Materialien 1974

Tja, so ist das ... Wege zur Menschenkenntnis

Ob man nun das Kursbuch liest oder eine Illustrierte, allenthalben wird deutlich, dass eine Verän-
derung unserer emotionalen Grundstrukturen im Gange ist oder jedenfalls heraufbeschworen wird. Angefangen mit vielfältigen Analysen und Ratschlägen die Sexualität betreffend – für jede Bewusstseinslage und jeden Geschmack (was übrigens auch eine Bewusstseinsfrage ist) – bis hin zur Erziehung, wird der zwischenmenschliche Bereich auf eine Weise in den Mittelpunkt des In-
teresses gerückt wie nie zuvor – und den verschiedenen Lagern zur Weiterverwendung in die Schuhe geschoben.

Was heißt das? Wem nützt das? Oder besser gefragt: Ist das ein gesteuerter Emanzipationstrend oder der hilflose Versuch, ein aufgeplatztes Geschwür den Bedürfnissen der Produktion nutzbar zu machen und neue Zwänge in schicker Verkleidung als Menschenrechte zu verkaufen?

Der Trend, die menschlichen Beziehungen mal aufs Korn zu nehmen, ging von der Studentenbe-
wegung aus. Die haben sich das nicht ausgedacht, sondern sie sahen sich gezwungen mit der Ein-
übung neuer Beziehungstechniken anzufangen, weil sie die alten nicht mehr brauchen konnten: Da war zu viel kaputt gegangen. Der Bereich, der bislang den Klatschspalten erlaubt und der weibli-
chen Mentalität zugesprochen worden war, wurde ein legitimer und notwendiger Bestandteil von Kommunikation, eine hervorragende soziale Zielrichtung.

Die psychoanalytischen Erkenntnisse waren in ihrer politischen Aussage eine wirksame Emanzipa-
tionshilfe: Das Schicksal eines Menschen ist nicht allein von seiner Tüchtigkeit oder von seinem Glück abhängig, sondern wird im gruppendynamischen Prozess einer Gesellschaft von den ver-
schiedensten Faktoren bestimmt. Das ist eine sehr abstrakte Aussage für das, was da wirklich pas-
siert: Du musst, du sollst, du darfst nicht! (Da muss einer schon aalglatt sein oder eine Elefanten-
haut haben!) Jetzt sieht das jedenfalls so aus: Nach dem Zusammenbruch der antiautoritären Pha-
se und der Revolutionseuphorie, die als Initialzündung durchaus notwendig waren, haben sich die verschiedenen Lager herausgebildet, die auf ihre Weise weitermachen. Ich will jetzt nicht die be-
rühmte Spaltung der Linken bejammern, sondern die verschiedenen Lager doch auch als Einheit – wenn auch nur als Gegensatz zur Macht der großen Institutionen – betrachten. Da braut sich doch in den großen Städten, wo nicht jeder von jedem bewacht und antikonformes Verhalten nicht so-
fort an den Pranger gestellt werden kann, ne ganze Menge zusammen.

