Materialien 1973
„Wenn die Mächte Euch zerbrechen, dann zerbrecht, was Euch zerbricht“
Unser Plattentipp
In unserer seit Jahrhunderten unveränderten Hoftheaterlandschaft löste das Erscheinen des Kollektivs Rote Rübe ein kleines Erdbeben aus. Eine Gruppe von Schauspielschülern der berühmten Otto-Falckenberg-Schule in München bricht aus der traditionellen Theaterkarriere aus, lehnt sich gegen die althergebrachten Strukturen – Intendant-Regisseur-Star – auf und beschließt fortan gemeinsam zu leben, zu arbeiten, zu schreiben, zu spielen. Das Theater – die Götterwelt wird entzaubert, die Kothurne landen auf dem Scheiterhaufen.
Nach dem Aufbruch und dem Auszug aus der Falckenberg-Schule sucht sich die Gruppe ein Haus in Grünwald, praktiziert Gruppendynamik, betreibt eine systematische politische Schulung und macht sich Gedanken über ein Zielgruppentheater, d.h. los von der Starrolle des Schauspielers und Basisarbeit mit den potentiellen Zuschauern. Der Name „Rote Rübe“ ist dabei weder Zufall noch Gag, sondern basiert auf einem alten chinesischen Märchen: Ein Kind versucht eine rote Rübe aus dem Boden zu ziehen und schafft es nicht. Als drei Kinder daran ziehen, bewegt sich die rote Rübe. Und als sie dann zu zehnt ziehen, geht die Rübe raus.
Im Frühjahr 1973 kommt die erste Eigenproduktion des Kollektivs heraus: „Prometheus“, im Sommer 1973 bringen die Frauen des Kollektivs die Abtreibungsrevue „Frauenpower“ heraus. Nach der Teilnahm an den Ruhrfestspielen und Gastspielen im Ausland hat sich das Kollektiv Rote Rübe durchgesetzt, d.h. im Ausland fragt man nach weiteren Auftritten und im Inland versucht man mit allen Mitteln, z.B. durch die Streichung der Zuschüsse aus dem Goethe-Institut die Auftritte zu verhindern. Denn die Rüben sind unbequem, sie umschreiben nichts, sie mildern nicht durch Abstrahierung, sie sagen „Terror“, wenn irgendwo Terror herrscht, z.B. in Chile und scheuen sich auch nicht, die Namen der Firmen zu nennen, die diesen Terror finanzieren.
So etwas hört man nicht gerne in Deutschland und sehen möchte man es schon gar nicht, vor allem nicht, wenn z.B. die Roten Rüben auf einer Veranstaltung über Unterdrückung und Widerstand in Chile auftreten. Und der Kardinal Döpfner, an dessen Portalen sich der Unmut des Volkes über seinen Boss in Rom mehrfach niederschlug, hört natürlich den Ruf „Haut den Pfaffen eins auf’s Maul!“ auch nicht gerade gern. Gerade das Stück „Frauenpower“, das von den Frauen des Kollektivs in zwei Wochen geschrieben und dann gemeinsam eingeübt wurde, hatte für das Kollektiv eine besondere Bedeutung. Das Stück war eine Reaktion der Frauen auf die Demonstration gegen eine Reform des § 218, bei der die Polizei Gegendemonstranten verhaftete und stundenlang festhielt. Es war aber auch ein Akt der Befreiung der Frauen innerhalb des Kollektivs, ein Stück Emanzipationsgeschichte des Kollektivs Rote Rübe.
Nun hat das Kollektiv Rote Rübe im Zusammenarbeit mit dem Trikont-Verlag eine Auswahl aus seinen Stücken als Doppelalbum herausgegeben: Kollektiv Rote Rübe presents: Lieder und Scenenausschnitte aus: „Bravo-Bravo“, „Frauenpower“, „Terror“ und „Viva Italia“. Doppel LP, Trikont-Verlag, Best.-Nr. US 14/ I 86, DM 25. Zweifelsohne handelt es sich um eine der besten Platten, die der Trikont-Verlag je herausgegeben hat, auch in der Aufnahmetechnik und der Ausstattung; im beigefügten Textheft findet man eine Selbstdarstellung des Kollektivs.
Natürlich kann eine Platte niemals eine Theatervorstellung ersetzen und schon gar nicht Stücke des Kollektivs Rote Rübe, das stets eine Mischung aus Theater, Kabarett und Rockveranstaltung demonstrieren und mitunter an Comic Strips und Fotoromane erinnern. Hinzu kommen die weißgeschminkten, maskenhaften Gesichter und dann die totale Aufhebung der Barriere zwischen Bühne und Zuschauerraum, indem sie den ganzen Raum und die Zuschauer mit in die Handlung einbeziehen, d.h. zu „Betroffenen“ machen. All das muss man gesehen haben, um zu verstehen, was sie meinen, wenn sie sagen:
„Wenn wir im offiziellen Theater spielen, können wir im besten Fall den Tod der Bourgeoisie feiern, das interessiert uns nicht. Wir wollen einer anderen Klasse helfen, die Macht zu übernehmen.“
Und so lautet auch der Schlußsong aus „Terror“:
Wenn die Mächte euch zerbrechen,
dann zerbrecht, was euch zerbricht,
wartet nicht auf bess’re Zeiten,
denn von selbst kommen die nicht.
Bess’re Zeiten muss man machen,
denn sonst haben sie nur die,
die sie sowieso schon haben,
und die schenken sie euch nie.
Und solang in diesem Staate,
der nur gilt, der etwas hat,
drückt man die, die nie was haben,
an die Wand und setzt sie matt.
Peter Schult
Blatt. Stadtzeitung für München 69 vom 7. Mai 1976, 17.