Materialien 1976
Eine Zensur findet nicht statt
„Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht!
Hier werdet ihr nichts entdecken!
Die Konterbande, die mit mir reist,
Die hab’ ich im Kopfe stecken. (…)
Und viele Bücher trag’ ich im Kopf!
Ich darf es euch versichern,
Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest
Von konfiszierlichen Büchern.”
Heinrich Heine: Deutschland, ein Wintermärchen
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Eine Zensur findet, nach Art 5 des Grundgesetzes, nicht statt. Doch die im Zensurverbot verbriefte Freiheit ist eine Frage der Definition. Nur die Vor-Zensur gilt als solche. Ist eine Schrift, ein Film oder eine sonstige Darstellung aber erst einmal an die Öffentlichkeit gelangt, so gelten – so sagt das Bundesverfassungsgericht – die allgemeinen Gesetze.1 An der Rotationsmaschine hat der Bür-
ger noch Narrenfreiheit, beim Buchhändler wartet die Polizei.
Der Versuch der Unterdrückung von (fremden wie eigenen) Gedanken ist wohl so alt wie das Den-
ken selbst. Denken, Erkenntnis scheint den Wunsch nach Zensur des Gedachten, Erkannten nach sich zu ziehen. Sigmund Freud hat die Bedeutung zensorischer Instanzen und ihre Wirksamkeit im endopsychischen Bereich beschrieben.2 Das Prinzip der Zensur besteht in der Unterdrückung be-
stimmter Gedankeninhalte, die so „undenkbar” sind, bestimmter Gefühle, die so unannehmbar er-
scheinen, dass wir sie uns nicht bewusst zu machen wagen.
Das gilt auch für soziopsychische Vorgänge. „Zensur ist ihrem Wesen nach eine Tätigkeit des Ver-
bietens und Unterdrückens bestimmter Gedanken und Handlungen durch die Auferlegung eines Tabus.” Die Einübung von Sitten – Unterlassungsvorschriften und Verhaltensritualen – in Kind-
heit und Jugend erscheint so als Tätigkeit des Verbietens, des Unterdrückens und des Zwangs von Seiten der erzieherischen Autoritäten, die ihrerseits ein gewisses Maß an Feindseligkeit gegen jene Autoritäten hervorbringt.3 Zensur ist also bereits das Aufstellen des Verbots. Die subtile Unter-
scheidung der Juristen zwischen (verbotener) Vor- und (erlaubter) Nachzensur erweist sich so als untauglicher Versuch, die verschiedenen Methoden der Ausübung der Zensur für deren Wesen auszugeben, als handele es sich um materiell und nicht nur graduell unterschiedliche Verhaltens-
weisen.
Das Zensurverbot der Verfassung gilt für Zensurhandlungen vor Veröffentlichung eines Geistes-
produkts zwar absolut, unterliegt aber weiteren Einschränkungen. Verboten ist nur die staatliche Zensur. Erlaubt ist folglich: private Verbandszensur und Selbstzensur. Untersagt sind nur direkte Eingriffe des Staates (Verbote). Erlaubt ist staatliche Kulturpolitik, auch wo sie zur Diskriminie-
rung führt. Die Zensur in der BRD, die, da sie nicht stattfindet, keine ist, hat folglich viele Gesich-
ter.
1. Nackte Gewalt
Ihre Zensurierung ist vertraut, hat Tradition. Gemeint ist nicht die Glorifizierung der Brutalität,
die weitgehend unbeanstandet in Landser-Heften und Western-Filmen, in Krimis und Color-Breit-
wand-Apologien von Selbstjustiz („Ein Mann sieht rot“) vom Volk konsumiert werden darf. Ge-
meint ist die Fortsetzung der Kunstzensur unter dem Vorwand der Pornografie.
