Materialien 1975
Negerkuß-Happening nicht strafbar
Berufungsinstanz spricht vom Amtsgericht Verurteilte frei / Vorfall in Wechselstube
Die 6. Strafkammer beim Landgericht München I gab gestern der Berufung des Elektroingenieurs Manfred Klein und des Studenten Franz Lichtenwimmer gegen das Urteil statt, mit dem ein Schöf-
fengericht die beiden im Januar wegen öffentlicher Billigung von Straftaten verurteilt hatte. Die Angeklagten wurden unter Überbürdung der Kosten beider Instanzen auf die Staatskasse freige-
sprochen.
Die Angeklagten waren laut Anklage am 1. Juli 1975 (1. August? G.G.) – wenige Tage nach zwei Berliner Banküberfällen, bei denen die Täter Negerküsse an die Bankkunden verteilt hatten – in die Wechselstube am Hauptbahnhof gekommen und hatten die dort Anwesenden mit eben solchen Süßigkeiten beschenkt. Die Begründung dieses Tuns stand auf Flugblättern, die sie verteilten und die ihnen zunächst fünf Tage U-Haft und dann die Anklage wegen Billigung von Straftaten ein-
brachte.
Die Blätter enthielten Berichte über die Berliner Überfälle und darunter den Text: „München darf Berlin nicht hinterherhinken. Auch der bayerische Bankkunde darf das Gefühl nicht missen, künf-
tig mit Negerküssen bedient zu werden. Hier eröffne sich eine Möglichkeit, wie jedermann seinen Beitrag zur Kulturpolitik leisten könne. Wenn Sie als Spender anonym bleiben wollen, empfiehlt es sich, vor dem Betreten der Bank einen Seidenstrumpf über den Kopf zu ziehen.“ Am Schluss hieß es: „Wer kein Geld hat, um Negerküsse zu kaufen, sollte obigen Artikel etwas genauer durchlesen. Verantwortl. i. S. d. Pressegesetzes: Bewegung 32. Juli.“
Ein in der Wechselstube tätiger Bankangestellter bekundete, er habe nach dem Lesen des Flugblat-
tes gedacht, es sei eine Gaudi. Sein Gefühl der Rechtssicherheit sei nicht beeinträchtigt gewesen, offensichtlich auch nicht das der Kunden: „De ham de Mohrenköpf g’essn und des Blattl durch-
glesn.“’ Ein oder mehrere Passanten hatten auch eine Bahnpolizeistreife nur aufmerksam gemacht, dass „was los ist“: Die Beamten waren darauf „schnellen Schrittes“ zum Tatort geschritten und hatten festgestellt, dass dort unter den Leuten „keine Aufregung, eher Belustigung“ herrschte. Vorsichtshalber hatten die Ordnungshüter die mutmaßlichen Verteiler aber doch überprüft und zum zuständigen Revier gebracht.
Von allen – auch den beamteten – Zeugen hatte keiner in dem Flugblatt eine Billigung von Straf-
taten gesehen, sondern nur „einen Scherz“, „einen Blödsinn“ oder allenfalls einen groben Unfug. Auch hatte keiner feststellen können, dass durch die Verteilung der öffentliche Frieden gestört worden sei. Die Angeklagten hätten auch bei ihrer Vernehmung zum Ausdruck gebracht, sie hätten sich „nur einen Spaß machen wollen“.
Die Verteidiger Jerzy Montag und Hartmut Wächtler forderten denn auch die Aufhebung des Ersturteils und Freispruch für ihre Mandanten. Es sei schon nicht erwiesen, ob sie und gegeben-
enfalls wer die Flugblätter verteilt habe. Selbst wenn man sie für die Verteiler halte, sei dadurch der öffentliche Frieden nicht gestört worden und damit ein Tatbestandsmerkmal der Billigung von Straftaten somit nicht gegeben. Schließlich könnten sie sich auf den Kunstvorbehalt berufen, da es sich nach dem Gutachten des Literaturprofessors Jörg Drews bei dem Flugblatt um ein „Stück politisch-literarischer Kleinkunst“ handle, dem allenfalls der Vorwurf der Geschmacklosigkeit zu machen sei.
Der Erste Staatsanwalt Dr. Norbert Gehrig forderte dagegen, die Berufung zu verwerfen. Was die Störung des öffentlichen Friedens sei, führte er aus, wisse zwar niemand ganz genau. Wenn aber eine aufsehenerregende Straftat gebilligt werde, so sei dies geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören. Klein meinte in seinem letzten Wort, wenn „der Staatsanwalt in dem Flugblatt eine Billi-
gung sehe, sei das seine Sache. „Ich halte es nicht dafür und fühle mich nicht für die Gehirnwin-
dungen eines anderen verantwortlich.“
Erwin Tochtermann
Süddeutsche Zeitung 263 vom 12. November 1976, 14.