Flusslandschaft 1975

Militanz

Am 27. Februar entführte die „Bewegung 2. Juni“ den Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz. Dieser wurde am 4. März im Austausch gegen inhaftierte Mitglieder verschiedener Stadtguerillagruppen, unter ihnen Rolf Pohle1, ausgetauscht. „Im 41. BLATT wurden einige Hintergrundinformationen um die bedrohliche Informationstaktik der bayerischen Staatsbehörden bei der Lorenz-Entführung zusammengetragen. Wegen der Formulierung ,Beiseite vom Riesenrummel um die bisher glänzend gelungene Befreiung der politischen Gefangenen …’ wurde der für diese Ausgabe verantwortliche Redakteur zu 1.600 DM Geldstrafe – ersatzweise 80 Tage Haft verdonnert. Damals sprach man häufig von der ,technischen Perfektion’ der 2. Juni-Aktion, selbst in Polizeikreisen sagte man ,bil-
derbuchhaft abgelaufen’ und ,wirklich stark und wohlgekonnt’ und ähnliche Sprüche, die im SPIE-
GEL abgedruckt wurden. Laut Begründung des Urteils kreidete der Richter dem BLATT einen ,Ge-
samtzusammenhang’ an, der so unerhört kriminell sei, dass der Verantwortliche dafür eben mit 80 Tagen Gitterblick bestraft werden solle. – Text zum Titelblatt: ‚Wenn du ein Flugzeug zeichnest, das zu lachen scheint (welches Flugzeug lacht schon wirklich?) – bums – hast du – in den rechten Zusammenhang gerückt, eins übergebraten … Kurios ist weiter, dass selbst das Layout (= die An-
ordnung der Bilder und Artikel, die graphische Gesamtgestaltung der Zeitung) nach Ansicht der Staatsanwaltschaft kriminelle Tendenzen hat – und bestraft werden soll.’ (BLATT-Kollektiv)“2

Am 7. April kommt es zu einer Haussuchung bei einem Mitarbeiter des Blatts in der Herzogstraße. Man vermutet die Unterstützung der „Bewegung 2. Juni“.3 – Am 21. Mai beginnen der Prozess gegen Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Die Stimmung ist aufgeheizt. Die bürgerliche Presse strickt an einem Horrorszenario der Bedrohung durch Terroristen.4

5
Franz Gans: Collage um 1975, Papier, 42 × 59 cm, abgebildet in Blatt. Stadtzeitung für München 180 vom 12. September 1980, 15.

Am 1. Juli (1. August?) verteilen zwei bärtige Herren Schokoküsse an die Kundschaft einer Münch-
ner Wechselstube.6

Im Hauptbahnhof soll im September eine Bombe hochgehen. Die Revolutionären Zellen (RZ) dementieren.7

Das Blatt veröffentlichte im Februar ein Gedicht, in dem die MVV-Fahrpreise gegen die Kosten des Fahrpreissystems aufgerechnet wurden.8 Proteste gegen zu hohe Fahrpreise beim öffentlichen Nahverkehr bewirkten nichts. Nicht nur in München wurden neue Sabotage-Methoden auspro-
biert.9

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Ein Comic im Blatt warnt im November eindringlich vor der Beschädigung von Fahrkartenauto-
maten, indem er beschreibt, wie man dieselben beschädigen kann. Es kommt zu Strafanzeigen.11

