Materialien 1975

Religionszwang statt Kunst

Jahrgangsstufen I a – d
des Münchenkollegs
8 München 90, den 17.10.1975
Am Staudengarten

Kollegiaten-Ausschuss
des Münchenkollegs

Über das Schulreferat der Landeshauptstadt München
vertreten durch den Leiter des Münchenkollegs
Herrn OstDir. J. Maisch
an den Herrn
Staatsminister für Unterricht und Kultus
8 München 2
Salvatorplatz

Betreff: Religions- und Ethikunterricht an Kollegs

Sehr geehrter Herr Staatsminister!

Die Kollegiaten der I. Jahrgangsstufe des Münchenkollegs – in Zusammenarbeit mit der Schüler-
vertretung – wenden sich hiermit gegen die Einführung des Faches Religion bzw. Ethik als Pflicht- und Vorrückungsfach. Wir sprechen uns stattdessen für die Beibehaltung der musischen Fächer (Kunst und Musik) in der bisherigen Form aus.

Dies begründen wir wie folgt:

1. Das in der Bayerischen Verfassung fixierte Bildungsziel, „Ehrfurcht vor Gott und religiöser Überzeugung“, rechtfertigt zwar das Fach Religionserziehung, bietet jedoch keine Grundlage für das Fach Ethik, das nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung eingeführt wurde.

Geistige und sittliche Reife sind bereits bei der Zulassung zur Aufnahmeprüfung vorausgesetzt worden, das heißt, religiöse und ethische Anschauungen sind weitgehend gefestigt (im Merkblatt des Münchenkollegs, das unserer Anmeldung ausschließlich zugrundelag, hieß es auch: „in Stoff-
auswahl und Lehrmethoden wird der Lebensreife und Berufserfahrung der Kollegiaten Rechnung getragen“). Weiter lässt sich die Durchführung des Unterrichtsfaches Religionserziehung mit dem Anspruch des Grundgesetzes auf religiöse Freiheit nicht vereinbaren.

Ein verschwindend geringer Prozentsatz entschied sich für das Fach Religionserziehung.

2. Kulturelle und musische Bildung stellt einen wichtigen Bestandteil der allgemeinen Hochschul-
reife dar und ist für das Verständnis von Gegenwart und Geschichte sowie für eine umfassende Persönlichkeitsentfaltung unerlässlich.

3. Im Merkblatt des Münchenkollegs zur Anmeldung fehlte jeglicher Hinweis auf die Möglichkeit des Religions- und Ethikunterrichts. Stattdessen war ein musisches Wahlpflichtfach ausgewiesen.

4. Die EBASchOKoll trat am 1.8.1975 in Kraft, während die Veröffentlichung erst am 2.10.1975 erfolgte. Alle derzeitigen Kollegiaten der I. Jahrgangsstufe haben die Aufnahmeprüfung ohne Kenntnis der nun erfolgten Änderungen abgelegt und sind folglich hintergangen worden.

5. Wir betrachten die Einführung des Religions- und Ethikunterrichts als zusätzliche Belastung, die eine verschärfte Auslese während der Kollegzeit bewirken kann.

Unter Berücksichtigung der Dringlichkeit unseres Anliegens erwarten wir Ihre Stellungnahme bis 30.10.1975.

Ansonsten sehen wir uns gezwungen, weitere Schritte einzuleiten.

Anlagen

Hochachtungsvoll
gez. Ute Pfannstiel
für den Kollegiaten-Ausschuss
gez. lngrid Klier
im Auftrag der I. Jahrgangsstufe

PS: Die Kollegiaten der I. Jahrgangsstufe des München-Kollegs haben vom 10. bis 13. November 1975 den Religions- bzw. Ethikunterricht nicht besucht, sondern sich im Gang versammelt.

Am München-Kolleg (alle Kollegiaten sind Erwachsene) wurde Religionserziehung bzw. Ethik als Pflicht- und Vorrückungsfach eingeführt; dafür wurde der Musik- und Kunstunterricht in den Be-
reich der Wahlfächer verwiesen.

Mit dieser Protestaktion zum Unterrichtsbeginn reagierten die Kollegiaten auf die Gleichgültigkeit, mit der ihrem Brief von seiten des Kultusministeriums und der damit verbundenen Unterschrif-
tensammlung begegnet worden war. Mit diesem demonstrativen Verhalten soll das Kultusmini-
sterium zu einem baldigen Antwortschreiben veranlasst werden.


kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 1/1976, 168 f.

Überraschung

Jahr: 1975
Bereich: Religion

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