Flusslandschaft 1975

Kunst/Kultur

AKTIONSKUNST

„Der Vorarlberger FLATZ zog nach einer Goldschmiedelehre und ersten Aktionen 1974/75 nach München. Hier begann er ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste. Im Juli 1975 lag er im Windfang des Hauptportals dieser Institution, versteckt in einem aus zwei Teppichen gebilde-
ten Sack. Ein Video dokumentiert, wie Professoren und Studenten auf diese Barriere reagierten: Einige stiegen nicht über das Hindernis, sondern darauf und belasteten den versteckten Akteur mit ihrem vollen Körpergewicht. Auf Schmerzen reagierte FLATZ mit einem ‚schrillen Pfiff‘. FLATZ´ Plan, während der Öffnungszeit eines Tages im Sack zu bleiben, wurde nach drei Stunden unter-
brochen, da der Sack ohne Rücksicht auf seinen Inhalt beiseite gezogen wurde.“1

MUSIK

Viele glauben, dass erst in den achtziger Jahren die Neue Deutsche Welle der Vorherrschaft anglo-
amerikanischer Bands etwas entgegenzusetzen hat. In der bayrischen Landeshauptstadt beginnen schon viel früher neue Bands gegen konfektionierte Unterhaltungsmusik anzuspielen. Sie verwen-
den auch noch bayrische Texte!2

THEATER

Am 3. März stirbt Therese Giehse. „In den Nachrufen der bürgerlichen Zeitungen wird die ‚großar-
tige Schauspielerin‘, wird ihre Fähigkeit geehrt, mit einfachen Mitteln die widersprüchlichsten Menschen auf die Bühne zu stellen. Auch Bertolt Brecht nannte sie ‚die größte Schauspielerin Europas‘, und das war sie zweifellos auch. Wer könnte ihre ‚Mutter‘ vergessen, diese leidende Pro-
letarierin Pelagea Wlassowa, wie sie die Ursache ihres Elends erkennt und zur bolschewistischen Kämpferin für den Sozialismus wird. Und ihre Brecht-Abende: Stets wurden sie zum unerbittlichen Tribunal über die Verbrechen der Faschisten und Imperialisten. Therese Giehse war eine große Schauspielerin. Was die bürgerlichen Zeitungen jedoch verschweigen:
– Sie war eine unermüdliche Kämpferin gegen die Nazi-Banditen.
– Sie stand auf der Seite der Arbeiterklasse und der ‚kleinen Leute‘.
– Sie trat für den Sozialismus nicht nur mit Worten ein.
Sie selbst sagte einmal: ‚Wer den Sozialismus fordert, muss ihn praktisch auch leben. Das ist ja ge-
rade die Sache: Viele sagen, sie sind für den Sozialismus und den neuen Menschen und leben dabei verschwenderisch wie Kapitalisten. Sie lügen. Sie sind nicht für den Sozialismus, und sie sind auch keine Sozialisten. Sie denken und handeln kapitalistisch – nicht dem Menschen, sondern dem eige-
nen Profit zum Nutzen.‘ Wir ehren Therese Giehse als Künstlerin und Kämpferin für den Sozialis-
mus.“3– Therese Giehses Biografin Monika Sperr4 findet es unerhört, dass einige ältere Herrn für Therese Giehse eine Gedenkfeier anberaumen wollen. In der Abendzeitung schreibt sie: „Jetzt muß sie es sich gefallen lassen“, umarmt zu werden von denen, die „ihr zu Lebzeiten nie nahekommen durften, weil ihr von ihnen grauste: den Kulturbürokraten, Klugschwätzern, Ehrgeizlingen und professionellen Heuchlern.“ Und trotzdem versammeln sich 800 Besucherinnen und Besucher am 22. März zur Gedenkfeier in den Kammerspielen. Hans-Reinhard Müller kündigt die Redner an. Leopold Lindtberg vom Schauspielhaus Zürich spricht. Ein Interview mit Therese Giehse wird eingespielt. Dann spricht Ivan Nagel vom Hamburger Schauspielhaus. Zwischenfilm Giehse, dann spricht Theaterwissenschaftler Ernst Schumacher: „Ich schilderte, wie die Giehse ihren letzten Brecht-abend im berliner ensemble im oktober 1974 gestaltet hatte, wie sie Brechts gedichte und lieder zu einer wirkung brachte, ihre ökonomie der mittel, die schärfe des dahinterstehenden ge-
dankens und nachdenkens, ihre lust am skurrilen, ihren spaß am plebejisch-bajuwarischen. Ich gab ihre beziehungen zu Brecht und zur weigel und zum berliner ensemble wieder, ich bezog mich auf ihren briefwechsel mit den genannten persönlichkeiten, erinnerte daran, daß die Giehse von Brecht die generalintendanz von leipzig angeboten bekam, wie sie darauf reagierte. Dann fragte ich nach den gründen ihrer kunstfertigkeit und suchte sie in der mitwirkenden, bestimmenden ratio-
nalität des emotionalen, in der politisierung, der »vergesellschaftung« ihrer künstlerischen potenz. Ich hob hervor, daß sie sich zeit ihres lebens auf dem linken flügel der gesellschaft engagierte, daß nicht nur ihr herz links schlug, sondern auch ihr kopf links dachte, und daß sie gerade damit das vorbild einer neuen generation von schauspielern bleiben werde. Ich schloß schließlich mit den sätzen aus dem nachruf des BE auf die Giehse, in denen sie als unerschütterliche mitstreiterin Brechts, als unbeugsame antifaschistin bezeichnet wurde und mit meiner persönlichen erinnerung daran, wie sie nach dem tode von Brecht bei mir »ein kommunistisches gedicht« von Brecht abhol-
te, das sie selber nicht besaß, das es aber, da die Kommunistische Partei Deutschlands zur selben zeit wieder einmal verboten worden war, sein sollte, und wie sie dabei auf ihre trockene weise sag-
te: »etwas fehlt halt immer.«“ Schumacher endet seine Rede, indem er die Giehse zitiert: „Wenn’s anders nicht zu machen ist, dann feiert man die widerspenstigen leut’ zu tode. Ich mag solche ge-
denkfeiern nicht. Da kommt der eine und sagt ein versl und der andere kommt und singt ein liedl. Und dann kommt einer, der sagt: Auch ich habe Brecht gekannt.“5 Zwischenfilm Giehse. Dann spricht Paul Verhoeven, der mühsam redet und schließlich zusammenbricht und stirbt. Der Vor-
hang senkt sich. – In Neuperlach wird noch in diesem Jahr die Therese-Giehse-Allee nach ihr be-
nannt, in Unterschleißheim 1995 die Therese-Giehse-Realschule.

