Materialien 1973
Amtsschimmel gegen Pferde
Neue Naturschutz-Bestimmungen sollen die Reiterwege einschränken
Die zwanzig Demonstranten, die kürzlich in Münchens Innenstadt auftraten, erregten Aufsehen weniger durch ihr Anliegen als durch die Tatsache, dass sie ihrem Protest noch zu Ross Ausdruck verliehen. Was die bayerischen Pferdelenker wollten, ist einfach zu erklären — reiten nämlich.
Diese Freizeitbeschäftigung soll ihnen in Zukunft durch ein neues Naturschutzgesetz beschnitten werden, und zwar nicht nur durch Landes-, sondern bald auch durch Bundesgesetz. Zu diesem Thema traf man sich höheren Ortes wenige Tage später auch im Berliner Reichstagsgebäude zu einer öffentlichen Anhörung. Vor 27 Abgeordneten, die einem neu ins Leben gerufenen Sonder-
ausschuss des Bundestages angehören, erhielten zehn Verbandsvertreter und zwei Sachverständige Gelegenheit ihre Meinung darzulegen. Viel klüger schied man nicht voreinander: Von den zwölf Experten sprachen sich vier für das Reitverbot in freier Natur und vier für die Reiterlaubnis aus. Weitere vier verhielten sich „sowohl als auch“, neutral mit leichter Tendenz für die Forderungen der Reiter.
Wandern und Radfahren
Worum geht es? In Hessen fanden sie eine Regelung, die einigermaßen zufrieden stellte, in Nord-
rhein-Westfalen gab es handfeste Proteste, in Bayern steht eine Verfassungsklage ins Haus. Das Thema ist jedesmal das gleiche: Die Länderregierungen verabschiedeten Naturschutzgesetze.
Was in vergangenen Tagen der Überbeschäftigung mit einigem Gleichmut zur Kenntnis genommen worden wäre, hat bei der gegenwärtigen Freizeit- und Umweltwelle besonderes Gewicht erhalten. Beeinträchtigt in ihrem Steckenpferd fühlen sich durch die neuen Gesetze vor allem die organisier-
ten und nichtorganisierten Reiter. In Nordrhein-Westfalen dürfen sie nicht mehr in den Wald, in Bayern seit dem Sommer weder in den Wald noch in die Flur.
Nun hat der neu gefasste Artikel 24, Absatz 2, des bayerischen Naturschutzgesetzes („Reiten ist unbeschadet der Straßenverkehrs- und wegerechtlichen Vorschriften nur auf solchen Privatwegen und Flächen in der freien Natur zulässig, die eigens für das Reiten freigegeben sind. Wandern und Radfahren sind vorrangig.“) tatsächlich Folgen, die nicht nur die Reiter unangenehm treffen, son-
dern auch jene Land- und Forstwirte, die man damit schützen wollte.
Nachdem nämlich die Deutsche Reiterliche Vereinigung angesichts der ständig schwindenden Zahl der Vierhufer jahrelang klagend forderte „Das Pferd muss bleiben“, verzeichnen die züchtenden Bauern seit drei Jahren eine steigende Tendenz auf dem Pferdemarkt. Ganz davon abgesehen, dass die gleichen Ministerien, die viele Millionen in die Erhaltung der deutschen Pferdezucht steckten, nunmehr ihren eigenen Bestrebungen indirekt zuwiderhandeln.
Amtsschimmel gegen Pferde
In Bayern geschah die Verabschiedung des Gesetzes zudem mehr oder minder als „geheime Kom-
mandosache“. Aufgeschreckt wurde die Öffentlichkeit erst, als der pensionierte Revierförster Lud-
wig Bauer in seiner Not das Reitsportmagazin „Sankt Georg“ zur Hilfe rief.
Die Zeitschrift begann ihre Recherchen, als sie vom Vorsitzenden des Verbandes der Reit- und Fahrvereine in Bayern, Dr. Kurt Rupprecht, erfuhr, man „habe bewusst nichts in die Presse ge-
bracht, damit die Landwirte nicht auf ihre neuen Rechte hingewiesen würden“.
Selbst der geistige Vater des strittigen Textes, der Ministerialrat Dr. Dieter Engelhardt im bayeri-
schen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen, ist von den heftigen Reaktio-
nen einigermaßen betroffen.
Empörung rief die Tatsache hervor, dass 90 Prozent aller reitbaren Wege in Bayern im Privatbesitz und damit in Zukunft verboten sind, und man sich über die steigende Zahl der Freizeitreiter nicht orientiert zeigte (Allensbach: 22 Prozent der Bundesbürger würden gern reiten), aber auch, dass man die zuständigen Organisationen gar nicht erst hörte. Gesetzesvater Dr. Engelhardt gibt indes-
sen einer wohlbegründeten Petition gegen sein eigenes Gesetz durchaus eine Chance.
Zum Tode verurteilt
Auch in Bayern darf man überall in der freien Natur weiter radfahren, skilaufen, schlittenfahren, wandern, ballspielen. Der Ausschluss der Reiter hat nunmehr erneut den Hamburger Rechtsan-
walt Eberhard Fellmer auf den Plan gerufen, der als Vorsitzender des Rechtsausschusses der Deutschen Reiterlichen Vereinigung bereits eine Verfassungsklage gegen das nordrhein-westfä-
lische Forstgesetz vertritt.
Fellmer wird auch gegen das bayerische Gesetz Verfassungsklage erheben. Er stützt sich dabei auf den Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 des Grundgesetzes sowie auf den Artikel 141 der bayerischen Verfassung, wonach jedermann der Genuss der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere das Betreten von Wald und Bergweiden, garantiert wird.
Die Entwicklung von einem Trend zum Volkssport, dem sich jetzt auch Leute aus unteren Schich-
ten zuwandten (gut zehn Prozent aller registrierten Reiter sind Arbeiter), zurück zum Freizeitver-
gnügen nur für Begüterte brachte letztendlich auch den Sauerländer Dieter Graf Landsberg-Vehlen in Harnisch, der nicht nur bundesdeutscher Reiter-Präsident, sondern auch Funktionär des Wald-
besitzerverbandes ist: „Mit diesen Gesetzen wird das Reiten als Volkssport zum Tode verurteilt. Das kann einfach nicht die Absicht des Gesetzgebers sein, der auf der anderen Seite so viel zur Förderung des Reitsports leistet.“
Ulrich Kaiser
Die Zeit 49 vom 30. November 1973.