Materialien 1973
Rasse und Raum
KARRIERE
Ein bayrischer Richter wird Neonazi-Führer
„Noch lebt der lichten Asen Blut“, noch gibt es die „vier Grundwahrheiten, aus denen deutsche Kultur als Prägewillen und Prägekraft zu bewahren ist: Rasse, Raum, Religion und Rede“: Zum Beispiel im „Deutschen Kulturwerk Europäischen Geistes e.V., Sitz Lochham bei München.
Ober-Blut-und-Boden-Bewahrer wurde letzte Woche ein Mitglied des höchsten bayerischen Zivilgerichts: Oberstlandesgerichtsrat Karl Günther Stempel aus München. Stempels Prägekraft war schon immer gefragt: 1970 avancierte er vor rund 1.000 Neonazis (darunter Wiking-Bund, Bund Heimattreuer Jugend, Junge Deutsche Akademie) zum Vize-Präsidenten der „Deutschen Akademie für Bildung und Kultur“, einer Unterorganisation des „Kulturwerkes“.
Akademie-Präsident wurde damals der 1971 verstorbene Herbert Böhme, ein bekannter Mann: SA-Hauptsturmführer, Mitglied des SA-Kulturkreises, Referent der obersten SA-Führung und Nazi-Dichter. Werke: „Rufe in das Reich“, „Schriftenreihe junges Volk“, „Rufe der SA, ein Appell in Liedern“. Nach dem Krieg sang er weiter: „Dich singe ich, Vaterland.“ Und „in größter Notzeit unseres Volkes“ gründete er im Mai 1950 „als ein Treuebekenntnis zur Wesensart unseres Volkes“ das „Deutsche Kulturwerk Europäischen Geistes“, Mitglied „des „„Arbeitskreises volkstreuer Verbände“.
Selbst Bonns Verfassungsschützer, deren rechtes Auge oft an Netzhautverschleierung leidet, wurden langsam aufmerksam: Im neuesten BVS-Bericht wird das Stempel-Kulturwerk – mit 3.500 Mitgliedern der zweitstärkste Verband nach der NPD – unter „neonazistische Vereinigungen“ eingereiht. Und wie 1943 tragen sie noch heute „die Fahne durch das Grauen, fragten nicht und wussten kaum warum“. Sie folgen, „weil die Herzen herrisch schlagen“, in rund 70 „Pflegestätten“ der BRD Leuten wie Gerhard Schumann, dessen „Lied der Kämpfer“ sie singen. Kulturwerks-Ideologe Schumann war 1938 Leiter der Gruppe Schriftsteller in der Reichsschrifttumkammer, Mitarbeiter im SS-Hauptamt und 1944 Freiwilliger bei der Waffen-SS.
Dies alles scheint der bayerischen Staatsregierung „nicht bekannt“. So jedenfalls Wolfgang Bouska, Pressereferent im Innenministerium. Der Sprecher des Justizministeriums, Böttcher, indes gibt „grundsätzlich am Telefon keine Auskunft, sondern nur auf schriftliche Anfragen“. Und der neue Kulturwerks-Präsident Stempel selber kann die Frage, ob er die Tätigkeit in einer antidemokratischen Vereinigung mit seinem Beamteneid vereinbaren kann, „aus Zeitgründen“ nicht beantworten.
konkret. Monatszeitung für Politik und Kultur 3 vom 11. Januar 1973, 10 f.