Materialien 1973
Lieber Hartmut
den 13. November 1994
Rolf Pohle
Journalist – Übersetzungen – Deutschunterricht
Damaskinou 13,
11471 Athen,
Tel. 6445235;
Steuernummer 45329187
Lieber Hartmut,
„na da egadostisis! na da chiliaris!” („auf hundert Jahre! auf tausend Jahre!“) Griechische Glück-
wünsche zu Deiner Halbjahrhundertfeier dürfen auf keinen Fall fehlen. Leider kann ich Dir meinen blauen Fliedertopf, ein Geschenk einer Schülerin vom letzten Jahr, der jetzt – im November! – zu meiner Freude zum zweiten Mal im Jahr blüht, nicht schicken. Fantasie an die Macht: Stell ihn Dir vor!
Ein kleines Anzeichen für das relativ privilegierte Leben, das mir nun zu führen gegönnt ist. Oder beneidet Ihr Deutschen/Nordeuropäer mich etwa nicht, dass ich dort, wohin Ihr im besten Fall mal 1, 2 oder 3 Wochen zum Urlaubmachen hinkommt, in der „Wiege der Demokratie und der europäischen Kultur“, nunmehr fast zehn volle Jahre lebe?!?
Ein Privileg, das ich denke, mir mit meinen inzwischen zweiundfünfzig Jahren auch verdient zu haben – gerade auch wegen der ebenso lächerlichen wie lebensgefährlichen Belästigungen durch die uns weltweit regierenden Gangster bzw. ihre Geheimdienste. Ein Privileg, von dem ich aber weiß, dass ich es nie geschafft hätte und weiter schaffen würde, wenn mir nicht immer wieder Menschen geholfen hätten und helfen würden. Und zu diesen Menschen gehörst in erster Linie Du. Das bemerkenswerte an unserer Freundschaft ist vielleicht, dass sie nun schon Jahrzehnte hält, obwohl wir eigentlich die meiste Zeit getrennt gelebt haben/leben mussten. Das verbindet Dich mit dem besten Freund meines Lebens, Reinhart, nun in London, der gerade an Deinem Feiertag zu einer Stippvisite nach Athen kommt, wo wir dann zweimal feiern werden: Deinen Geburtstag und unser vierzigjähriges Freundschaftsjubiläum. Anlass, ein paar Blicke/Streiflichter in unsere ge-
meinsame/getrennte Vergangenheit zu werfen.
Da wäre einmal der Kabinenroller-Hartmut aus der Elisabethstrasse (oder Franz-Joseph? – unge-
naue Erinnerungen mögen mir verziehen sein). Auch damals war das Be- und Entsteigen ohne Mit-
nahme von bedeutenden Teilen des Gefährts keine Leichtigkeit – heute würde es mit Sicherheit platzen, schon bevor wir Platz genommen hätten … Aber dafür sind wir ja auch rechtzeitig auf ge-
räumigere Gefährte umgestiegen inzwischen … Also Schwabing 1966, 1967, 1968 etc. pp.: LSD-Büro Barerstrasse, Uni, Mensa, Studentenwerk, AStA, Flugblätter abziehen und verteilen, Studen-
tenparlamentswahlen und Konventssitzungen, bis zur Grossen Koalition mit Nazi-Kanzler Kiesin-
ger, Unterstützung von „linken“ SPD- und Gewerkschaftsfunktionären wie … Kronawitter, Hereth, Grass-SPD-Wahlkampfreisen, aber auch Großveranstaltung im Löwenbräukeller gegen die Faschi-
sten: „Gibt es Gründe, NPD zu wählen?“ und nach der Enttäuschung der Grossen Koalition die mit Grass versammelten Intellektuellen und Künstler Münchens: „Es wird hier geblieben!“, Kurswech-
sel im LSD: „Bewusstseinsbildung an der Basis. Wir müssen an unseren eigenen Interessen, an den Interessen der Betroffenen ansetzen; Schluss mit der SPD“ – Mitgliederversammlung lehnt Vor-
standsantrag ab, Vorstand tritt zurück, das waren aber damals die einzig aktiven im LSD – also wird der Antrag doch angenommen und der Vorstand wiedergewählt – und nun rein in unsere In-
teressenvertretung als Studenten und nach 1/2 Jahr halber LSD-AStA.