Am 24. November durchkämmen vierzehn mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizeibeamte be-
gleitet von einem Berliner und zwei Münchner Staatsanwälten fünf Stunden lang den Trikont-Verlag in der Josephsburgstraße 16. Der Anlass ist Bommi Baumanns Buch „Wie alles anfing“, indem er seinen Ausstieg aus der Terroristenszene schildert. Das Buch erscheint in einer Erst-
auflage von 3.000 Exemplaren. Schließlich verschwinden die Beamten mit zwei Lastwägen voller Bücher, unter ihnen dreihundertsechsundvierzig „Bommis“, und mit weiterem Verlagsmaterial, darunter auch das beliebte alternative „Monopoli“-Spiel: „Provopoli – Wem hehört die Stadt?“. Zudem werden auch die Privatwohnungen der Verlagsgeschäftsführer Gisela Erler und Herbert Röttgen durchsucht. Nicht nur der Verband Deutscher Schriftsteller (VDS) protestiert.12 – „Eine weitere lange Anklageschrift existierte wegen ‚Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole’. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft wurde im 58. BLATT mit sträflichen Worten über die auf ganz Deutschland ausgedehnte Beschlagnahmung des Bommi Baumann Buches ‚Wie alles anfing’ und andere Schriften des TRIKONT-Verlages München berichtet. Der Staatsanwaltschaft (rein zufällig derselbe, der die Münchener Beschlagnahme-Aktion geleitet hatte) hatte in einem mehr als 45 Se-
kunden dauernden Blitzplädoyer insgesamt 8.500 DM, ersatzweise 350 Tage aus dem Leben des Angeklagten gefordert.“13 – Am 8. Mai 1976 erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Gisela Erler und Herbert Röttgen wegen „Verherrlichung von Gewalt und Billigung von Straftaten“.14 Am 27. Oktober spricht das Landgericht München I Erler und Röttgen frei.15 Am 9. August 1977 spricht der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Buchverleger in der Revision ebenfalls frei und hebt die Beschlagnahme des Buches auf, was die Münchner Staatsanwaltschaft nicht davon abhält, am 8. Dezember 1977 ein weiteres Mal den Trikont-Verlag, die Wohnung von Gisela Erler und die Basis Buchhandlung in der Adalbertstraße 41b auf der Suche nach Bommis Buch erneut auf den Kopf zu stellen.16 Am 1. Februar 1978 erfolgt ein Urteil, dass die beiden Angeklagten je 1.500 DM Strafe zu zahlen haben.17 Erst am 17. Oktober 1978 hat die Qual ein End: Der Erste Strafsenat des Bundesgerichtshofs spricht die Angeklagten endgültig frei und verwirft die Revision der Staatsan-
waltschaft.18

(zuletzt geändert am 19.12.2020)


1 Pohle wird dafür, dass er beim Austausch auf die vom BKA zugesicherten 120.000 Mark besteht, während das BKA nur 100.000 Mark bereitstellt, am 10. März 1978 zu weiteren drei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt.

2 Monika Döring u.a. (Hg.), Beschlagnahmt, Berlin 1976, 121 f. Siehe auch „Die strafrechtliche Verfolgung politischer Meinungsäußerungen in der Bundesrepublik Deutschland“ von Hartmut Wächtler (1976).

3 Siehe „wieder nichts!“.

4 Siehe „Erster Beitrag zum Thema ‚Gewalt’“ von Peter Schult und „Wie man Anarchisten macht“.

5 Privatsammlung

6 Siehe „Eine Geschichte von Negerküssen und Mohrenköpfen“, „Negerkuß-Happening nicht strafbar“ von Erwin Toch-
termann und „Die strafrechtliche Verfolgung politischer Meinungsäußerungen in der Bundesrepublik Deutschland“ von Hartmut Wächtler (1976)..

7 Siehe „Keine Bombe im Münchner Hauptbahnhof“.

8 Siehe „Herr Kontrolleur“.

9 Siehe „Falsche Karten – flambierte Automaten: Fahrpreiskampf“.

10 Blatt. Stadtzeitung für München 57 vom 14. November 1975, 5.

11 Siehe „Der neuste Rundschlag …“, die „Anklageschrift“, „Gutachten“ von Fritz Weigle und „Die strafrechtliche Verfolgung politischer Meinungsäußerungen in der Bundesrepublik Deutschland“ von Hartmut Wächtler (1976).

12 Siehe „‚Bommi’ Baumann: Wie alles anfing – Zur Beschlagnahme eines Romans“ und „Erklärung zu Bommi Baumann“.

13 Monika Döring u.a. (Hg.), Beschlagnahmt, Berlin 1976. 122.

14 Siehe „Reden vor Gericht“ von Gisela Erler und Herbert Röttgen. Vgl. die Solidaritätserklärung von Arno Münster, Regis Debray, Daniel Guerin, Nicos Poulantzas und Charles Bettelheim in: Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten ID 148 vom 23. Oktober 1976.

15 Vgl. Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten ID 149 vom 30. Oktober 1976, 162 vom 29. Januar 1977 und 186 vom 16. Juli 1977.

16 Vgl. Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten ID 207 vom 10. Dezember 1977, 208 vom 12. De-
zember 1977 und 216 vom 11. Februar 1978.

17 Siehe „Baumann-Buch freigegeben und die Verleger verurteilt“ von Jürgen Arnold.

18 Vgl. Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten ID 252 vom 21. Oktober 1978. Siehe auch „Die strafrechtliche Verfolgung politischer Meinungsäußerungen in der Bundesrepublik Deutschland“ von Hartmut Wächtler (1976).