Materialien 1976

Köpfe für den Free-State

… unsere Straße ist breiter denn lang …
(Roland Penrose)

Vorgeschichte

Dublin, 11. September 1975

Nach einem Überfall auf eine Filiale der „Bank of Ireland” im Dubliner Vorort Killester ist bei der Verfolgung der Bankräuber im nördlich davon gelegenen St. Anne‘s Park ein irischer Polizist erschossen worden. Der garda Michael Reynolds hatte sich mit seiner Frau und einer vierjährigen Tochter auf dem Weg nach Raheny befunden und war zufällig am Ort des Banküberfalls vorbeigefahren, als die Täter gerade nach Norden flüchteten. Der Polizist, der nicht im Dienst war, stieß sich anscheinend am verkehrswidrigen Verhalten des Autofahrers und nahm sofort die Verfolgung auf. Als der Wagen der Bankräuber am Park anhielt und die beiden Insassen ihre Flucht zu Fuß fortsetzten, blieb ihnen der ebenfalls aus dem Auto gesprungene Garda auf den Fersen. Die Gattin des Polizisten war zurückgeblieben. Als sie einen Schuss zu hören glaubte, hat sie sich auf die Suche nach ihrem Mann gemacht. Sie fand ihn in der Parkanlage, mit einer Kugel im Kopf. Nach Razzien der Polizei, die sich gegen bekannte Linksradikale und Anarchisten richteten, ist einen Monat später die Verhaftung von drei Mitgliedern von New Earth erfolgt, einer Gruppe von Anarchisten, die sich auf sozialrevolutionäre Aktionen, darunter auch die Enteignung von Banken, verlegt hatten. Vermutlich hat New Earth auch für die anarchistische Hilfsorganisation Black Cross Geld „gesammelt“. Die Geständnisse der drei Anarchisten sind durch Polizeifolter zustande gekommen. Ronan Stenson, der bei den Verhören u.a. mit einem Nylonseil geschlagen wurde, ist danach körperlich und geistig zusammengebrochen und musste in die Psychiatrie eingeliefert werden, wo ihn niemand besuchen durfte. Der 26jährige Noel und die 27jährige Marie Murray sind von einem irischen Sondergericht, das gegen alle sonstigen Gepflogenheiten ohne Geschworene auskam, am 9. Juni 1976 zum Tod durch Erhängen verurteilt worden. Wegen der Unterstützung politischer Gefangener, Protesten gegen den Vietnamkrieg und ihrer angeblichen Verwicklung in illegale Aktivitäten sind beide bereits polizeibekannt gewesen. Noel Murray war zudem schon einmal zu einer kurzen Strafe verurteilt worden. Aus Protest gegen Francos Todesurteile soll er eine Brandbombe gegen das Spanische Kulturinstitut in Dublin geworfen haben. Den Urteilsspruch verkündete ein greiser Richter, der eigens zur Führung der Verhandlung seinen Ruhestand unterbrochen hatte:

„Wie es seine Pflicht ist, ordnet das Hohe Gericht hiermit an, dass sie wieder zu demselben Gefängnis zurückzubringen sind, in dem man sie zuletzt verwahrt hat, um ebendort auf die vom Gesetz vorgesehene Weise zum Tode befördert zu werden; anschließend sollen sie innerhalb der Mauern des nämlichen Gefängnisses bestattet werden.”

Ein subjektiver Bericht über eine Solidaritätsaktion

München, 6. August und 20. Oktober 1976

Uns war daran gelegen, den Protest gegen die geplante Hinrichtung der irischen Anarchisten so makaber wie möglich zu inszenieren. Sicher, zunächst musste das Konsulat ununterbrochen mit Protestnoten eingedeckt werden. Petitionen, Flugblätter, Transparente mussten her, Unterschriftenlisten, Pressekonferenzen, Kundgebungen – von allen Seiten hagelte es Vorschläge. Einige von uns waren – wie Noel Murray in Dublin – bei den wütenden Protesten vor Botschaften und Agenturen des spanischen Staates mit dabei gewesen, als die bereits auf dem Sterbebett liegende Mumie des Generalissimo Franco noch einmal fünf politische Gefangene hinrichten ließ. Und nun folgten die Todesurteile in Irland! Herkömmliche Protestformen schienen uns da nicht mehr auszureichen. Wir verfielen auf die Idee, uns Tierkadaver zu besorgen und mit ihnen das irische Konsulat zu drapieren.

Wir befanden uns in der Ära vor Greenpeace oder Robin Wood und wussten daher nicht Bescheid, dass man ebensogut mit Masken oder Attrappen arbeiten kann. Der tiefere Grund für das Bestehen auf echten blutigen Köpfen liegt vermutlich darin, dass wir dem südirischen Staat ein symbolisches Tauschopfer vorschlagen wollten. Der Staat forderte zwei Menschenleben für seinen getöteten Diener, wir opferten dafür zwei Tierleben, im Austausch für die leibliche Unversehrtheit unserer Genossen.

