Materialien 1975
Baumann-Buch freigegeben und die Verleger verurteilt
Das Buch von Bommi Baumann „Wie alles anfing“ ist inzwischen nicht mehr nur ein Dokument für die Frage der Berechtigung eines Kampfes selbsternannter Avantgarden im Untergrund, sondern ein Dokument bundesdeutscher Justizgeschichte geworden. Mir sind nicht weniger als 16 Ent-
scheidungen von Gerichten und Staatsanwaltschaften bekannt. die sich mit der Frage der Straf-
barkeit des Textes und seiner Herausgeber, Drucker und Verkäufer auseinandersetzen. So hat das Amtsgericht Forchheim und das Landgericht Bamberg den Drucker und das Landgericht München die beiden Verleger des Buches freigesprochen, da eine Billigung von Straftaten nicht vorliege, die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt hat das Verfahren gegen die Neuherausgeber der 2. Auflage (380 Personen von Abendroth bis Zwerenz) aus gleichen Gründen eingestellt. Andere Ge-
richte haben zunächst die Strafbarkeit bejaht und dann später verneint (so etwa das Landgericht Hannover). andere haben genau umgekehrt erst die Strafbarkeit verneint und dann später bejaht (vgl. die Beschlüsse des Oberlandesgericht München vom 27.1.77 und 24.11.77).
In diese Verwirrung der Justiz gegenüber einem Buch, das scheinbar widersprüchlich zum Weg-
werfen der Knarre aufruft und dennoch alles andere als pazifistisch ist, das dem von der bürgerli-
chen Presse Anarchismus genannten Kampf des bewaffneten Untergrunds Stalinismus vorwirft und das vor allem ein Dokument für die Entwicklung eines Teiles der westdeutschen Linken dar-
stellt, wollte der Bundesgerichtshof endlich Klarheit bringen, als er den Freispruch für die beiden Verleger des Trikont-Verlages aufhob und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht München zurückverwies.
In seiner Entscheidung vom 9.8.77 gab der BGH die Marschroute an, als er meinte, dass sich die Angeklagten auf „das Grundrecht der freien Berichterstattung (Art. 5 GG) nicht berufen könnten“, daran könne auch die Tatsache nichts ändern, dass vielfach „Presseorgane oder andere Medien Anarchisten selbst zu Worte kommen lassen“, da dann „in der Regel die Berichterstattung des Presseorgans, das sich nicht mit der Kundgebung identifiziert“ im Vordergrund stehe.
Dieser Ausspruch des BGH, der nach dem Gesetz nicht rechtsverbindlich für das neuentscheidende Gericht war, war für die Richter der 15. Strafkammer Befehl und so kamen sie am 1.2.78 zu dem – nur scheinbar absurden – Urteil, nach dem Gisela Erler und Herbert Röttgen verurteilt (je zu 1.500,- DM Geldstrafe, zu der noch etwa 50.000 DM Verfahrenskosten für alle Instanzen kom-
men), das Buch aber freigegeben wurde.
Zwar folgten die Richter der Argumentation der von uns aufgebotenen vier Gutachter, die von ver-
schiedenen Fachrichtungen her (Prof. Rammstedt als Soziologe, Prof. Brigleb als Literaturwissen-
schaftler und die Prof.es von Oertzen und Fechtheim als Politologen) das Buch als „Dokument“, „nicht gewalterzeugend“ und „keineswegs friedendstörend“ betrachtet hatten, meinten aber, dass die Herausgabe durch gerade die beiden angeklagten Herausgeber strafbar sei, da es diesen auf die Störung des öffentlichen Friedens angekommen sei. Zu diesem Schluss kamen die Münchner Rich-
ter auf Grund des in der Verhandlung verlesenen Buch-Almanachs aus dem Jahre 1975, in dem die Romanreihe des Trikont-Verlages vorgestellt wird und über die Autoren (u. a. Leila Khaled, Sante Notaricola, Sabbate, Indianer aus der Indianerbewegung) gesagt wird: „Wir identifizieren uns mit ihnen, weil sie aus zwei Gefängnissen ausgebrochen sind, auch wenn sie im Knast enden: einmal aus der Gesellschaft … dann aus dem Gefängnis der Begriffe“).
Also ein Gesinnungsurteil par excellence, was die Richter aus München von sich gaben: das Buch, das der eine straflos verlegen und verkaufen darf, ist bei Herausgabe durch einen linken Verlag eine Billigung von Straftaten und eine Störung des Öffentlichen Friedens. Pressefreiheit gilt nur für den, der staatstreu ist – dies ist eine Art „Vogelfrei-Erklärung“ der linken Presse.
Die Richtlinienfunktion eines solchen Urteils liegt auf der Hand.
Jürgen Arnold, Rechtsanwalt, München
Entwicklungen. Künstlergemeinschaft Erich Mühsam, München 1978, 22 ff.