Wir haben den § 184 StGB reformiert: die Unzucht ist nicht mehr strafbar, auch nicht auf Papier und Zelluloid. Doch wer „harte” Pornografie herstellt oder verbreitet, macht sich nach wie vor strafbar. Hierzu zählen u.a. pornografische Schriften, Abbildungen und sonstige Darstellungen, „die Gewalttätigkeiten … zum Gegenstand haben”. Recht so, will man sagen und dem Gesetzgeber beipflichten. An der Vorführung sadomasochistischer Schweinereien kann uns nicht gelegen sein. Doch voyeuristische Machwerke wie „Mandingo” trifft der Bannstrahl Justitias nicht: Sex und Ge-
walt werden säuberlich in getrennten Sequenzen vorgeführt. Stattdessen wird Pier Paolo Pasolinis letzter Film „Salö oder die 120 Tage von Sodom” beschlagnahmt: in Stuttgart und Hamburg, in Trier und Mainz, in Köln, Aachen, Heidelberg und Karlsruhe. Ein erweitertes Schöffengericht in Frankfurt befand dieser Tage, der Film zeige pornografische Darstellungen und verherrliche die Gewalt.4 Der Rang eines Kunstwerkes wurde ihm offenbar nicht zuerkannt. Das Oberlandesgericht Saarbrücken wird sich demnächst mit den gleichen Fragen zu befassen haben.
Warum goutiert man „Mandingo” und verurteilt Pasolinis „Salö”? Zählt wirklich das formalistische Argument, dass hier die Sex- und Gewalt-Szenen, jedenfalls vordergründig, getrennt sind, während Pasolini Orgien von Sex und Gewalt vorführt? Oder ist das Ergebnis vielleicht die Wirkung inner-
seelischer Zensurmechanismen in der Psyche der Juristen-Zensoren? Denn – wie es in einer Kritik über „Mandingo” im Spiegel heißt -: Mit den schlimmen weißen Herren, die zwischen Krinolinen und Magnolien leben und (die Handlung spielt um 1840 in den Südstaaten der USA) durch Zucht-wahl schwarze Supersklaven, Mandingos genannt, heranziehen, als Arbeitstiere sowohl wie als Lustobjekte, mag sich kein Zuschauer identifizieren.5 Solche Nichtidentifikation ist bekanntlich die Voraussetzung dafür, Vorgänge zu akzeptieren, ja als lustvoll zu empfinden, die man, müsste man sie auf sich selbst beziehen, entrüstet zurückweisen müsste.
Pasolini gestattet dem Zuschauer eine Flucht in die Unverbindlichkeit nicht. Gideon Bachmann schrieb über „Salö” in der Zeit:
„Pasolini hat die Handlung aus de Sades geschichtlichem Rahmen in das Italien von 1944 versetzt, in die Epoche der kurzlebigen faschistischen Republik von Salö, die dem Film den Namen gibt. Er wollte, den eigenen Worten zufolge, nicht viel mehr zeigen, als die Vorlage abgab: die Organisation und Durchführung von Orgien. Aber es ist ihm viel mehr gelungen als dem Marquis: Statt einem aufrührerischen, einer Psychopathia Sexualis gleichenden Werk entstand hier ein endgültiger Ab-
schied von der Romantik und die erste Darstellung von Hoffnungslosigkeit als politischer Dimensi-
on. Nichts Erotisches ist geblieben … Die Umwertung von menschlichen Körpern in Ware, von de Sade beschrieben und von Marx erklärt, wird hier zu stilisiertem Grauen … Alles Nebensächliche ist chirurgisch entfernt, nackt und brutal schält sich die endlose Grausamkeit unserer gesellschaft-
lichen Konventionen heraus. Jede moderne Methode der Wirklichkeitsbeziehung ist vermieden, und die wenigen Versuche, im Zuschauer Identifikationslust herzustellen, wirken eher wie Stilbrü-
che. All diese Elemente kommen zusammen und berauben uns jeder Möglichkeit, dem Werk mit Hoffnung zu entfliehen …6
Es steht zu befürchten, dass auch das „reformierte” Pornografie-Verbot des Strafgesetzbuchs wie-
der die Kunstwerke treffen und die reine Pornografie verschonen wird. So wird die Geschichte der Zensur (auch die der Nachzensur) auch weiterhin die ihrer Blamage bleiben. Auch die Berliner Ju-
stiz gab sich alle Mühe, den Satz aufs neue zu bestätigen. Am 2. Juli 1976 beschlagnahmte sie im Anschluss an die erste Vorstellung auf dem „Internationalen Forum des Jungen Films” während der Berlinale den Film „Das Imperium der Sinne” von Nagashi Oshima. Der Streifen schildert nach einem authentischen Fall eine Liebesgeschichte, die damit endet, dass die Frau ihren verheirateten Geliebten auf dessen Wunsch hin tötet. Der Film des japanischen Regisseurs, der zu den derzeit bedeutendsten Filmschöpfern der Welt gezählt wird, war in Cannes unbeanstandet uraufgeführt und mehrfach gezeigt worden.
