Materialien 1973

Areopag Athen

oder
Wie Hartmut versucht hat, am Rad der Geschichte mitzudrehen,
und ich das Vergnügen hatte, ihn kennen zu lernen

Es war ein heißer Politsommer vor 18 Jahren in Athen, als Hartmut sich aufgemacht hatte, der Bundesregierung in den Arm fallen.

Im Juli 1976 war Rolf Pohle in Athen festgenommen worden. Die Regierung Schmidt setzte Him-
mel und Hölle in Bewegung, um seine Auslieferung in die Bundesrepublik durchzusetzen. Sie hatte gleich nach der Verhaftung ein Flugzeug geschickt und außer der sofortigen Übergabe eine Reihe zusätzliche Bedingungen gestellt, die mit der Selbstachtung der Griechen unvereinbar waren. In Athen wimmelte es von deutschen Garanten der inneren Sicherheit. Schmidt höchstpersönlich schrieb einen Brief an den griechischen Amtskollegen Karamanlis. Tatarenmeldungen wie: „Baa-
der-Meinhof-Bande plant in den nächsten Tagen Invasion von Griechenland“ waren aus Deutsch-
land in griechische Zeitungen lanciert worden.

Aber Helmut Schmidt hatte nicht mit den Griechen gerechnet – und nicht mit Hartmut und seinen Kollegen. Der Anwalt kam nach Athen. Ich war schon dort. Pohle hatte uns als seine deutschen Verteidiger gerufen, um ihm gegen die Schergen der Bundesregierung beizustehen. Unsere Aufga-
be war es, die griechischen Kollegen, die griechischen Medien und das griechische Volk, in dessen Namen die Gerichte über das deutsche Auslieferungsersuchen entscheiden sollten, mit Informatio-
nen über die Verhältnisse in der Bundesrepublik zu versorgen. Die freie Rede gerade in Athen, die Information als Waffe, das gefiel uns.

Die griechischen Medien stöhnten auf. ob des germanischen Drucks. Bald erschienen all-überall kritische Berichte. Die politischen Gefangenen in Deutschland und ihre Sonderbehandlung in deutschen Gefängnissen wurden zum Thema. Der deutschen Staat an der Seite der Imperialisten und vor gar nicht zu langer Zeit auch an der Seite der griechischen Obristen, das interessierte die Griechen. Politische Parteien, darunter die größte Oppositionspartei, die Centrums-Union von Papandreu, lehnten die Auslieferung Pohles an Deutschland strikt ab. Tausende gingen in Athen auf die Straße und demonstrierten gegen den deutschen Imperialismus und für die Unterstützung der Anarchisten in Deutschland.

Rolf Pohle beantragte in Griechenland politisches Asyl. Die breite Unterstützung für sein Anliegen wurde auch in der Zusammensetzung seiner griechischen Verteidigung deutlich.

Der berühmteste Strafverteidiger Griechenlands, der ehemalige Parlamentsabgeordnete der Cen-
trums-Union, der Präsident der Demokratischen Rechtsanwaltsvereinigung, Evangelos Jannopou-
los, übernahm die Verteidigung. Er hatte unter der Militärdiktatur Widerstandskämpfer und poli-
tisch Verfolgte verteidigt und deshalb selbst ein Jahr im Gefängnis gesessen. Dem Anwalt war es gelungen, die sofortige Abschiebung Pohles unmittelbar nach seiner Verhaftung zu verhindern.

Der Anwalt Stefanakis, der Neffe des Justizministers, war weiterer Verteidiger. Mehr als 50 Anwäl-
te und Rechtsprofessoren unterstützten die Verteidigung. Hartmut und ich waren also in bester Gesellschaft. Entsprechend groß waren unsere gesellschaftlichen Verpflichtungen. Die Eintragun-
gen für den 18. August im Terminkalender geben eine Ahnung davon: 15.00 Ende der Gerichts-
verhandlung, Fahrt zum Bungalow von Stefanakis, 19.00 zurück zum Hotel, 20.00 Besprechung Jannopoulos, 21.00 Veranstaltung Theatro Royal, 23.30 Ende der Veranstaltung, Essen mit Votzis dem Journalisten bis 2.30.