Irgendwann in dieser Zeit war dieses Erstsemester-Tandem bzw. -Dreirad voll im Geschehen drin. Tandem, Dreirad? Er hatte doch drei Räder, der Kabinenroller, nicht ?! Naja, und so hab ich Euch damals erlebt: Du und Wolfgang1, kurze Zeit drauf Anne2 (obwohl ich Wolfgang im Kabinenroller eigentlich nicht erinnere, war wahrscheinlich damals schon zu groß, der Wolfgang … fast immer zusammen – und so erleb ich Euch ja auch heute noch …
Und dann kommt schon bald der Stricknadel-Computer-Hartmut. Das ursprüngliche Verhältnis der vergleichsweise jungen Erstsemester zum langjährigen LSD- und Studentenfunktionär Rolf glich sich aus. Was wäre die „Rechtshilfe der APO“, Vorläufer der bundesweiten „Roten Hilfen“, ohne Hartmut gewesen? Und wieder ihr Vorläufer „Arbeitskreis Recht im LSD“? Und dann wieder die Rechtsanwaltskanzlei Langmann, die ich wieder als Vorläufer Eurer jetzigen Kanzlei ansehe: Die einzigen, die es geschafft haben, das über Jahrzehnte im Kern zu erhalten, was wir uns damals unter „APO-Anwalt“, „Sozialistisches Anwaltskollektiv“ vorstellten. Ich erinnere mich, wie der da-
malige Star-APO-Anwalt Mahler seinem Taschenträger-Rechtsreferendar Ströbele die Münchener als Vorbild vorstellte, auch wegen dem Stricknadelcomputer, der damals einzige Versuch, dem Staat das „Kommissar Computer“-Monopol zu entreißen …
Der „Terroristen-Anwalt“: Grade frisch zugelassen, 1973, für vierundfünfzig Verhandlungstage im Vorläuferprozess vom großen Stammheimer Prozess gegen mich, sicher überhaupt kein einfacher Mandant. Und gegen die zweijährige vorherige Gehirnwäsche, mit der ich als „Logistiker der Baader-Meinhof-Bande“ in die deutschen Schädel eingehämmert worden war (sodass sogar der liberale Tochtermann sich mit seiner SZ-Überschrift verriet: „Zeugen erkennen Pohle nicht wie-
der!“) mutig die beiden anderen Pflichtverteidiger überredend: „Freispruch!“ beantragt.
Und dann Dein Ausflug in die „internationale Terroristenszene“, d.h. 1976 nach Griechenland gegen meine Auslieferung. Hauptthema im Wahlkampf „Freiheit statt Sozialismus“ Kohl gegen Schmidt, für SZ, BILD („Deutschlands schlimmster Terrorist kommt frei!“) und Böll (Konkret-Kolumne: „Keine Freiheit, Kein Sozialismus“, November 1976). „Hat Carlos Atombombe? Kommt aus Jugoslawien, um ihn zu befreien“ (griechische oder vielleicht auch internationale Schlagzeile) Die grotesken Areopag-Richter, fast alles Juntaleute, als wenn sie aus den Justizkarikaturen von Daumier aus dem letzten Jahrhundert entsprungen wären. Und die fast sprachlos machenden dummen Fragen. Im Gegensatz zu Schily, von dem wir damals schon wussten, wo er einmal landen wird(„Anwälte sind als Anwälte immer Arschlöcher“) und den ganzen Intellektuellen und Künst-
lern, die inzwischen weltweit brav ihren nationalistischen Rutsch vollzogen haben, Enzensberger nicht zu vergessen, hast du, muss ich besser sagen: habt ihr nie zur Heroisierung und damit zur Benutzung der RAF durch das System, um die Basisbewegungen zu spalten und sie international als falsches Symbol des deutschen Widerstandes aufzubauen, beigetragen. Entsprechend dann Eure Behandlung durch die bürgerlichen Medien, besonders den Zyno-Spiegel, bis heute, kann man sagen …
Hartmut, nun sehe ich, die Erinnerungen, die mir hochkommen, spontan, beginnen den Rahmen meines Festschriftenbeitrages zu sprengen. Fällt das ganz bedeutsame Kapitel: „Hartmut, der Knastanwalt“, der Gefängnismord-Herbst 1977 (Mord, selbst wenn der/die eine in den „Selbst-
mord“ getrieben worden sein sollte) und, wieder muss ich sagen: Eure mutigen Haltung in dieser Zeit, ohne Euch vor irgendeinen leninistischen Karren spannen zu lassen, aber auch schon die erfolgreiche Knastkampf/Hungerstreikzeit 1972/73 mit vorläufiger Aufhebung der Totalisolation nicht nur für mich, sondern bundesweit, Dezember 1973, aber auch unser damals erfolgreicher jahrelanger Kampf gegen die Trennscheiben heraus.
