Materialien 1974

Die Maßnahmen der Parteiführung nach der Niederlage

Hans Preißinger, Vorsitzender der SPD-Stadtratsfraktion, forderte noch in der Wahlnacht: „Gewis-
se Leute muss man jetzt kalt stellen …“ Und Münchens OB Kronawitter bemerkte schriftlich und bündig, dass die Bürger sich keine linke Ideologie aufzwingen oder einreden ließen. Ähnlich das bayer. SPD-Präsidium, das von verfehlten Klassenkampftönen sprach und vieles mehr.

Die entscheidende Formierung fand mit der Einsetzung einer kommission zur Untersuchung des Wahlergebnisses statt (sogen. Schlichtungskommission). Die Kommission bestand aus den Vertre-
tern des Landesvorstandes, des Bezirksvorstands Südbayern, der Münchner SPD und der Stadt-
ratsfraktion. Sie war mehrheitlich mit rechten Vertretern besetzt. Die Kommission bestimmte zunächst den politischen Kurs der Partei:

 keine Klassen-, sondern Volkspartei,
 Garantie des Eigentums an Grund und Boden,
 keine Aktionen gegen Organe, die von der Partei besetzt sind (solange die SPD an der Regierung ist also praktisch gar keine),
 loyale Unterstützung der Gesamtpartei,
 Unabhängigkeit der Stadtratsfraktion innerhalb des Handlungsspielraums, den jedes parlamen-
tarische Gremium braucht.

Fast wichtiger als die somit verfügte politische Richtung, die einer mehrjährigen Diskussion inner-
halb der Partei ein gewaltsames Ende zu setzen versucht, war der tiefgreifende Eingriff in den for-
mal-demokratischen Aufbau der Partei. Ein von oben eingesetztes Gremium bestimmt unter dem verschämten Mantel der „Aufforderung“ gegenüber einer Parteigliederung, die vor zwei Jahren mit einer linken Mehrheit von dreivierteln ihren Vorstand wählte, dass

 die Vorstandswahlen zum UB München um ein Jahr vorgezogen und im Frühjahr 75 stattfinden sollten,
 nur Kandidaten zu benennen seien, die den oben verfügten Kurs bejahten,
 der UB Parteitag um die Hälfte seinerMitglieder verringert würde. (Letzteres erleichtert die ad-
ministrative Herstellung von Mehrheitsverhältnissen.)

Der Vorstand der Münchner SPD nahm das „Kommissionspapier zustimmend zur Kenntnis“. Da ihm zum Protest nichts weiter zur Verfügung stand, musste er sich gegen seine Entmachtung mit dem „Grundgesetz“ wehren. Der Vorstand beruft sich auf die Meinungsfreiheit des Art. 5 und an die zwingende „Vorschrift, dass die innere Ordnung einer Partei demokratischen Grundsätzen entsprechen muss“ (Art. 21).

Der Spruch der Schlichtungskommission stellt einen Eingriff in die formaldemokratische Willens-
bildung der Partei dar. Er verfügt, was sich im demokratischen Verfahren nicht hatte erreichen lassen.1 Dabei ist zu beachten, dass die bisherigen Auseinandersetzungen der Flügel vom Boden der bürgerlichen Demokratie und ihrer Erhaltung aus geführt werden.

Man muss noch zwei Dinge hinzunehmen.

Nämlich die Einsetzung einer „Konfliktkommission“ durch die Schlichtungskommission und den Spruch der Bundesschiedskommission zur Stellung der SPD-Arbeitsgemeinschaften, um die da-
hinter liegende Tendenz zu sehen.

Die Konfliktkommission soll „anhand einer Vorausschau möglicher Konflikte vorbeugend ein-
greifen und vermitteln sowie in Eilfällen ein Ausbrechen öffentlichen Streits unter den Genossen _unterbinden_“ (Hervorhebung des Verfassers). Sie besteht aus drei Rechten und zwei Linken.

Konflikte, das zeigt gerade der UB München, sind das tägliche Brot der Partei. Hier wird nun ein von niemanden gewähltes und kontrolliertes Organ geschaffen, das als Überwachungsinstanz fungiert und mit den Weihen des „Schiedsrichters“ einen ganzen Bezirk mundtot machen kann. Es handelt sich hier um nichts anderes als um eine Zwangsschlichtung im politischen Bereich. Das zweite ist der Spruch der Bundesschiedskommission, ergangen am 13. November 1974 auf Antrag des Bezirks Franken mit klarem Blick auf den UB München. Danach erhalten die Vorstände auf allen Ebenen das Recht, „Erklärungen und Handlungen“ von Arbeitsgemeinschaften (vor allem Jusos) und deren Funktionäre zu untersagen

Damit Einvernehmen in der Öffentlichkeitsarbeit hergestellt werden kann, dürfen sie die Funk-
tionäre von der Arbeitsgemeinschaft abberufen. Ein innerparteiliches Rechtsmittel ist dagegen nicht gegeben Die administrative Herrschaft der Parteibürokratie wird vergrößert und es werden in Form der Konfliktsfeuerwehr Ausnahmegerichte geschaffen, die ungeachtet demokratischer Förm-
lichkeiten die Parteilinie von oben herstellen sollen.

Der ideologisch links stehende Flügel hat dabei sicherlich keine lange Bleibe mehr, es sei denn, er unterwerfe sich noch mehr als bisher sozialdemokratischem Parteistatut: „Die oben dürfen han-
deln, die unten dürfen reden.“

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1 Die Münchner SPD-Linken gaben die Zustimmung zu ihrer eigenen Maßregelung. Mit einer Zweidrittel-Mehrheit wurde das Schlichtungspapier vom SPD-Unterbezirksparteitag angenommen.


Arbeiterpolitik. Informationsbriefe der Gruppe Arbeiterpolitik 6 vom 22. Dezember 1974, 7 f.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: SPD

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