Die Veranstaltung im Hotel Royal war von den Soli-Kommitees organisiert. Mehr als 2.000 Leute kamen. Wir schwammen auf einer Woge der Solidarität mit Pohle. Am 20.August beschloss das griechische Obergericht, Pohle wird nicht ausgeliefert. Das Gesuch der Bundesregierung ist abge-
lehnt.

Der Verteidigung war es gelungen, dem Gericht die politischen Hintergründe des Auslieferungser-
suchens klarzumachen. Die deutschen Anwälte wurden als Zeugen vom Gericht gehört. Sie berich-
teten über die Erfahrungen mit der deutschen Justiz in politischen Verfahren und über die Haft-
bedingungen, unter denen die Gefangenen aus der RAF in der Bundesrepublik litten. Nach dreitä-
giger Verhandlung war das Gericht überzeugt: Rolf Pohle ist ein politischer Täter, eine Ausliefe-
rung an die Bundesrepublik Deutschland ist mit griechischem Recht nicht zu vereinbaren.

Wir konnten es kaum glauben. Wir jubelten und feierten. Für einen Augenblick schien es möglich, der Geschichte in den Arm zu fallen.

Die Entscheidung war ein großer Erfolg gegen die deutsche Bundesregierung. Durch sie wurde be-
stätigt, was deutsche Gerichte nicht wahrhaben wollten und was die deutsche Politik scheute, wie der Teufel das Weihwasser: Die Gefangenen aus der RAF sind politische Gefangene, die gegen sie geführten Strafprozesse sind politische Prozesse gegen politische Straftäter.

Die besondere Bedeutung dieses Richterspruches sahen wir auch darin, daß einer der Richter in Deutschland nicht unbekannt war. Wir kannten ihn aus dem Film „Z“. Als Untersuchungsrichter hatte er während der Militärdiktatur in Griechenland den Mord an einem Widerstandskämpfer rücksichtslos aufzuklären versucht. Der Film war der Wirklichkeit nachgedreht. Den Richter gab es. Er wurde unter der Militärdiktatur für drei Jahre ins Gefängnis gesteckt und gefoltert, weil er versucht hatte einen Mord der Faschisten aufzuklären und zu entlarven. „Z“ war nach dem Sturz der Diktatur Richter beim Oberlandesgericht in Athen geworden. Jetzt war er einer der Richter, die die Auslieferung Pohles abgelehnt hatten.

In Deutschland brach nach dieser mutigen Entscheidung ein Proteststurm los. Die Bildzeitung ti-
telte: „Deutschlands schlimmster Terrorist kommt frei!“.

Bundeskanzler Helmut Schmidt schrieb den Brief an den griechischen Ministerpräsidenten, in dem er „sein völliges Unverständnis“ über die Entscheidung des griechischen Gerichts zum Aus-
druck brachte. Der Kanzler legte nahe, den Richtern doch einmal ein bisschen auf die Füße zu treten. Darüber hinaus wurden den Griechen wirtschaftliche Sanktionen angedroht. Die Pressio-
nen hatten Erfolg. Die griechische Staatsanwaltschaft legte Berufung. Das höchste griechische Gericht, der Areopag musste entscheiden.