Die Münchner Theaterlandschaft ist vielfältig und zeichnet sich gerade in der freien Theaterszene durch aktuelle, politische Neuinszenierungen aus. Im Modernen Theater kommt „Das Nest“ von Franz Xaver Kroetz zur Uraufführung.6

(zuletzt geändert am 22.4.2023)


1 Thomas Dreher, Wiener Aktionismus und Aktionstheater in München, http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/dreheraktion.html#top52

2 Siehe „Bayern Rock“.

3 Kämpfende Kunst. Zeitschrift der Initiative zur Gründung einer Vereinigung sozialistischer Kulturschaffender 3 vom März 1975, Berlin, 23.

4 Monika Sperr, geboren 1943 in Berlin, voluntierte als Journalistin beim Spandauer Volksblatt, 1966 –68 Dramaturgin am Bremer Stadttheater; 1967 Studienaufenthalt am Ostberliner Kinder- und Jugendtheater „Theater der Freundschaft“. Lebt seit 1968 als freie Autorin in München; Mitglied des Weismann-Kollektivs. Veröffentlichungen: „Herr Bertolt Brecht sagt“ (mit Martin Sperr), „Das Demokratieverständnis in unseren Schulbüchern“ (Mitherausgeberin), „Was wir von unseren El-
tern halten“, München 1971.

5 kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 3/1976, 121 ff.

6 Siehe „Interview mit Franz Xaver Kroetz“.