Frühmorgens im Schlachthof sagte ich dem erstbesten Treiber, der mir im blauen Kittel, mit Stallstiefeln und braunem Cordhut auf dem Kopf über den Weg lief, schüchtern mein unbeholfenes Sprüchlein auf, in dem von Theater, Kunst und Schafsköpfen die Rede war. Er wies mir den Weg zu einer Halle, in der geschürzte, blutbefleckte Fleischer zur Sache gingen. Kadaver hingen an Haken, Schlachtgestank lag in der Luft. Ausgerechnet an diesem Tag wurden aber keine Schafe zur Schlachtbank geführt. Ein wortkarger Bursche, der meinen wiederum stammelnd vorgetragenen Wunsch völlig gleichgültig aufnahm, händigte mir statt dessen einen Kalbskopf aus. Ich dankte schön und zog erleichtert damit ab.

Den Autofahrern, die an den Ampeln in der Innenstadt neben oder hinter meinem Fahrrad hielten und auf das Signal zum Weiterfahren warteten, muss sich ein sonderbares Bild geboten haben: Ein Langhaariger auf einem schäbigen Fahrrad, auf dessen Gepäckträger ein glasig starrender Kalbskopf festgezurrt war, dem auch noch die Zunge aus dem Maul hing. Als ich den Genossen meine Trophäe vorzeigte, erntete ich, nach dem der erste Ekel abgeflaut war, eher skeptische Blicke, Kopfschütteln und abschlägige Kommentare. Um wirksam zu sein, erforderten Magie und Drehbuch unserer Aktion eben Schafsköpfe, und zwei mussten es unbedingt sein. Der Kalbskopf kam in einen großen Kessel und am nächsten Morgen befand ich mich abermals auf dem Weg in den Schlachthof. Diesmal verlief alles nach Plan, und ich konnte zwei tadellose, enthäutete Schafsköpfe entgegennehmen. Zuvor war bereits ein Bettlaken bemalt worden, auf dem nun in farbigen Lettern „Free State – Mörderstaat” prangte sowie „Murrays raus aus der Todeszelle”.

Vor dem in einem großbürgerlichen Villenviertel gelegenen Generalkonsulat fanden sich schließlich außer unserem Häuflein noch zwei von unserem Vorhaben verständigte Reporter einer Lokalzeitung ein. Das Gebäude stand aber anscheinend leer. Kein Hausmeister, keine Polizei, keine Menschenseele ließ sich innerhalb wie außerhalb des umfänglichen Geländes sehen, die unser Präsent und die Protestnote entgegennehmen wollte. Wir spießten trotzdem erst einmal unsere Köpfe an den Gitterstäben des Eingangs auf und hängten den Stoffetzen darunter. Es sollte sich alsbald herausstellen, dass die irische Vertretung soeben umgezogen war und den Betrieb am neuen Ort noch nicht wieder aufgenommen hatte.

Wir sammelten also nach einer Weile wieder unsere Schafsköpfe ein, für deren langsam unerträglich gewordenen Geruch sich inzwischen schon ein streunender Hund zu interessieren schien, wickelten sie in unser Transparent und fuhren mit dem öffentlichen Bus zur anderen Vertretung des Freistaates Irland in der Landeshauptstadt, zur irischen Fremdenverkehrszentrale, die zugleich eine Niederlassung der Fluglinie „Aer Lingus” war. Die befand sich im 5. Stock eines am Maximiliansplatz stehenden Hauses. Wir erschienen dort ohne Vorwarnung, breiteten unser Transparent am Boden aus, knallten die Schädel auf den Schreibtisch der entsetzten Empfangsdame, die sichtlich Mühe hatte einen Schreikrampf zu unterdrücken, nötigten dem aus seinem Büro kommenden Angestellten, der bei dem ihm sich bietenden schrecklichen Anblick kreidebleich geworden war, unsere Erklärung auf und kamen endlich, nachdem wir mehrmals den mitgebrachten Fotoapparat aufblitzen ließen, seiner hysterischen Aufforderung nach, den Raum zu verlassen. Allerdings vergaßen wir dabei, unsere blutigen Protestutensilien mitzunehmen. Die beiden Angestellten konnten einem nachträglich echt leid tun.