Die Abkömmlinge der Studentenbewegung haben sich an die mühsame, wenig spektakuläre und nervenaufreibende Kleinarbeit gemacht, eine realitätsgerechte und wirksame Grundlage zu einer allmählichen Veränderung zu schaffen. Sie arbeiten in Arbeitskreisen, in Selbsterfahrungs- und Basisgruppen und vermitteln das Bewusstsein von der Abhängigkeit der Person und des persön-
lichen Schicksals von den politischen Zusammenhängen und Strömungen und sie üben Solidarität. Sie streiten sich um jeden Dreck, sie bekämpfen sich sogar. Aber das ist auch ein Weg, der zu-
nächst notwendig ist, um zu formulieren, zu filtern, Aktivitäten zu provozieren und um im Laufe der Auseinandersetzungen zu brauchbaren Analysen zu kommen. Sie sehen ihr Sexualleben zum Beispiel nicht mehr als isolierten Intimbereich, sondern als allen Menschen gemeinsamen Pro-
blemkomplex, der auch gemeinsam gelöst werden muss. Die Erziehung der Kinder ist als ein be-
sonders wichtiger Aspekt begriffen worden, nicht nur weil Kinder die zukünftigen Erwachsenen, Initiatoren und was immer sind, sondern auch, weil über Kinder eine gezielte Elternarbeit statt-
finden kann. Mit der nun allerorts angeschnittenen Autoritätsfrage, mit der Frage nach den Ur-
sachen von Neurosen, Psychosen, Lern- und Erziehungsschwierigkeiten ist der Emanzipationsba-
zillus bis in die Kinderwägen vorgedrungen. Auf dem Land und in den kleinen Städten herrschen in den mühsam aufrechterhaltenen Familienhierarchien noch „Ordnung und Sitte“, die Ehen sind scheinbar intakt, der Vater bestimmt die Mutter, die Mutter bestimmt die Kinder, jeder hat seinen Platz an seiner vorgeschriebenen Stelle, aber selbst dort sind Erziehungsberatungsstellen auf ein-
mal gefragt. Es lässt sich einfach auf die Dauer nicht verheimlichen, dass auch dort die Kacke am Dampfen ist. Die plump-naiven Artikel in der Abendzeitung oder einer Illustrierten „Der vergewal-
tigte Sex“ oder „Habe ich ein Anrecht auf Liebe?“ mischen kräftig mit. Da werden Tabus aufgeris-
sen, da fühlen sich die Leute natürlich angesprochen, da sind sie empfindlich. Erfolg: Man redet „offener“ miteinander. Zuerst nur in Ansätzen, aber viele Ansätze helfen irgend wann mal über das Stolpern hinaus.

Wie wird das aber gelenkt? Da werden pauschale und oberflächliche Analysen geliefert und die Schuldfrage lautet: allgemeine menschliche Schwächen. Jetzt darf man schon mal Schwächen ha-
ben, besonders, was die Sexualität angeht, wird ein Auge zugedrückt. Aber die Frage, was sind eigentlich „Schwächen“ und was ist an den Gesetzen und Geboten so falsch, dass sie nicht einge-
halten werden können, wird nicht gestellt. Frage: Bedeutet das Emanzipation oder Unterdrük-
kung? Man versucht zwar mit einem Massenmörder Verständnis zu haben: Er hatte eine miserable Jugend! Dafür sind aber nur seine Eltern oder ein paar Lehrer, ansonsten das Schicksal verant-
wortlich. Die einzelnen Phänomene werden prinzipiell gesondert beobachtet und behandelt und nicht im Zusammenhang mit der ökonomischen und ideologischen Situation, denn das wäre ge-
fährlich!

Was hat sich nun verändert? Wie sehen die Beziehungen aus? Worauf gründen sich unsere Gefüh-
le? Fest steht, dass immer mehr Leute in Wohngemeinschaften leben wollen, dass immer mehr Leute ihr Potential an Vertrauen auf eine Gruppe verteilen statt auf einen einzelnen Menschen, dass immer mehr Leute begriffen haben, dass sie ihre Probleme miteinander besprechen müssen, dass sie überhaupt Probleme haben, dass der zwischenmenschliche Bereich kein Ressort für Wei-
bergewäsch ist, sondern mindestens ebenso wichtig und gravierend wie der Beruf, dass die Kinder unter solchen Leuten mehr Wirklichkeit erfahren, weil ihnen weniger vorgemacht wird, dass das ein harter aber vielleicht doch lohnender Weg ist und auf jeden Fall besser, als weiter unter sprachloser Depression dem Ende des politischen und ökologischen Massakers entgegenzudäm-
mern. Mächtige Institutionen verteidigen ihre Basis. Die Angst vor Innen scheint ihnen inzwischen größer zu sein als die Angst vor Außen. Was anderes bedeuten die Maßnahmen eines ständig wach-
senden Polizeiapparats? Für wie stark halten die uns eigentlich? Wie stark sind wir? Druck erzeugt Druck. Wie dieser Krieg ausgeht, ist schwer vorherzusagen, es wird sicher zu einem nicht unwe-
sentlichen Teil von unserer Klugheit abhängen.

Inge Heinrichs


Blatt. Stadtzeitung für München 29 vom 20. September 1974, 6 f.