Materialien 1975

Interview mit Franz Xaver Kroetz

Anatol: Im „Nest“, wie auch in all diesen anderen Theaterstücken agieren durch die Bank die ‚ein-
fachen Leute’, das Proletariat. Mir fällt auf, dass Du Dich nicht, wie viele Kulturproduzenten über diese einfachen Leute stellst, sondern dass Du versuchst, Ihr Sprachrohr zu sein. Bist Du nun über die theoretische Beschäftigung mit gesellschaftlichen Vorgängen, über eine allmählich entwickelte politische Ansicht dazu gelangt?

Kroetz: Nein, nein, nicht über politische Ansichten. Erstmal stamm ich selbst aus dem kleinbürger-
lichen Milieu – mein Vater war kleiner Beamter, was meine Verwandtschaft angeht, das sind Bau-
ern, Omnibusfahrer, Lokomotivführer – vielleicht mal ein Zahntechniker darunter. Ursprünglich wollte ich Schauspieler werden, hab den Beruf auch gelernt. – Es hat aber einfach nicht geklappt … Aber durch das Zerbrechen dieses kleinbürgerlichen Traumes vom Schauspieler – durch die Tatsa-
che, dass ich stattdessen 1965 am Arbeitsamt eine bekannte Figur war, dass ich in der Großmarkt-
halle zusammen mit vielleicht zwanzig Clochards in einem Boot saß, absolvierte ich eine gründli-
che proletarisch-lumpenproletarische Schule. Und so kam wahrscheinlich – glaub ich heute durch die eigene Situation, die immer beschissener war, die immer schlimmer, dreckiger wurde, das Be-
obachten der Leute, denen es tagtäglich, das ganze Leben lang, ebenso geht, wie mir damals. Und damit kam auch das Interesse für diese Menschen.

Anatol: Gut, inzwischen ist es Dir gelungen, durch deine Schreibereien einen beträchtlichen Marktwert im hiesigen Kulturbetrieb zu erlangen. Wenn man von Theater spricht, spricht man auch bald vom Kroetz. „Man“ – das sind jene fünf Prozent der Bevölkerung, die ins Theater gehen – und das sind wohl nicht gerade die Leute, für die Du in erster Linie Deine Stücke schreibst.

Kroetz: Stimmt. Weißt Du, ich bin Pragmatiker. Als Schriftsteller, der im positiven Sinn mit der Gesellschaft etwas zu tun haben will, der was erreichen will, ein gesellschaftliches Anliegen durchsetzen will, habe ich mir nun einmal diesen Weg ausgesucht. Dass man in irgendeinem größeren Theaterstudio das erstemal eine Uraufführung machen kann – das ist immer noch der übliche und der normale Weg. Anschließend erst meldet sich das Hörspielstudio, lange Zeit später meldet sich das Fernsehen und noch längere Zeit später kann man einen Film machen. Es hat für mich keinen Sinn, wenn man, um völlig unbescholten zu bleiben, sagt: nein; ich lass meine Stücke nicht in den elitären Kammerspielen laufen. Dann werde ich nie erreichen, dass meine Stücke eines Tages im Fernsehen um 20 Uhr 15 gesendet werden – und die Leute erreichen, von denen ich schreibe, für die ich schreibe. Dann wäre mein Anliegen, dein Versuch, als Schriftsteller einer brei-
ten Bevölkerung etwas zu vermitteln für die Katz. Und ich bin eigentlich immer noch der Meinung, dass Theater eine hervorragende Möglichkeit ist, um das eigene Handwerk immer wieder zu über-
prüfen. Klar: Theater kann nicht der Selbstzweck eines Schriftstellers sein, wie ich mich verstehe. – Auch klar: Dieser Theaterbetrieb hier bei uns – der ist korrupt, das ist ein Problem. Aber da muss man stärker werden, dann kann man auch andere junge Leute nachziehen.

Anatol: Jetzt zum „Nest“, zu Deinem neuesten Stück, das jetzt gerade im Modernen Theater urauf-
geführt wird.

