Materialien 1975

Reden vor Gericht

Ich glaube, wir haben im Prozessverlauf nicht nur deutlich gemacht, dass wir uns im Sinn der An-
klage für unschuldig halten, sondern auch, dass eine Verurteilung dem gesunden Menschenver-
stand ebenso wie dem außerjuristischen Sachverstand widerspräche und sich einzig noch aus einem übergeordneten Interesse am Ersticken selbst so zweiflerischer Stimmen wie der von Bom-
mi Baumann erklären ließe. Nur in diesem Sinne interpretieren wir auch das Plädoyer des Herrn Staatsanwalts, mit seinen makabren Nachzensurvorschlägen!

… Oder möchten Sie Ihr Urteil begründen mit Bommis Beurteilung der Lorenz-Entführung, die nicht nur die bürgerliche Presse teilt? Ihr Urteil aufbauen auf einem Satz, der, wie auch sonst so oft in diesem Buch einen Satz weiter die Aufforderung folgt, die Knarre wegzuwerfen?

Haben Sie sich dem Gesamtkontext des Buches so weit verschlossen, dass Sie das nur zu deutlich gewordene Zerreißspiel der Anklage mitspielen möchten – wobei ich immer größere Zweifel habe, ob es überhaupt zulässig ist, einen Text, der nachweislich einen anderen Gesamtzusammenhang hat, durch Zerstückeln in sein Gegenteil zu verkehren, und auch nicht glaube, dass dies der Sinn selbst so fragwürdiger Gesetze wie § 131 oder § 140 ist. Ein dem Gegenstand, hier einem literari-
schen Dokument, angemessenes Verständnis sollte bei aller juristischen Fachkunde doch gewahrt bleiben. Es scheint uns also bisweilen etwas skurril, was hier verhandelt wurde – und doch ist es ernst und hat auch Methode. Methode insofern, als wir wissen, dass der Grundtenor des Buches zwar eine Kritik an den einzelnen Aktivitäten wie den Mitteln darstellt, aber weiter ein Bekenntnis gegen die herrschende Ordnung ist. Und, so meinen wir, nur deshalb wird es angeklagt – der All-
tagsterror der Kriminalromane oder auch der sadistischen Dokumentarfilme völkerkundlicher Prägung, wo da verbrannt, geschossen, zerstückelt und gefoltert und all dies gebilligt wird, inter-
essiert logischerweise keinen Ankläger, haben sie doch als Ziel ‚lediglich’ Menschen, nicht aber die strukturelle Gewalt dieser Gesellschaft, die, wie Gutachter Ramstedt ausführte, von allen Wissen-
schaften außer der Jurisprudenz inzwischen erkannt wurde.

Selbstkritik ist nicht genug – verlangt wird das Bekenntnis zu dieser Ordnung, der Bürger als Mit-
glied des öffentlichen Dienstes. Bommi Baumann übt zwar Selbstkritik, aber erst als Überläufer, der seine Geschichte leugnet, seine vergangene Identität heuchlerisch und völlig preisgibt, seine Antihaltung aufgibt, wäre er akzeptabel gleich dem Kronzeugen Müller im Stammheimer Prozeß. Und dasselbe gilt, so meinen wir, für uns: Hätten wir ein Vor- oder Nachwort geschrieben, in dem steht: Seht, hier ist ein Buch, das zeigt ganz klar und deutlich, dass jeder Widerstand sinnlos ist, Gewalt in jeder Form schädlich, das die Studenten-Revolte als eine reine Brutstätte von Neurosen und Terror denunziert hätte, wie es heute üblich ist – so wäre alles in Ordnung. Und das, obwohl wir von den Sachverständigen gehört haben, dass Vor- oder Nachworte die Wirkung eines Textes nicht beeinflussen.

Doch stattdessen hat Peter Schult unabhängig von unserem Einfluss ein Nachwort geschrieben, in dem da steht: ‚Und das scheint wohl das Wesentlichste und das Wichtigste an diesem Buch zu sein. Nicht die Aktionen von damals,’ (bitte nehmen Sie das ausdrücklich zur Kenntnis!) ‚nicht die kon-
spirativen Aktivitäten sollten unser Interesse erregen, sondern die Erkenntnis, dass wir dieses Sy-
stem nicht durch einen perfekten Apparat oder eine perfektere Organisation, oder durch eine per-
fektere Technik überwinden können. Sondern indem wir unsere Vorstellungen von einem anderen Leben mit den bestehenden Verhältnissen konfrontieren, versuchen, andere menschliche Bezie-
hungen zu leben, uns auf dieser Basis mit anderen zu verbinden, und so die Kraft, Klarheit, Phan-
tasie und Mut entwickeln, dieses Gewaltsystem zu schlagen. Die Waffen dazu dürfen niemals Selbstzweck werden, sondern sind einzig und allein Mittel zur Erreichung dieses Ziels.“ (S. 139)

Soweit dieses Zitat, wobei ich Sie vorsorglich auf eine grammatisch-semantische Tatsache hinwei-
sen möchte, da diese Passage sich sinnigerweise als Beleg für was auch immer in der Anklage-
schrift befand: Es steht hier nicht: „Die Waffen dürfen niemals Selbstzweck werden“, sondern: „Die Waffen dazu dürfen niemals Selbstzweck werden,“ was sich ganz klar auf die vorhergegangenen Begriffe Kraft, Klarheit, Mut und Phantasie und alle möglichen Mittel zu deren Verwirklichung be-
zieht.