2. Der staatsgefährdende Heumarkt
Eine Unterdrückung von Schriften und sonstigen Darstellungen aus politischen und staatspoli-
tischen Gründen gab es seit jeher. Auch in der BRD. Doch war die Zahl der darauf beruhenden Strafverfahren und Einfuhrverbote (nach dem Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote) bisher gering im Vergleich mit den Pornografie-Verfahren. Das lag nicht zuletzt am Mangel an Verbotsnormen. Ihm ist nun abgeholfen.
Seit Inkrafttreten des 14. Strafrechtsänderungsgesetzes7 enthält allein das Strafgesetzbuch nicht weniger als sieben Vorschriften, die gezielt Äußerungen in Schriften, auf Ton- und Bildträgern, Abbildungen und in anderen Darstellungen wegen Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats und der öffentlichen Ordnung unter Strafe stellen: es sind die Paragraphen 88 a, 90 a, 90 b, 111, 130 a, 131, 140 StGB. Daneben kann der Inhalt von Schriften selbstverständlich auch gegen eine Anzahl allgemeiner Strafnormen im Strafgesetzbuch (z.B. Volksverhetzung, Beleidigungstatbe-
stände) und in zahlreichen Nebengesetzen verstoßen. Einige in jüngster Zeit bekannt gewordene spektakuläre Fälle lassen befürchten, dass die Nachzensur mittels des Strafgesetzbuches gerade gegenüber politischen Schriften künftig weitaus häufiger gehandhabt werden wird als bisher.
So wurde Anfang September 1976 in der Ph. Krüll’schen Universitätsbuchhandlung in Landshut das im Wagenbach-Verlag erschienene Taschenbuch Haymarket 1886: Die deutschen Anarchi-
sten von Chicago. Reden und Lebensläufe beschlagnahmt, eine von Horst Karasek herausgegebene Dokumentation. Anlass der Beschlagnahme ist folgendes Zitat:
„Dynamit! Von allen Stoffen ist das der Beste. Mehrere Pfund des wunderbaren Stoffes in ein zoll-
starkes Rohr, verschließt beide Enden, setzt eine Zündkappe drauf, legt es in die Nähe möglichst vieler reicher Müßiggänger, die vom Schweiße anderer leben – und steckt die Zündschnur an. Das Ergebnis wird überaus erfreulich und lohnend sein. Mit der Erfindung des Dynamits hat die Wis-
senschaft ihr bestes Werk für die Millionen Getretenen auf dieser Welt getan. Der gute Stoff kann nämlich in jeder Tasche herumgetragen werden und ist doch eine gewaltige Waffe gegen die Ge-
walt der Militärs, Polizei und Pinkerton. Er ist der aufrichtige Freund der Enterbten, während er den Räubern Furcht und Schrecken einjagt. Vergesst nicht – ein Pfund dieses Stoffes ist mehr wert als ein ganzer Berg von Stimmzetteln!”
Das Zitat stammt aus einem der abgedruckten Dokumente, aus dem Jahre 1885. Das Amtsgericht Landshut, auf dessen Beschluss die Beschlagnahme erfolgte, hielt das historische Dokument für eine nach § 111 StGB strafbare Aufforderung zu Gewalttaten.