Die Stunde von Hartmut war gekommen. Der Anwalt sprang als Zeuge im Auslieferungsprozess dem Mandanten bei. Die Verteidigung hatte beantragt, den Zeugen zu hören. Vor dem Areopag hat er ausgesagt. Über die politische Zielsetzung der „Baader-Meinhof-Gruppe“ und den rechtlichen Hintergrund des Geiselaustausches Pohles gegen den Berliner CDU-Vorsitzenden Lorenz wurde er lange befragt. Hartmut der gerufene Interpret der Vorstellungen der RAF von einer neuen Gesell-
schaft. Eine Art von Volksherrschaft und eine neue Ordnung mit neuen Institutionen wolle die RAF errichten, gab er an. Einzelne Richter wollten es genauer wissen. Fragten nach Vergleichen mit anderen Gesellschaftsvorstellungen. Es gebe wesentliche Unterschiede zu der von den Kom-
munisten erstrebten Gesellschaftsordnung, ergänzte Hartmut. Er hat sich redlich bemüht. Trotz-
dem wagte eine deutsche Zeitung zu berichten, die Antworten der Anwälte hätten diffus und kon-
zeptionslos gewirkt. Aber die Richter verstanden. Für sie war Pohle wegen Zugehörigkeit zu einer politisch extremistischen Organisation in Deutschland verurteilt worden, die den Sturz der beste-
henden Ordnung in der BRD und die Bekämpfung des Imperialismus zum Ziel hatte.

Hartmut zur Seite sprang der Rechtsanwalt Schily, der direkt aus dem RAF-Prozess von Stamm-
heim nach Athen geeilt war. Auch er wurde vor dem Areopag als Zeuge gehört. Über seine Aussage berichteten die Zeitungen bemerkenswertes: „Mit großer Wahrscheinlichkeit“ werde man Pohle wieder in Isolationshaft nehmen, habe Schily geäußert, und diese verschärften Haftformen würden zu schweren Gesundheitsschäden führen, zu „einer Art Verwesung bei lebendigem Leib“. Auch Schily habe ausführlich über die politischen Ziele der RAF referiert und berichtet, dass die Bundes-
regierung mit „ungeheurer Anstrengung“ versuche, die Aktionen der RAF als „schiere Kriminalität und Terrorismus zu denunzieren“, obwohl Umfragen ergeben hätten, daß ein nicht unbeträchtli-
cher Bevölkerungsanteil diesen Gruppen durchaus auch politische Motive zuzugestehen bereit seien. Schily habe leidenschaftlich die verschärften Haftbedingungen der „Isolationshaft“ kritisiert. Er habe die Bundesregierung wieder als Stadthalter des US-Imperialismus in Europa disqualifi-
ziert.

Der Areopag verschob seine Entscheidung immer wieder. Am 1. Oktober 1976 beschloss er dann, die Auslieferung Pohles an die BRD wird doch zugelassen. Ein paar Tage später konnte man in deutschen Zeitungen lesen, Griechenland seien aus der Bundesrepublik zusätzliche Gelder in Höhe von mehr als 50 Millionen Mark zur Verfügung gestellt worden.

So blieb Hartmuts Ausflug in die internationale Politik letztlich der volle Erfolg versagt. Rolf Pohle wurde kurze Zeit später nach Deutschland geflogen und erneut von Gericht gestellt und verurteilt. Gegen die geballte Macht Germaniens hatten die paar Anwälte und ihre Unterstützer doch keine Chance gehabt. Das Rad der Geschichte hatte nur ein bisschen geruckt. Aber wir hatten Gelegen-
heit, gemeinsam einiges zu lernen. Nicht nur, dass griechische Kollegen sich als Verteidiger vor Gericht stolz als „Anarchisten“ bezeichneten und Publikum und Richter das ganz in Ordnung zu finden schienen. Wir haben in den wenigen Tagen in Athen mehr über griechische Politik verstan-
den, als in vielen Urlaubs- und Studiumsmonaten. Wir haben politische Freunde gewonnen und uns ein bisschen kennen gelernt.

Berlin, November 1994
Hans-Christian Ströbele


Weltweit auf Ihrer Seite – Die Welt auf Deiner Seite. Festschrift für Hartmut Wächtler zum fünf-
zigsten Geburtstag, München 1994, unpag.

Überraschung

Jahr: 1973
Bereich: Militanz

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