Das Ziel unserer nächsten Aktion war dann das neu bezogene Konsulat, das in der Nähe des einstigen Domizils der Familie Mann eine noble Unterkunft an der Isar gefunden hatte. Nicht mehr ganz so spontan wie anfangs wurde nach Bündnispartnern gesucht und eine Pressekonferenz einberufen. Statt einer Erklärung wurde nunmehr ein Flugblatt geschrieben, dessen Druck eine trotzkistische Gruppe übernahm. Einen Abend lang erläuterten wir den Genossen von der IV. Internationale die Absichten unseres Vereins, der sich nun etwas großspurig „Murray-Verteidigungskomitee” nannte. Vor dem neuen Generalkonsulat wurde ein mit Watte überzogener Galgen errichtet, mit Benzin getränkt und angezündet. Wir waren nun doppelt so viele Leute als zuvor und verteilten unsere Flugblätter an die spärlichen Passanten. Abermals hing ein Transparent am Tor, auf dem zusätzlich zum Urlaubsboykott der Grünen Insel aufgefordert wurde. Bei der Pressekonferenz in einem Münchner Bräuhaus, zu der wir immerhin ein waschechtes Mitglied der gerade in der Stadt weilenden Dubliners aufgeboten hatten, erschien aber nur jemand von der alternativen Stadtzeitung, die ohnehin Bescheid wusste.

Die Murrays waren zwar Anarchisten, hatten aber einen republikanischen Hintergrund. Marie Murray war früher sogar im Institut für irische Sprache, dem „Roinn na Gaeltachta”, angestellt gewesen. Mit ihrem Mann, dem Metallarbeiter Noel, hatte sie sich bei der Spaltung der republikanischen Bewegung in sticks und provos anfangs den officials, den sticks also, angeschlossen, weil sie vor allem deren Abwendung vom Nationalismus und die Hinwendung zum Sozialismus überzeugte. Erst als die sticks 1973 den bewaffneten Kampf aufgegeben hatten, traten die beiden aus Protest dagegen aus und mauserten sich zu Anarchisten, die sich an den Aktionen der englischen „Angry Brigade” orientieren wollten. Dass sie sich mit ihren Banküberfällen oder „Enteignungsaktionen” am geheiligten Eigentum vergangen haben, diese Sünde konnte man ihnen allerdings in der von nationalistischen Verhaltensweisen geprägten und an politische Morde gewöhnten irischen Gesellschaft nicht so recht verzeihen. Irische Patrioten haben beim Verfolgen ihrer nationalen Ziele immer schon auf Mord gesetzt – angefangen mit der Ermordung von Lord Cavendish und Burke im Dubliner Phönixpark im Jahre 1882 bis in die jüngste Gegenwart hinein – , dafür aber stets die Trinität von Staat, Religion und Eigentum hochgehalten. Das den Murrays vorgehaltenen Verbrechen bestand nicht nur darin, einen Polizisten getötet zu haben, sondern auch darin – im Gegensatz zu den Nationalisten -, Eigentum, Staat und Kirche abzulehnen. Gerade im irischen Freistaat brüsteten sich die führenden Rivalen beider großer Parteien bei jedem patriotischen Anlass beständig des im Unabhängigkeitskampf und im Bürgerkrieg willentlich vergossenen Blutes.

Die Todesstrafe wurde an den Murrays nicht vollstreckt. Dies lag bestimmt zum Teil an den internationalen Protesten gegen das Todesurteil. Jean Paul Sartre etwa reiste nach Dublin, um seinem Einspruch Nachdruck zu verleihen. Und um zuletzt ein nicht unwesentliches Detail zu erinnern: Der damals immer noch rührige, hochbetagte Anarchist Augustin Souchy, der uns kurz zuvor in sein Appartement zitiert hatte, um uns Jüngeren Ratschläge aus seinem bewegten Leben angedeihen zu lassen, unterstützte uns auch im Fall der Murrays nach Kräften, indem er das über die ganze Welt geknüpfte Netzwerk alter Syndikalisten und Spanienkämpfer zur Solidarität mit den zum Strang verurteilten irischen Anarchisten anhielt. Das Todesurteil wurde zuerst für Noel, später für Marie Murray in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt. Beide saßen insgesamt 18 Jahre lang in irischen Gefängnissen ab, bevor sie begnadigt wurden. Haftvergünstigungen wurden ihnen keine gewährt. Dabei hatte zumindest Noel Murray niemanden getötet. Heute weiß man, dass die Schüsse auf den unbewaffneten Polizisten wohl von Marie Murray abgegeben worden sind. Um bei dem Banküberfall nicht erkannt zu werden, hatte sie ihre dicken Brillengläser zu Hause gelassen und ist dann mit ihren Kontaktlinsen nicht zurecht gekommen. Als sie von dem unbewaffneten Polizisten verfolgt wurde, schoss sie blindlings und traf tödlich. Marie Murray ist vermutlich die Frau mit der längsten, bislang in der irischen Republik verbüßten Freiheitsstrafe.

P.S.: Ungefähr zehn Jahre nach der Aktion mit den Schafsköpfen haben wir abermals ein Solidaritätsplakat aufgehängt; diesmal allerdings nur in einem linken Buchladen. Die Murrays wollten dem Staat den Vollzug ihrer ehelichen Rechte in den irischen Gefängnissen abtrotzen. Mit anderen Worten, sie wollten ein gemeinsames Kind zeugen. Man hat es ihnen nicht erlaubt.

Egon Günther
11. August 2009

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Internationales

Referenzen