Im Oktober 1976 fand vor dem Landgericht München I die Hauptverhandlung gegen Gisela Erler (Tochter des verstorbenen SPD-Politikers Fritz Erler) und Herbert Röttgen als Gesellschafter und Geschäftsführer des Trikont-Verlag statt. Sie waren angeklagt, sich der Verherrlichung von Gewalt und der Billigung von Straftaten (131, 140 StGB) schuldig gemacht zu haben, weil sie das von Mi-
chael „Bommi” Baumann geschriebene Buch Wie alles anfing verlegten. Dem Autor selbst kann vorerst der Prozess nicht gemacht werden: nach ihm wird als ehemaligem Mitglied der Berliner Terroristengruppe „Bewegung 2. Juni” und wegen des Verdachts der Mitwirkung an einem Bank-
überfall und am Bombenanschlag auf den Berliner Yachtclub Gatow im Jahre 1972 seit Jahren ge-
fahndet. Die von der Anklage beanstandeten Passagen des Buches stammen allerdings durchweg nicht vom Verfasser, sondern aus früheren Flugblättern. Der Autor formuliert in seinem Buch vielmehr eine Absage an Gewaltaktionen und rät; „Freunde, schmeißt die Knarre weg”. Heinrich Böll hatte, nach Bekanntwerden der Beschlagnahme im Herbst 1975, das Buch – mit einem Kommentar versehen – als Schülerlektüre empfohlen. Im Prozess bestätigten zwei Gutachter die Bedeutung des Buches: nicht als Werk von literarischem Rang, sondern bedeutsam als „Fallstudie für kollektives Verhalten”, als „Niederschlag der Selbstvergewisserung, und damit auch ein Zeit-
dokument und sogar eine Warnung im Sinne des öffentlichen Nachdenkens, das hiermit angesto-
ßen wird“.8 Mit Urteil vom 27. Oktober 1976 wurden die Verleger freigesprochen; wegen der Be-
schlagnahme der Bücher wurde dem Verlag ein Anspruch auf Entschädigung zuerkannt.
Das Buch war nach seiner Beschlagnahme im übrigen in einer Solidaritäts-Auflage neu herausge-
bracht worden: von 380 namentlich aufgeführten Mitherausgebern, von Abendroth bis Zwerenz. Die Staatsanwaltschaft rührte an die Neuauflage nicht, bei Durchsuchungen in anderen Fällen wurde sie peinlich ignoriert.
Die spektakuläre Polizeiaktion im Herbst 1975 zur Beschlagnahme der Lagervorräte beim Trikont-Verlag diente im übrigen auch anderen – und wohl wichtigeren – Zwecken. Man erhoffte sich bei der Durchsicht der Verlagskorrespondenz Aufschlüsse über den Aufenthalt des im Fahndungsblatt ausgeschriebenen Autors – doch offenbar vergeblich. Polizeiliche Durchsuchungen von Buchhand-
lungen und Privaträumen ihrer Inhaber scheinen eine neue Methode der Fahndung nach Terrori-
sten zu werden.
Am 18. August 1976 haben Beamte der Bundesanwaltschaft, des Bundeskriminalamts in Wiesba-
den und der Landeskriminalämter aufgrund von Beschlüssen des Ermittlungsrichters beim Bun-
desgerichtshof in Karlsruhe „linke Buchläden” in Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Tü-
bingen und anderen Städten durchsucht. Ziel der Fahndung war die Sicherstellung einer 12 Seiten starken Druckschrift „Revolutionärer Zorn”, die von einer Nachfolgeorganisation der Rote Armee Fraktion (RAF) herausgegeben worden sein soll. Rechtsgrundlage für die Beschlagnahme war der erst im Mai dieses Jahres in Kraft getretene § 88 a StGB (Verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten). Da man offenbar einen Zusammenhang zwischen jener Nachfolgeorganisation der RAF und den Buchhändlern vermutete, wurden auch deren Privatwohnungen, zum Teil ganze Wohnge-
meinschaften, durchsucht. Zeitungsberichten zufolge scheinen in diesem Zusammenhang auch Verfahren nach § 129 StGB (Bildung und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung) eingeleitet worden zu sein. Auch hier galt das Interesse – wie Der Spiegel berichtete – weniger dem Blättchen selbst als Aufschlüssen über dessen Autoren, die man sich von der Durchsuchung erhoffte.9
