Spiel zeigen, damit können wir Ernst machen.

Familienserien sollen uns unterhalten. Die meisten erreichen ihr Ziel, weshalb uns das Fernsehen immer wieder Familiengeschichten serviert. Zwanzig Jahre lang wurde in diesen Serien „heile Welt“ gezeigt. Und eine halbfremde. Denn die Welt der Arbeiter kam kaum darin vor. Rainer Wer-
ner Fassbinder hat nach zwanzig Jahren „Deutsches Fernsehen“ die erste Familienserie mit Arbei-
tern, ihrem Arbeitsplatz und ihrer privaten Umwelt gedreht. Auch in dieser Serie entsteht immer wieder „heile Welt“. Aber die Konflikte werden nicht beschönigt, sondern ausgetragen. Und die Probleme werden durch eigenes Nachdenken und solidarisches Handeln gelöst.

„Acht Stunden sind kein Tag“ ist kein Dokumentarspiel und nicht ein bebilderter Vortrag über die Ursachen der betrieblichen und privaten Konflikte in unserer Gesellschaft. Die Serie ist nicht nur für den Verstand, sondern auch fürs Gefühl gemacht. Sie ist ein bisschen romantisch, ein bisschen kitschig und manchmal auch ein bisschen zu naiv optimistisch. „Wir wollten Mut machen“, sagt Fassbinder dazu selbst in einem Interview der Zeitschrift „konkret“: „Die Situation nicht aussichts-
los, sondern aussichtsvoll darstellen. Den Leuten klarmachen, dass sie in der Gruppe Möglichkei-
ten haben, die der einzelne nicht hat. Und dass das auch schön ist und zu was führt.“

„Aktionismus“ ist Fassbinders Personen von Fernsehkritikern vorgeworfen worden. Und mangeln-
des Nachdenken über die großen Zusammenhänge. Mir scheint, hier wirkt sich die Angst so man-
cher „Linker“ vor tatsächlich veränderndem Handeln aus. Gerade weil die Verhältnisse so sind wie sie sind, gewinnen Arbeiter in unserer Gesellschaft ihre Erkenntnisse nicht aus dem soziologischen Seminar, sondern über Beispiele, wie sie „Acht Stunden sind kein Tag“ zeigt. Auf die großen Zu-
sammenhänge kommen sie dort auf ihre Weise.

Warum kriegt der Unternehmer eigentlich die Hälfte vom zusätzlichen Gewinn ab, wenn die Werk-
zeugmacher den Auftrag schneller erfüllen, als kalkuliert war? Warum kann sich der Unternehmer eine neue Halle bauen, die Werkzeugmacher aber nicht – obwohl sie es doch sind, die dem Unter-
nehmer den Gewinn (also: das Geld für die neue Halle) erwirtschaftet haben?

Marion, sie selbst arbeitet in der Anzeigenabteilung einer Zeitung, sagt: „… ’ne neue Halle, das muss ja wohl auch sein. Aber wenn er die von dem bezahlt, was ihr ihm eingebracht habt, und wenn sie dann auch wieder ihm gehört und er damit machen kann, was er will, und ihr nichts da-
von habt, und das immer so weiter geht, dann find ich das nicht richtig.“ Jochen stellt fest: „Das ist in deiner Zeitung auch nicht anders.“ Marion darauf: „Sag ich ja gar nicht. Ich sag bloß – ich hab was begriffen. Ich hab begriffen, dass man, wenn man arbeitet, arbeitet man nur zum Teil für sich. Das hab ich begriffen. Nicht mehr und nicht weniger.“

Dass wir Zuschauer es mit Marion begreifen konnten, ist eine ganze Menge. Nicht mehr und nicht weniger.

Nils C. Nagel


Metall 7 vom 3. April 1973, 13.