Kroetz: Das „Nest“ ist ein Stück, das ich mit ganz gutem Gewissen im Fernsehen sehen würde, weil das eigentlich ein Lehrstück ist, weil es etwas zu verstehen, etwas zu diskutieren gibt.

Dieser erste Beginn eines Menschen von einem dressierten Affen zu einem, der sagt „Ich mach nicht mehr mit“, ich probiere diesen Kampf, ich nehme den Kampf auf, ein ordentlicher Mensch zu werden im proletarischen Sinn …

Das ist doch eigentlich das erste Stück, in dem du nicht erzählst: „So ist es“ – sondern in dem du sagst: „So kann man’s machen.“ Ja. Nun, die Realität mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Verzwicktheiten möglichst genau darzustellen ist wahnsinnig schwer. Nun dieser Realität noch eine ebenso genaue und mögliche Perspektive dazuzusetzen – das ist sehr, sehr schwer.

Anatol: Nun, in Deinem „Nest“ kommt ja der Lastkraftfahrer nicht selbst auf die Idee, diesen Ge-
sellschaftskampf aufzunehmen, sondern er wird dazu aufgrund verschiedener Schicksalsschläge getrieben.

Kroetz: Stimmt. Gestoßen wird er eigentlich, indem er sein Kind beinahe umbringt, nur damit er’s seinem Chef recht machen kann, – ohne dass er es selbst merkt.

Um diesen festen harten Menschen dazu zu bringen, sich selbst zu bewegen, wars für mich nötig, eine derartige griechisch-tragische Schicksalshaftigkeit zu verwenden. – Das ist das eine. Und dass er sich dann gewerkschaftlich organisiert und sagt: Ich zeig mich an, weil ich, unwissend zwar, aber dennoch mit dem Chef zusammen ein Verbrechen ausgeführt habe, – nämlich den Badeteich mit Giftabfällen so gefährlich zu machen dass er eine Lebensgefahr bedeutet, für die die drin baden … das ist der entscheidende Schritt.

Dass er sich dann gewerkschaftlich organisieren wird oder eigentlich muss, das ist absolut sekun-
där … Das ist eigentlich nur die logische Fortsetzung des Stücks. Entscheidend für den Werdegang dieses Transportarbeiters ist die Entwicklung, die er aufgrund seiner harten äußeren Situationen durchmachen muss.

Anatol: Was mir an diesem Stück besonders auffällt, ist, dass Du sehr genau aufzeigst, wie eigent-
lich täglicher Faschismus funktioniert: Ein Arbeiter, der, mit der allergrößten Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, blind die Befehle seines Herren ausführt und dadurch – oberflächlich gesehen – durch und durch bösartig und gemeingefährlich handelt.

Kroetz: Ja. Der Weg, wie jemand zu einer letztlich faschistischen Haltung kommt – und gerade wenn er ein braver, ehrlicher aufrechter kleiner Mann ist … diesen Weg ganz genau aufzuzeigen, habe ich versucht. Einer, der in die Volksschule geht, in die Kommunion geht, zwischen Beruf und Bildzeitung lebt – der sein ganzes Leben lang die absolute Treue gelernt hat diesen Einrichtungen gegenüber … Ja Entschuldigung! … Wie soll denn ein solcher wissen, wie er diesem ganzen so mir nichts Dir nichts entkommen kann? Daraus kann eigentlich nur einer ausbrechen aufgrund ganz einschneidender Erlebnisse. Dass es ihm meinetwegen an den Kragen geht – oder seinem Kind, wie im Stück. Und die Frage, wie man da in der realen Gesellschaft anpacken kann, wie man da was verändern kann, das ist eine Lebensfrage. Das kann man nur mit einer ungeheuren Genauig-
keit, mit Ehrlichkeit, mit gegenseitiger Hilfe und mit einer unheimlichen Geduld, wenn Du so willst, mit revolutionärer Geduld erreichen: Ich als Schriftsteller in meinen Stücken, der Siemens-
arbeiter im Betrieb, die Hausfrau in ihrer Nachbarschaft.


Blatt. Stadtzeitung für München 52 vom 29. August 1975, 9.

Überraschung

Jahr: 1975
Bereich: Kunst/Kultur

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