3. Staatsfromme Selbstzensur
Selbstverstümmelung ist strafbar, wenn sich der Täter dadurch zur Erfüllung der Wehrpflicht un-
tauglich macht (§ 17 Wehrstrafgesetz). Strafbar ist es ferner, wenn damit ein Versicherungsbetrug begangen werden soll. Geistige Selbstverstümmelung, bei der die Wehrkraft erhalten bleibt, ist da-
gegen nicht strafbar. Sie ist hingegen vielfach erwünscht. Um nochmals Heinrich Heine zu zitieren:
„Die geistige Einheit gibt uns die Zensur,
Die wahrhaft ideelle – Sie gibt die innere Einheit uns,
Die Einheit im Denken und Sinnen;
Ein einiges Deutschland tut uns not,
Einig nach außen und innen.”10
Die ersten Früchte der geistigen Einheit sind seltsamerweise im liberalen Luchterhand Verlag ge-
wachsen. In der dort erschienenen deutschen Ausgabe von Regis Debrays Roman Der Einzelgän-
ger wurden Veränderungen im Text vorgenommen, ohne dies für den Leser kenntlich zu machen. Eine Dialogpassage, in der zwei Freunde sich – ausdrücklich als „Ironie” kenntlich gemacht – über Sprengstoffrezepte unterhalten, wurde vom Verlag kurzerhand gestrichen. In den Vorausexempla-
ren für Rezensenten und Buchhändler stand noch der Hinweis: „Im Hinblick auf Paragraph 88 a kann der Verlag das hier erwähnte ‚Rezept’ nicht wiedergeben.” Der Käufer der Originalausgabe erfährt hiervon nichts mehr. Dabei gilt die Strafvorschrift des § 88 a StGB (verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten) nach dem Gesetz ausdrücklich nicht für eine Schrift, die „der Kunst dient”. Das ist bei einem Roman in der Regel der Fall.
Traute der Verlag der künstlerischen Qualität seines Autors nicht? Dann hätte er besser den gan-
zen Roman ungedruckt gelassen. Schämte er sich des Eingeständnisses der eigenen Ängstlichkeit? Dann hätte er besser das Manuskript überhaupt nicht veröffentlicht. Dass die Selbstzensur nicht bemerkt werde, konnte der Verlag kaum annehmen, nicht nur des Hinweises in den Vorausexem-
plaren wegen, sondern auch, weil die unterdrückte Passage in der französischen Originalausgabe im Verlag le Seuil abgedruckt ist.
Wenn die Zensurmechanismen im Luchterhand Verlag bereits so stark wirken, dass sie selbst Er-
laubtes nicht mehr in Druck gehen lassen, sollte der Verlag ernstlich seine Existenzberechtigung infragestellen. Geistige Selbstverstümmelung ist zwar nicht strafbar, aber eine Gefährdung des demokratischen Staates. Und ein Betrug am Leser ist sie obendrein.
4. Ausgewogen und zu leicht befunden
Kulturpolitik ist eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Hand im modernen Staat. Sie ist natur-
gemäß Zensureinflüssen besonders ausgesetzt. Ausgewogenheit ist die Parole. Als Fetisch eignet der Begriff sich ausgezeichnet zur Abwehr ruhestörender Denkanstöße.
Mangelnde Ausgewogenheit war die Begründung, mit der das Goethe-Institut (mit Zustimmung des Auswärtigen Amts) dem Münchener Theaterkollektiv Rote Rübe einen Zuschuss aus öffentli-
chen Mitteln für seinen Beitrag „Terror, Szenen aus Chile nach dem Putsch” für die Welttheater-
festspiele im Mai 1975 in Nancy versagte. Die Zeitkritik des Stücks sei zu „undiplomatisch”. Man-
gelnde Ausgewogenheit wurde als Begründung dafür genannt, dass – nach Protesten der CDU/ CSU – Bundesaußenminister Genscher nachträglich die Zahlung eines Zuschusses zu den Druck-
kosten des Katalogs einer Ausstellung missbilligte, die vom Goethe-Institut (wie immer im Beneh-
men mit dem Auswärtigen Amt) in London veranstaltet worden war, und in der, neben den Wer-
ken anderer Künstler, auch Plakate von Klaus Staeck zu sehen waren. Innenpolitische Auseinan-
dersetzungen sollten, hieß es, nicht im Ausland ausgetragen werden, auch nicht mit Mitteln der Kunst.