Natürlich auch die ständige Sorge um Ruth3, bis heute, wo mir wieder in der Ferne in vielem die Hände gebunden sind. Hat mich schon gefreut, als ich Ruth nach ihrem 85. sage: „Das wusst’ ich ja gar nicht, dass Hartmut auch da war …“, sie mir spontan antwortet: „Ja, wenn Du nicht kommst, muss ich ja wenigstens Deine Freunde einladen …“
Naja, und dann meine bis heute gelungene (toi, toi, toi) „Resozialisierung“, erst als juristischer Sachbearbeiter in der Kanzlei („Was, haben die denn keine Schwierigkeiten damit?“ die erstaunt und diesbezüglich ablehnende Haltung der Creme der „Linksanwälte“ in Berlin, Hamburg oder auf den Anwaltstagungen), inklusive der wenn auch schwierigen, doch bis heute erfolgreichen Zahn-
rettungsaktion durch Lebensgefährtin Ulrike und der Rente von 195.—DM ab dem 65. Lebensjahr (wie gut, dass wir damals beim OVG Landshut (?) unterlegen sind, als ich meinen Rentenanspruch für das Konto: „Waffen für den Vietcong!“ überweisen lassen wollte: „Ich bin bei der internationa-
len Solidarität versichert!“). Da muss ich nun doch inzwischen bekennen: „Besser Hartmut-versi-
chert!“ Und dafür, für all das, was Du immer für mich, mit mir getan und auch gewagt hast, muss ich Dir meinen ganz tief empfundenen Dank aussprechen.
Lieber Hartmut, 50 Jahre sind eine lange Zeit. Ungefähr die Hälfte davon haben wir viel geschafft, zusammen/getrennt. 50 Jahre liegen noch vor uns: Packen wir’s an!
„na do egadostisis! na do chiliaris! oti ebitimis!“ („… dass Deine Wünsche in Erfüllung gehen“).
Und noch mein Leitspruch seit Ende der Siebziger Jahre:
„Wer immer strebend sich bemüht,
den können wir erlösen …“
Gruß, Umarmung und Kuss!
Dein Rolfius
P.S.: Anbei, nicht für die Festschrift, ein paar von den ca. 200 Seiten Übersetzungen dieses Jahres: „Das Denken von Rosa Luxemburg in Griechenland“. Und mit der Steffi4 ham wir die Nachdruck-
rechte für (besonders) Deinen geliebten N. Poulantzas ergattert, falls sie es Dir noch nicht erzählt hat …
Weltweit auf Ihrer Seite – Die Welt auf Deiner Seite. Festschrift für Hartmut Wächtler zum fünfzigsten Geburtstag, München 1994, unpag.
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1 Rechtsanwalt Wolfgang Bendler
2 Rechtsanwältin Anne Gaugel
3 Pohles Mutter
4 Steffi M. Black von der Basis-Buchhandlung