In gewissem Sinn möchte ich mich dem Tenor dieses Zitats anschließen und meine Ansicht wieder-
holen, dass wir deswegen hier vor Gericht stehen: Wir stehen der Geschichte der Stadtguerilla zwar äußerst kritisch gegenüber, aber werden mit unseren Publikationen keine Absage an den grund-
sätzlichen Dissens, an den Widerstand leisten. Wir halten z.B. Entwicklungen wie die illegale Be-
setzung des Baugeländes in Wyhl oder den Kampf gegen die Neuansiedlung chemischer Werke in Landsberg, wo die Bevölkerung heftigen Widerstand leistet, für notwendig, legitim und nützlich. Wir glauben, dass Streiks, auch wilde Streiks ein Recht und ein notwendiges Mittel in der politi-
schen Auseinandersetzung sind. Und wir glauben schließlich, dass es historische Umstände gibt, in denen auf Formen von offener Gewalt legitim sind – was ja letztlich sogar im Grundgesetz steht.

Ich habe bereits in meiner Einlassung erklärt, dass ich fürchte, es gehe bei diesem Prozess eben da-
rum, nämlich um die Frage, ob ein grundsätzliches Infragestellen des gesellschaftlichen Zusam-
menhangs und seiner Logik in diesem Land noch möglich ist, wie auch in anderen Ländern, oder ob anhand eines Buches, das nur dies tut, aber keine Gewalt propagiert, mithilfe von Haarspalterei und gezieltem Unsachverstand ein Exempel statuiert werden soll.

Es liegt in den Händen dieses Gerichts, darüber zu entscheiden, und es ist mir klar, wie schwer die Entscheidung zwischen Freiheit, Geist, Toleranz auf der einen Seite und den Zwängen der Traditi-
on und Praxis der politischen Justiz zu treffen sein wird.

Gisela Erler

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… Nun möchte ich auf die Punkte eingehen, die Sie alle bei der Beurteilung des Sachverhaltes mit berücksichtigen sollten:

1. Die Beschlagnahme des Baumann Buches ist allseitig als ein einschneidender Zensurakt gewertet worden. Schon vor Abschluss des Verfahrens wurde sie in die undemokratische Tradition des deut-
schen Obrigkeitsdenkens gestellt. Der Name Dr. Gehrig wird unauslöschlich damit verbunden sein. Das Gericht entscheidet, ob es sich auch in diese Geschichte einreiht. Darüber befinden nicht wir, sondern ein gewichtiger Teil des deutschen literarischen Establishments von Heinrich Böll über Peter Handke bis zu Luise Rinser.

2. Eine Verurteilung würde als ein staatlicher Willkürakt gewertet werden. Es sind in diesem Fall schon mehrere Entscheidungen gefallen: Freisprüche in Forchheim und Bamberg; Einstellung der Ermittlungen in Saarbrücken, eine gänzlich andere Beurteilung der Sachlage durch Gerichte in Hannover; vor allem aber die Tatsache, dass die Neuausgabe seit fast einem halben Jahr in ca. neunhundert Buchhandlungen unbeanstandet ausliegt und verkauft wird.

3. Eine Verurteilung würde ihren Zweck nicht erfüllen. Wie mir gestern mitgeteilt wurde, haben sich bisher noch weitere dreihundert Neuherausgeber gefunden, ganz spontan, ohne dass in dieser Richtung einer organisatorisch tätig geworden wäre. Ich bin davon überzeugt, dass bei einer Verur-
teilung innerhalb eines Monats mehrere tausend die Kollektivausgabe unterschreiben werden.

4. Sie sprechen Ihr Urteil im Namen des Volkes, dabei spielt die Öffentlichkeit sicher eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu der Beschlagnahme wurde bisher wenig über den Prozess berichtet. Das Wenige sprach sich aber eindeutig der Tendenz nach für uns Angeklagte aus. Wir können mit eini-
ger Sicherheit annehmen, dass unsere strafrechtliche Verfolgung in der Öffentlichkeit mit Empö-
rung hingenommen wird.

5. Sie entscheiden über das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland. In mehr als fünf schwedi-
schen Tageszeitungen wurde über den Prozess ausführlichst geschrieben. Für die englische, fran-
zösische und italienische Öffentlichkeit hat er einen bedeutsamen Stellenwert. Das Buch ist mitt-
lerweile in fünf Sprachen übersetzt.

6. Auch eine Verurteilung zu einer geringen Geldstrafe würde tief in unsere ökonomische Struktur eingreifen, da die Prozess- und Anwaltskosten in die Tausende gehen. Auch ein solches Urteil wür-
de die Absicht der Staatsanwaltschaft, uns als ein Sprachrohr der linken Bewegung auszuschalten, zum Teil erfüllen.

Nach all diesen Tatsachen müsste Ihnen klargeworden sein, dass es sich hier um einen politischen Prozess handelt.

Herbert Röttgen


Blatt. Stadtzeitung für München 80 vom 29. Oktober 1976, 12 f.

Überraschung

Jahr: 1975
Bereich: Militanz

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