Seither allerdings funktionieren die Zensurmechanismen der von Staecks politischer Satire Ge-
troffenen so empfindlich, dass diese offenbar nicht mehr in der Lage sind, ihre Abwehr mit kon-
ventionellen intellektuellen Formen – wie der Formel der mangelnden Ausgewogenheit – zu arti-
kulieren, sondern nur noch zu offener Ablehnung und Zensur fähig sind. Die Zerstörung von in den Räumen der Parlamentarischen Gesellschaft in Bonn ausgestellten Plakaten durch Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zeigt dies ebenso wie die Beschimpfung Staecks als „Hetzplakat-Graphiker” (Rheinischer Merkur) und seiner Arbeit als „politische Pornografie” (Richard Stück-
len11) sowie das Verbot der Ausstrahlung eines 8-Minuten-Films im Bayerischen Fernsehen durch Chefredakteur Rudolf Mühlfenzl persönlich, eines Beitrags, der „von einer schier naiven und kom-
pletten Ausgewogenheit war”.12
Mangelnde Ausgewogenheit machte auch die Stadt Wuppertal den Filmemachern Wilhelm Gladitz, Oimel Mai und Horst Schwaab zum Vorwurf, bei denen sie für eine Kulturwoche „Urbs 71” Filme mit den Arbeitstiteln „Schüler”, „Die Frau am Arbeitsplatz” und „Lehrlinge” bestellt hatte. Die Streifen fielen kritisch aus. Sie wurden im Rahmen des Festivals nicht gezeigt. Einer davon wurde 1971 mit dem Filmdukaten der Stadt Mannheim ausgezeichnet.
Die Stadt Wuppertal verklagte die Filmemacher auf Rückzahlung der geleisteten Vorschüsse. Das Oberlandesgericht Düsseldorf und das Kammergericht Berlin gaben ihr recht. Das Gebot der Aus-
gewogenheit sei Bestandteil eines jeden Werkvertrages über ein Kunstwerk, auch wenn keine aus-
drückliche Vereinbarung darüber getroffen worden sei. Die nicht ausgewogenen Filme seien man-
gelhaft, weshalb die Stadt Wuppertal zur Wandelung, d.h. Rückgängigmachung der Verträge be-
rechtigt sei. Nach diesem Kotau vor dem Fetisch Ausgewogenheit kann man nur jedem Künstler raten, der mit der öffentlichen Hand einen Vertrag abschließt, sich ausdrücklich die künstlerische Freiheit und deren Unausgewogenheit auszubedingen. Die ausgewogene Kulturpolitik aber: sie wird gewogen und für zu leicht befunden.
Quod erat demonstrandum: Eine Zensur findet nicht statt.
Sieghart Ott
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1 BVerfGE 33, 52, 72.
2 Vgl. insbes. Die Traumdeutung.
3 Ronald Wiegand, Gesellschaft und Charakter, 272 f.
4 Süddeutsche Zeitung vom 19. Oktober 1976, 16.
5 Der Spiegel 35/ 1975, 111.
6 Gideon Bachmann in: Die Zeit 6 vom 30. Januar 1976, 35.
7 Vgl. hierzu: Ott, Lex Heinrich Böll? in: vorgänge 22 (1976), 19 ff.
8 Süddeutsche Zeitung vom 22. Oktober 1976, 14; Gutachter waren der Soziologe Prof. Dr. Otthein Rammstedt und der Literaturwissenschaftler Prof. Ralph-Werner Wuthenow.
9 Quellen: Der Spiegel 36/1976; Süddeutsche Zeitung vom 19. August (3) u 20. August 1976 (3 u 9); Frankfurter Rundschau vom 19. August 1976, 3.
10 Aus: Deutschland, ein Wintermärchen.
11 Quelle: Der Spiegel 22/1976, 200.
12 Frankfurter Rundschau vom 27. März 1975, nach: „Wie kritisch darf engagierte Kunst sein?”, PDI-konkret 1, 5 54.
vorgänge 24 (Heft 6/1976), 73 – 77.